Carl Karlweis
Wiener Kinder
Carl Karlweis

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Elftes Kapitel.

Eine Begegnung.

Lori! Lori!«

Frau Schober ruft nach ihrer Tochter. Ihre Stimme klingt schrill und bange wie ein Hilfeschrei inmitten eines heftigen, schon halb verlorenen Kampfes. Die Lage, in welcher sie sich befindet, ist auch in der That bedenklich. Wie alltäglich, seitdem sie zu der Tochter geflüchtet ist und die erste Befangenheit der ungewohnten Umgebung überwunden hat, steht sie im Begriffe, ihrer Totfeindin Fanny ein scharfes Zungengefecht zu liefern. Das ehemalige Blumenmädchen hat von Anfang an die stete Verbindung Loris mit dem Freihause nur sehr ungern geduldet. Tinis bescheidene, demütige Art machte ein heftiges Zusammentreffen ganz und gar unmöglich. Frau Schober jedoch, welche sich unter dem wiederholt bethätigten Schutze der Tochter von Tag zu Tag sicherer fühlt, ist keineswegs gewillt, Fannys drückende Herrschaft ruhig zu ertragen und sich immerzu mit verletzenden Worten und Blicken sagen zu lassen, daß sie eigentlich das Gnadenbrot esse. Überdies geben ihr die neuen Kleider, welche Lori für sie anfertigen ließ, ein erhöhtes Selbstbewußtsein. So recht behaglich fühlt sie sich in der etwas engen Jacke und unter dem ungewohnten, den Kopf 314 einzwängenden Hute wohl nicht, aber sie erträgt heldenmütig dieses peinliche Gefühl, ja sie überwindet dem neuen Staat zuliebe sogar ihre sonstige Trägheit und geht fast täglich eine Stunde spazieren, um das schöne Gewand »auszulüften«, wie sie sich ausdrückt. In Wahrheit hofft sie endlich einmal einer ihrer ehemaligen Nachbarinnen zu begegnen, deren Bewunderung und wohl auch heimlicher Neid sie für diese kleinen Qualen reichlich entschädigen soll. Leider hat sie kein Glück.

»Ob ich jemals nur ein einziges bekanntes Gesicht sehen thät'!« murrt sie verdrießlich, wenn sie unverrichteter Dinge heimkehrt. »Ich geh' auch gar nicht mehr spazieren!« Am nächsten Tage beginnt sie aber ihre Wanderungen durch die das Freihaus umschließenden Straßen pünktlich von neuem. Was den einzigen dunkeln Punkt in ihrem neuen Dasein betrifft, die unerträglichen Stiefelchen, zu welchen Lori sie trotz ihres Sträubens zwang, so hat sie diesfalls ein vortreffliches Auskunftsmittel gefunden. Sie schnitt nämlich die schwarzen Peiniger heimlich an beiden Seiten auf und verdeckte sodann die klaffenden Öffnungen mit eingehefteten Streifen aus Zuckerpapier.

Infolge ihrer täglich wachsenden Intimität mit der wackeren Hausmeisterin vermißt sie auch das altgewohnte Leben auf dem gemeinsamen Korridore im Freihause nicht mehr so empfindlich wie früher, und was die Kämpfe mit Fanny betrifft, so vermochten sie auch diese bisher nicht zu verstimmen, da eine gewisse Zungenübung und leichte Erregung ihr ja stets Bedürfnis waren. Heute freilich hat die tägliche Schlacht eine unerwartet bedrohliche Wendung genommen. Nach dem gewohnten Morgengeplänkel hat nämlich Frau Schober unbedacht eine Bemerkung hingeworfen, welche das ehemalige Blumenmädchen zornentbrannt auffahren ließ. Diese Bemerkung betraf den jungen Deutschmeister. Frau Schober haßt ihn, obgleich er ihr persönlich noch nichts in den Weg gelegt hat, 315 ja selbst ihre recht deutlichen Anspielungen, daß er im Hause ihrer Tochter gänzlich überflüssig und nicht allzu gerne gesehen sei, mit tadelloser, wenn auch wenig gehorsamer Höflichkeit entgegennahm. Seine empörende Artigkeit soll nun Fanny entgelten. Allein diese ist ganz und gar nicht gelaunt, irgendwelche Stichelworte der alten Frau ruhig hinzunehmen. Die aufdringliche Geschäftigkeit, mit welcher Ferdinand sich seit dem Champagner-Abende an Lori herandrängt, ist auch Fanny nicht entgangen. Sie wagt zwar nicht, den Geliebten geradehin zur Rede zu stellen, denn sie kennt sein wildes Auffahren bei solchen Anlässen zur Genüge, allein spitze Bemerkungen dritter Personen duldet sie darum doch keineswegs. Sie stürzt denn auch schon nach den ersten Worten der Mutter Schober so ungestüm auf diese los, daß die beleibte Gegnerin instinktiv hinter den breiten Eßtisch flüchtet und dort ihren durchdringenden Hilferuf ertönen läßt.

Lori öffnet die Schlafzimmerthüre. Sie sieht Fanny mit drohend erhobenen Händen auf die Mutter eindringen und ruft unwirsch:

»Fanny! Was ist denn schon wieder? Wie oft soll ich Dir sagen, daß ich Ruh' haben will?!«

Die Freundschaft zwischen ihr und Fanny, die niemals sonderlich ernst war, ist seit einiger Zeit auf dem Punkte, vollends in die Brüche zu gehen. Trotz ihres gedankenlosen lässigen Hindämmerns hat Lori doch endlich erkannt, daß Fanny sie nur aus Eigennutz in die Arme des jungen Wiesinger trieb. Und das hat einen Verdacht in ihr erweckt, den sie nicht mehr zu betäuben vermag.

»Sie halt' Dich für dumm!« sagt sie sich selbst und lechzt nach einem Anlasse, die falsche Freundin dafür recht tief zu demütigen. Darum duldet sie die frechen Vertraulichkeiten des Deutschmeisters, der ihr eigentlich gar nicht mehr 316 gefällt, ja den sie sogar haßt oder doch ein wenig fürchtet; darum nimmt sie auch jetzt eine strenge Richtermiene an und fragt in einem verletzend hochmütigen Tone:

»Nun, bekomm' ich keine Antwort?!«

Die Mutter will die Ursache des Streites eingehend erläutern, allein Lori schüttelt nur abwehrend den Kopf und wendet sich neuerlich an Fanny.

»Ich will Dir was sagen!« beginnt sie. »Wenn Du bei mir bleiben willst, mußt Du gegen meine Mutter artig sein! Merk Dir das ein für allemal.«

Fanny sieht sie erst groß an.

»Oho!« spottet sie dann, »Das ist ja ein ganz neuer Ton! Übrigens hast Du ganz recht! Deine Mutter ist eine gute, liebe Frau. Sie hat mir nur just g'sagt, daß der Ferdinand Dein Liebhaber ist!«

Frau Schober räuspert sich und versucht zum zweitenmale ihre eingehende Darstellung des Sachverhaltes von Stapel zu lassen, aber Fanny fällt ihr ins Wort:

»Sie hat g'sagt, er wär's, wenn Du nur wolltest!« verbessert sie sich. Sie zittert dabei vor Erregung und tastet nach einer Stuhllehne, die ihre Finger krampfhaft umklammern.

Lori ist ans Fenster getreten und trommelt ungeduldig an den Scheiben. Plötzlich wendet sie sich zurück:

»Laß mich mit Dein' Ferdinand zufrieden! Was geht er mich an? Ich kann ihn nicht ausstehn. Ihn nicht, – und Dich auch nicht!«

Fannys grünliche Augen funkeln boshaft.

»Das ist ja recht deutlich!« zischt sie. »Also einfach fortschicken möchst mich? Das soll der Dank dafür sein, daß ich Dich aus Deinem armseligen Leben herausgezogen hab'?! Was wärst Du denn geworden ohne mich?«

Lori schnellt empor. Dank! Die Verführerin, die doch 317 alles nur für sich that, fordert auch noch Dank! Das ist zu viel! Allen Unmut, der eigentlich nie aufgehört hat, heimlich ihr Herz zu beklemmen, seit sie daheim entlief, alle die halb unbewußte, halb nur uneingestandene Unzufriedenheit mit sich selbst, die ihr den vollen Genuß des so heiß ersehnten »Glückes« vergällt und die zwar weder Scham noch Reue, aber doch beiden verwandt ist, preßt sie in eine einzige atemlos herausgesprudelte Sturzwelle von schweren Klagen und Vorwürfen, welche der falschen Freundin klar machen sollen, daß sie völlig durchschaut ist. Da Fanny jedoch mit gleicher Heftigkeit, nur noch schriller und schärfer, entgegnet, so sprechen beide gleichzeitig mit immer wachsender Geschwindigkeit und immer höher schnellenden Stimmen. Beide unterstützen auch ihre Reden mit wilden Armbewegungen, Frau Schober wagt deshalb nicht zwischen sie zu treten, wie sie anfänglich beabsichtigte. Zu ihrer Verzweiflung ist sie somit gezwungen, einen so schönen Streit unbeteiligt anhören zu müssen, obgleich sie doch so viel Wichtiges mitzusprechen wüßte. Zu allem Überflusse kläfft nun auch noch Jolly dazwischen, der seiner Herrin pflichtschuldigst zu Hilfe geeilt ist und sich von dem unablässig hin und her schlenkernden Kleidsaume Fannys höchst erbost zeigt. Frau Schober wartet, das erste Wort bereits ungeduldig auf der Zungenspitze wiegend, einen Augenblick der Erschöpfung bei einer der Streitenden ab, aber ihre Ausdauer wird auf eine harte Probe gestellt. Endlich hält ihre Tochter mitten in einem Satze inne. Schon will sich Frau Schober kampfesmutig in die Bresche stürzen, da kreischt Lori entsetzt:

»Jesus, meine Stimm'!« Sie betastet angsterfüllt ihren Hals und schluckt einigemale mit Anstrengung. »Wenn ich meine Stimm' verlier', stürz' ich mich ins Wasser!« jammert sie.

Seit einer Woche nimmt sie ja Gesangunterricht, um sich 318 für das Theater auszubilden, und der italienische »Professor« hat ihr das laute Sprechen strengstens untersagt. Das fällt ihr nun plötzlich ein, und ohne Fanny, welche mechanisch ihren eben begonnenen Satz vollendet, weiter zu beachten, stürzt sie in ihr Schlafzimmer zurück, wohin ihr die Mutter besorgt folgt.

Eine halbe Stunde später hat sich der Schmerz im Halse so weit gebessert, daß Lori ihre Toilette vollenden und ausgehen kann, denn sie will ihre Singstunde nicht versäumen. Im Speisezimmer findet sie außer Fanny auch den Deutschmeister, welcher eben eintritt und ihr sofort mit galanter Geschäftigkeit seine Begleitung anträgt.

Lori lehnt so schroff ab, daß der Bursche verdutzt einen Schritt zurück tritt.

»Haben Sie vielleicht ein Rendezvous?« lacht er gezwungen.

Lori zerrt an ihren Handschuhen.

»Und wenn ich eines hätte?« giebt sie schnippisch zurück. »Wen ging's was an?«

Der Deutschmeister sieht sie durchdringend an. Da Lori sich langsam abwendet, tritt er ganz nahe an sie heran, faßt sie am Arme und zwingt sie, ihm in die Augen zu blicken. Dann zieht er ein grobes Messer aus der Tasche, mit dem er einigemale ins Leere stößt. Seine Miene drückt dabei eine Wildheit aus, die Lori erbeben macht.

»Haben S' mich verstanden?« flüstert er ihr ins Ohr. »Sie wollen von mir nichts wissen, und ich duld' keinen anderen Liebhaber bei Ihnen, – ich duld' keinen!«

An Eduard denkt weder er, noch Lori. Der junge Wiesinger ist ja kein Liebhaber, er ist der . . . »Freund!«

Eine Weile steht Lori regungslos unter dem Banne dieser Blicke und dieser Drohung. Dann rafft sie sich mit Anstrengung auf, schüttelt die Hand des Deutschmeisters, die 319 schwer auf ihrem Arme liegt, heftig ab und geht zur Thüre. Dort will sie noch etwas erwidern, zuckt aber nur die Achsel und rauscht ohne Gruß aus dem Zimmer.

Der Deutschmeister stößt einen Fluch aus und will ihr nacheilen. Allein Fanny, welche den kurzen Auftritt mit wachsender Erregung beobachtet hat, tritt ihm hastig in den Weg.

»Du bleibst da!« herrscht sie ihn an.

Er sieht sie groß an.

»Oho!« lacht er dann verächtlich. »Wie sprichst denn Du mit mir? Du . . . reiz mich nicht!«

»Ferdinand! . . . Laß von der Lori! Weißt Du, was ihre Mutter g'sagt hat?« Und Fanny wiederholt die Behauptung der Mutter. »Wenn sie recht hat, ich weiß nicht, was ich thät'!« fügt sie drohend hinzu.

»Die Alte ist eine Gans!« erwidert der Bursche mürrisch. schlägt aber plötzlich aufbrausend auf den Tisch. »Und wenn's wahr wär'! Ich kann thun, was ich will!«

Fanny lenkt erschrocken ein.

»Aber Ferdinand!« jammert sie. »Denkst denn gar nicht mehr daran, was ich für Dich gethan hab'?«

Nun poltert der Deutschmeister erst recht.

»Wirfst mir vielleicht die lumpigen paar Gulden vor, die Du mir geben hast? Glaubst vielleicht, ich hätt' von einer anderen nicht mehr haben können? Die rote Netti –«

Fanny hebt bittend die Hände.

»Ich sag' ja nichts mehr!« zittert sie. »Es war auch nur so g'meint –«

»Behalt Deine Meinung!« schnauzt er sie an. »Ich frag' nicht drum!«

Damit geht er ans Fenster, zieht einen Spiegel aus der Tasche seines kurzen Sammtrockes und betrachtet sich aufmerksam. Ab und zu dreht er sein dünnes Schnurrbärtchen 320 oder betastet glättend die schwarzen, wohlfrisierten Haare. Nach einer Weile meint er nachlässig:

»Und jetzt ist's genug mit dem ewigen Streiten und Eifern. Du weißt, ich kann's einmal nicht leiden. Am besten ist's, wir gehn beide da fort und lassen die hochnasige Gredl laufen. Zu holen ist bei ihr doch nichts. Sie ist zu dumm.«

Fanny nickt, steht aber noch zögernd vor ihm. Er faßt sie um die Mitte und küßt sie leicht auf die gesenkten Lider.

»Komm!« sagt er halblaut. »Ich geh' mit Dir! Pack Deine Sachen ein!«

Da sie, dankbar und glücklich zu ihm aufsehend, das Zimmer verläßt, blickt er ihr triumphierend nach.

»Die Weiber sind alle gleich!« murmelt er vor sich hin. Wenige Minuten später zieht das Mädchen mit der blütenweißen Schürze hinter dem Geschwisterpaare die Thüre ins Schloß.

Mittlerweile hat Lori den Weg zu ihrem Gesangsprofessor eingeschlagen. Sie entwirft dabei Plan um Plan, wie sie sich von Fanny und dem Deutschmeister befreien könnte. Aber keiner scheint ihr recht ausführbar. Dazwischen räuspert sie sich immer wieder ängstlich. Sie glaubt im Ernste an ihre Stimme, denn der Professor, der das schöne Honorar nicht verlieren will, hat ihr eine glänzende Zukunft als Operettensängerin in Aussicht gestellt. Auch andere, meist sehr feine und liebenswürdige Kunstfreunde, welche sich bei Signor Conelli, dem angeblich wälschen Gesangslehrer, häufig einfinden, loben einstimmig ihr Talent und ihre ganz unzweifelhafte Eignung für die Bühne. Dabei lächeln sie zwar stets ganz eigentümlich, aber Lori bemerkt das nicht oder lächelt harmlos zurück. Unter ihnen thut sich besonders ein älterer Herr hervor, der keine Singstunde Loris versäumt. Jedesmal hält er einen prächtigen Blumenstrauß für sie bereit, den er ihr 321 dann mit veralteter Galanterie überreicht und dabei einige artige Redensarten vorbringt, die aber so seltsam und wunderlich klingen, daß Lori sie meistens gar nicht versteht. Der alte Herr ist sehr reich und ein »Kunstnarr«, wie Signor Conelli seiner hübschen Schülerin schon wiederholt zugeflüstert hat. Der Professor blinzelt dann immer schlau und stößt Lori kichernd mit dem Ellbogen in die Seite.

»Eine Gunstnarr!« lispelt er vertraulich. »Sehr, sehr viele Geld und in Ihre Talent ganz verbohren! Eine richtige Mäcen für Sie, Signorina Lori, – was? che? hi, hi!« Lori nimmt die Huldigungen des Alten mit einer vornehmen Herablassung entgegen, die sie ungemein drollig kleidet.

Nach und nach hat der »Gunstnarr« und künftige Mäcen alle anderen Bewunderer in Signor Conellis Salon auszustechen verstanden. Er wohnt den Unterrichtsstunden Loris jetzt allein bei und fordert das junge Mädchen unter verführerischen Schilderungen des Theaterlebens immer wieder auf, ihre Beziehungen zu dem jungen Wiesinger zu lösen und sich gänzlich der Bühnenlaufbahn zu widmen, wozu er ihr mit seinem Vermögen wie mit seinem väterlichen Rate gern behilflich sein wolle. Dieser Plan gefiele Lori auch ganz wohl, aber sie vermag in ihrer unentschlossenen Art nicht den Mut zu finden, mit Eduard ein entscheidendes Wort zu sprechen. Was sie durch üble Laune und Unliebenswürdigkeit ihm gegenüber andeutet, versteht er nicht.

So schleppt sie ein ihr unerfreuliches Leben ärgerlich weiter, mit sich selbst und der ganzen Welt schmollend und doch keine Änderung schaffend. Die Singstunden bei Signor Conelli und die Hoffnung auf eine fröhliche Zukunft als »berühmte Spielerin«, wie ihre Mutter sich ausdrückt, bilden die einzigen Lichtpunkte in diesem grämlichen Hindämmern, das durch die gereizte Stimmung gegen Fanny nicht eben 322 fröhlicher wird. Erscheint es Lori daheim gar zu unerträglich. dann flüchtet sie zu ihren Träumen, zu den Versicherungen ihres Lehrers sowie des alten Mäcens und fühlt sich bald glücklich und froh. Diese Träume beschäftigen sie auch heute so sehr, daß sie darüber rasch das eben noch drückend empfundene Unbehagen vergißt. Sie sieht sich im Geiste in dem prächtigen gold- und silbergestickten Trikot-Kostüme, das Eduard sofort nach der ersten Singlektion anschaffen mußte, auf der Bühne stehen, sieht alle Blicke auf sich gerichtet, hört das bewundernde »Ah!« wenn sie auftritt, den Applaus, wenn sie ihr Auftritts-Lied zu Ende gesungen hat, – dasselbe Lied, dessen erste sieben Takte der Professor seit einer Woche ihrem Gedächtnisse einzuprägen bemüht ist! Sie sieht die Kränze, die durch die Luft schwirren und zu ihren Füßen niederfallen, die Blumenkörbe, die aus dem Orchester emportauchen, die Geschenke, . . . Oh sie wird, sie muß ihr Ziel erreichen! Wenn nur das dumme Lernen nicht gar so schwierig und langweilig wäre. Aber auch das geht später viel leichter und rascher, hat Signor Conelli sie beruhigt. Mit einem kurzen, energischen Ruck richtet sie sich auf und trippelt hastiger weiter. Der Tag ist warm, sie beeilt sich, den schützenden Schatten der nächsten Straße zu erreichen. Die Vorübergehenden bleiben stehen und sehen ihr bewundernd nach. Sonst hat sie das stets mit besonderer Befriedigung erfüllt, jetzt beachtet sie es kaum mehr. Sie senkt den Kopf und versucht die unseligen sieben Takte des Auftritts-Liedes zu summen. Dazwischen glaubt sie die gedämpfte Stimme des immer höflichen, eleganten Lehrers zu vernehmen:

»Nit ganz ricktig, meine schöne Signorina, . . . breiter . . . leickter . . . so, ausgeßeicknet! Das waren son fast ricktig! Nun aber nock einemal . . .!«

Da kommen hastige Schritte gerade auf sie zu. Sie 323 will ohne aufzusehen ausweichen, erst nach rechts, dann nach links, aber der Begegnende folgt, offenbar von derselben Absicht geleitet, jeder ihrer Bewegungen. Das vollzieht sich in wenigen Sekunden, dann bleiben beide unwillkürlich vor einander stehen und blicken ärgerlich auf.

Lori erschrickt und tritt einen Schritt zurück. Eine dunkle Röte überfliegt ihre Wangen, sie neigt den Kopf in demütiger Ergebung ein wenig vor und läßt die Arme schlaff herabgleiten, wobei der Seidenstoff am Ärmel und Kleide leise knistert. Es ist Franz, der vor ihr steht. Auch er prallt erbleichend zurück, die Augen weit geöffnet und die Hände wie abwehrend von sich gestreckt. Er kommt eben aus dem Freihause, wo er von Marie Abschied genommen hat.

Beide bleiben einige Augenblicke stumm vor einander stehen. Endlich wagt Lori schüchtern aufzusehen, ihr Blick huscht unter den langen Wimpern über den jungen Bauführer hin.

Warum spricht er nicht? Sie stampft ungeduldig mit dem Fuße auf und geht einige Schritte weiter. Mechanisch tritt er zur Seite. Das ist es aber gerade, was sie zum Stehenbleiben bewegt. Er läßt sie vorübergehen, ohne auch nur den Versuch zu machen, sie zurück zu halten? Sie hatte gefürchtet, daß er auf sie losstürzen, sie mit Vorwürfen oder gar mit Schmähungen überhäufen werde. Nun wünscht sie es fast. Etwas in ihr lechzt nach einem Unmutsausbruche ihres ehemaligen Bräutigams, nach einer wenn auch noch so rohen Beschimpfung, die ihr das Recht gäbe zu antworten, sich zu verteidigen. Aber dieses Schweigen ist ja weit schlimmer, – es zeugt von Verachtung!

Nein, das erträgt sie nicht länger. Mit einem Ruck steht sie dicht vor Franz. Er soll und muß sie ansprechen. Sie merkt auch bald, wie seine Blicke an ihr entlang gleiten 324 und der Eindruck ihrer durch Schmuck und vornehme Kleidung erhöhten Schönheit sich in seinen Zügen wiederspiegelt.

»Lori!« sagt er jetzt leise.

Die lange nicht mehr gehörte Stimme weckt ein wundersam weiches Gefühl in Loris Brust. »Eigentlich war er doch immer ein guter Mensch!« denkt sie. Und im sanftesten Tone, aus dem sogar, vielleicht gegen ihre wahre Empfindung, eine zagende Bitte um Verzeihung durchzittert, antwortet sie:

. . »Lieber Franz?« . . .

»Daß ich Sie heute noch gesehen habe,« fährt der junge Mann gefaßter fort, »macht mir den Abschied viel, viel leichter. Ich reise nämlich zu einem Eisenbahnbau nach Rußland, – – noch heute abend . . .!«

Lori hört nur das »Sie« und zuckt dabei zusammen. Zu Marie sagt er gewiß Du! schießt es ihr durch den Kopf. Was die Mutter erzählt hat, ist also wahr! Oh, er soll nicht glauben, daß sie sich kränke oder auch nur ärgere! Im Gegenteil! Sie will ihm zeigen, wie glücklich die Trennung von ihm sie gemacht hat. Und hastig, ohne Verbindung mit dem eben Gehörten, beginnt sie von sich zu sprechen, von ihrer prächtigen Wohnung, von dem Gesangsunterrichte, von ihren Aussichten auf eine glänzende Theaterlaufbahn. Auch das Kostüme, in welchem sie auftreten will, schildert sie: Trikots, Silber- und Goldborten, fünffärbige Federn auf dem Hute, und Stulpstiefelchen . . . Ob Franz es sehen wolle? Es liege bereits in ihrer Wohnung . . . Sie spricht eilfertig und unzusammenhängend, erklärt immer wieder, wie wohl sie sich jetzt fühle, wie herrlich ihr Leben dahinrolle, vermeidet dabei aber doch, den jungen Mann anzusehen, und zieht mit der Spitze ihres Sonnenschirmes allerlei Linien auf dem Straßenpflaster.

Der Bauführer betrachtet sie unverwandt. Wie schön 325 sie ist! Sie scheint ihm jetzt noch berückender als früher. Das eng anliegende, hellfärbige Kleid bringt ihre schwellenden Formen voll zur Geltung und knistert ganz seltsam bei jeder Bewegung; die kleinen Hände nehmen sich in den schwarzen, bis an die Ellbogen reichenden Handschuhen entzückend niedlich aus. Und nun gar die Füße! Sie stecken in zierlichen Goldlackstiefelchen mit lächerlich hohen Absätzen und zucken, wie einst, immer noch nach irgend einer unhörbaren Tanzmelodie. Vollständig berauscht ihn aber der feine, sinnverwirrende Parfüm, der ihr bei jeder Bewegung entströmt.

– – – Nun ist sie mit ihrer Schilderung zu Ende und wartet auf eine Erwiderung. Allein der junge Bauführer antwortet nicht. Seine Augen verraten freilich umso beredter, was sein Mund mühsam verschweigt. Lori lächelt zufrieden. Ob er sie nicht besuchen wolle? fragt sie schmeichelnd. Er hat die Kraft ein heftiges Nein! herauszustoßen und sich wie zur Flucht abzuwenden.

Aber ihre Blicke halten ihn fest, er kann nicht von der Stelle. Das junge Mädchen tritt noch näher an ihn heran, so nahe, daß ihr Atem ihn streift. Flüsternd wiederholt sie ihre Frage und fügt rasch hinzu:

»Um sieben Uhr werd' ich allein sein! – Komm!«

Er will noch einmal sein heftiges Nein! erwidern, da streckt sie ihm bittend die Hand entgegen.

Oh, er wird diese Hand nicht berühren! Das hat er sich zugeschworen in den schweren Stunden, die dem Treubruche seiner Braut folgten. Auch jetzt ist er fest entschlossen, sie mit all der Verachtung zurückzustoßen, die –

Immer näher rücken die kleinen, leicht gekrümmten Fingerchen. Wie sie ihn anflehen, wie sie nach seinem Herzen langen, das sich krampfhaft zusammenzieht! Das enge Seidenleibchen knistert wieder leise, die Feder auf dem Hute nickt und winkt, 326 der berückende Wohlgeruch betäubt ihn schier, da . . . da liegt seine Hand auch schon in der ihren, ein rascher Druck, den er bis ins innerste Mark spürt, ein gehauchtes: »Ich erwart' Dich bestimmt!« und Lori rauscht davon. Dort biegt sie um die Straßenecke, blickt noch einmal grüßend zurück, vom blendenden Sonnenscheine draußen umflossen, – nun ist sie verschwunden.

Franz wankt weiter. Wie dunkel es plötzlich um ihn her wurde! Es fröstelt ihn. Fort, nur fort aus dieser einsamen Straße, hinaus in die Sonne, in das rasch flutende Leben, das dort vorüberrauscht. Willenlos läßt er sich hier von der geschäftigen Menge weiter schieben. Wohin? Ihm gilt es gleich.

Da liegt die breite Elisabethbrücke mit den weißen, weithin leuchtenden Statuen vor ihm, dahinter der halbgeleerte Marktplatz, die ansteigenden Dächerreihen, das rotschimmernde Schulhaus, der grüne Park und darüber die hochaufragende, Ehrfurcht gebietende Kuppel der Karlskirche, mit den schlanken Säulen davor, die sich scharf abheben von dem blauen Himmel, der heute so wolkenlos, so durchsichtig klar schimmert!

Dem jungen Bauführer ist es, als erblicke er das herrliche Bild zum erstenmale. Und er soll es nie wiedersehen! Heute abend reist er ja fort und dann . . . . . Mit eins erwacht in ihm das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit mit dieser Stadt, die er nicht mehr wie bisher als ein zufälliges Beisammenstehen von tausend und aber tausend Häusern, ein Gewirre von Straßen, Plätzen, Gärten und Monumenten betrachten kann, sondern als ein Ganzes, ein Lebendiges, dem er zugehört, dessen mächtige Züge tief in sein Herz gegraben sind, – das er liebt! Ja wohl, liebt! Stolz und zärtlich blickt er um sich, und alles erscheint ihm jetzt in einem neuen Lichte, von allen Seiten lächeln ihn vertraute, liebe Gesichter an, – das ist Wien, sein Wien, die Heimat, die Vaterstadt. 327 Jeder Stein erzählt ihm eine Geschichte; von den hohen fensterreichen Gebäuden bis herab zu dem schmalen, viel verhöhnten Wässerlein des Wienflusses, das tief unten in seinem grün beuferten Bette rieselt, winkt es ihm überall grüßend zu. Wie oft, wenn er von der Arbeit heimkehrend hier vorüberkam, hat seine Hand dieses Brückengeländer, über das er sich nun beugt, im Weiterschreiten spielend berührt, wie oft hat sein Blick von dieser Stelle aus das Freihaus begrüßt, das damals freilich noch alles einschloß, was er sein Glück nannte.

Damals . . . Ja, damals! Müde schließt er die schmerzenden Augen.

Das eben eingeprägte Bild zerrinnt allmählich in eine Nebelwolke, die immer heller, immer rosiger wird und endlich die weichen Züge eines entzückenden Mädchenkopfes annimmt. Dunkle Augen blicken fragend und verlangend auf ihn nieder, eine halbgeöffnete Rose leuchtet im üppigen, braunen Haar, unter dem weichen, runden Kinn schimmert der weiße Hals, runden sich die sanft abfallenden Schultern, der schwellende Busen . . . das ist Lori, die ihm herzbethörend zulächelt wie einst, da sie zum erstenmale an seiner Brust ruhte und durch die glitzernden Thräne, die nach rasch ersticktem Schluchzen noch an den langen, weichen Wimpern hing, in süßer Hingebung zu ihm aufblickte, – seine Braut!

Ihn überläuft's, er öffnet die Augen, und die Erscheinung ist verschwunden. Die Brücke steht wieder vor ihm, die weißen Statuen, der grüne Park, die hoheitsvolle Kuppel. Dazwischen wogt die immer bewegte summende Menge, darüber gießt der leuchtende Sommertag sein grelles, blendendes Licht.

Franz reißt sich schmerzlich bewegt los und flüstert einen Abschiedsgruß. Gilt er der Vaterstadt, gilt er der verlorenen Braut? In diesem Augenblicke fließen ihm Wien und die Geliebte in eins zusammen . . . . . .

328 Langsam wendet er sich zurück und wandert ziellos durch die Straßen der Stadt. Vor jedem Schaufenster bleibt er stehen, ohne jedoch von den ausgestellten Herrlichkeiten etwas zu sehen, denn er starrt nur so gedankenlos vor sich hin. Wiederholt wird er zur Seite geschoben, ab und zu erhält er wohl auch einen Stoß und fährt dann aus seinem Hinbrüten auf, aber gleich darauf torkelt er wieder weiter. Von Zeit zu Zeit blickt er mechanisch nach der Uhr. Wie langsam die Stunden hinschleichen! Im Gehen berechnet er dann, wie lange er noch zu warten habe bis zur Abfahrt des Zuges. Eine halbe Stunde früher soll er mit den Freunden auf dem Bahnhofe zusammentreffen. Sie wollen ihm sämtlich das Geleite geben . . . die Guten!

An Lori denkt er nicht, oder redet sich vielmehr ein, nicht an sie zu denken. Es war ein Spuk, ein böser Traum! sagt er sich vor. Mit dem ersten Ruck des Eisenbahnwagens beginnt ein neues Leben, – Lori ist für alle Zeit vergessen. Das unerträgliche Pochen da in der Brust wird dann wohl auch schweigen!

Endlich schlägt es von einem nahen Turme sechs Uhr. Franz atmet auf. Nun ist es Zeit nach dem Bahnhofe zu gehen. Wenn er, ohne sich zu beeilen, nach seiner Wohnung schlendert und dort seinen Koffer holt, kommt er just zurecht. Sein Weg führt ihn über die Schwarzenbergbrücke und durch die Schwindgasse.

Eine leise Stimme will ihn warnen, die Gasse zu betreten. Aber sein Stolz fordert es gerade deshalb nur um so ungestümer. Lori ist ihm gar nicht mehr gefährlich, und wäre sie heute nur nicht so eilig davongerauscht, er hätte ihr wohl noch seine Meinung gesagt! Ja, das hätte er. Denn er verachtet, er haßt und verabscheut sie, – sie, die ihn verließ um das Leben einer Verworfenen zu führen. Sie mag ihn nur erwarten! Keine Macht der Welt soll ihn zu ihr führen.

329 . . . Da ist das Haus, das sie ihm bezeichnet hat! Er will gar nicht hinübersehen. Hastig geht er weiter. Ganz unversehens hat sein Blick aber doch die Fenster des ersten Stockwerkes gestreift. Die Vorhänge sind herabgelassen, alles still und stumm. Umso besser! Noch wenige Schritte und die Unglücksstraße liegt hinter ihm, für immer.

Für immer! Und er soll Lori nie wiedersehen, soll ihre Stimme nie wieder hören! Ehe er aus dem fernen Rußland heimkehrt, ist sie sicher längst verschollen, – gestorben oder verdorben. Denn auf dem Wege, den sie jetzt betreten hat, geht es gar rasch abwärts!

Arme, arme Lori! Ein großer Teil der Schuld ihrer Verirrung trifft wohl den Vater, der sich niemals recht um sie bekümmerte, und vor allem die Mutter, die sie ja geradehin zu einem solchen Leben erzogen hat. Ein großer Teil? Nein, die ganze Schuld! In besseren Händen wäre Lori die glückliche und beglückende Gattin eines braven Mannes geworden, die ehrbare Mutter schöner Kinder, dunkler Krausköpfe, die ihr glichen . . . .

Der junge Bauführer malt sich das Bild recht entzückend aus. Wäre sie nur zur rechten Zeit gewarnt worden! grübelt er weiter. Hätte ich selbst den Mut besessen, ihren Launen einen ernstlichen Widerstand entgegen zu setzen, ihren Hang zu leichtsinnigem Vergnügen nicht zu unterstützen, alles wäre anders gekommen. Ich selbst trage auch Schuld an ihrem Unglück. Er läßt betrübt den Kopf sinken und seufzt. Nun ist es zu spät, nun verläßt er Wien und sieht sie nie – – –

Sollte er nicht doch in der letzten Stunde aufrichtig zu ihr sprechen? Ihr sagen, daß . . . . . Da schlägt es sieben Uhr. Franz fährt aus seinen Träumen auf und blickt verstört um sich. Er steht noch immer vor dem Hause in der Schwindgasse und starrt zu den Fenstern empor, hinter welchen 330 sie ihn erwartet. – – – Nein, er geht nicht zu ihr. Er kann, er darf es nicht. Er hat sich der Unternehmung gegenüber verpflichtet heute abzureisen; – seine Freunde erwarten ihn, – – auch seine künftigen Kameraden, welche mit ihm fahren sollen, sind schon bereit . . . Vorwärts denn! – – – Er vermag es nicht. Die hohen, schmalen Fenster vor ihm bannen ihn mit unwiderstehlicher Gewalt. Jetzt schimmert ein rosiges Licht durch die Vorhänge, diese bewegen sich leise, eine kleine weiße Hand schiebt sie zur Seite, – Franz springt über die Straße, öffnet das Thor und stürmt die Treppe empor. Seine Hand berührt zitternd die Klingel, das Mädchen im weißen Häubchen öffnet und schließt die Thüre wieder hinter ihm, – es ist entschieden. Noch während er angemeldet wird, zuckt in ihm der Gedanke auf, rasch zu entfliehen. Aber da kommt das Mädchen auch schon zurück und bittet ihn einzutreten.

»Das Fräulein ist allein und erwartet Sie!« sagt es in seiner feierlich-höflichen Weise.

Nun ist es zu spät.

Feigling! Meineidiger Feigling! zürnt sein Stolz. Sein Herz pocht so stürmisch, daß er mühsam nach Atem ringen muß, er beißt sich die Lippen blutig, – – aber er tritt ein.

Lori erwartet ihn in der That, – sie ist nicht minder erregt als er. In fiebernder Unruhe hastet sie vom Fenster zur Thüre und von dort wieder zur Causeuse, auf welcher sie sich bleich und zitternd niederläßt. Das dumme Herzklopfen! Sie spürt es bis in den Hals. Zögernde Schritte im Speisezimmer, . . . ein schüchternes Pochen an der Thüre . . .

»Herein!« würgt Lori hervor, und gleich darauf tritt Franz ein, bleich und befangen wie sie selbst.

Wie bei der Begegnung am Morgen ist auch jetzt Lori die erste, welche endlich ihre Fassung wiedergewinnt. Zwar 331 noch immer ein wenig verschüchtert, aber dadurch nur umso reizender in jeder ihrer zaghaften, halben Bewegungen, erhebt sie sich leicht gebückt und begrüßt ihren Gast mit ein paar nichtssagenden Worten, welche nur den Bann der ersten Verlegenheit brechen sollen.

»Das ist schön von Ihnen, Herr Sturm! – Freut mich! – Und so pünktlich – – ja!«

Ihre Stimme klingt anfänglich noch umschleiert, bald aber schwindet auch dieser letzte Rest von Befangenheit. Franz hat sich, ihrer Einladung folgend, auf dem Tabouret neben ihr niedergelassen. Er hält seinen Hut zwischen den Knieen und starrt immerzu vor sich hin. Wenn er ab und zu einmal aufsieht, dann huscht sein Blick nur flüchtig über Lori hin, um gleich darauf wieder zu dem Hute zurückzukehren.

Dabei bringt er keine Silbe über die Lippen und nickt nur zustimmend oder verneinend zu den Fragen, welche Lori in aller Hast an ihn stellt, um ein Gespräch in Gang zu bringen. Der starke Parfüm, der ihm heute schon einmal die Sinne zu verwirren drohte, betäubt ihn vollends hier in Loris Schlafzimmer, wo Wände, Boden und Decke ihn auszuströmen scheinen. Franz wischt sich wiederholt den Schweiß von der Stirne und atmet schwer, denn er spürt einen beklemmenden Druck in der Kehle. Was hat er Lori nicht alles sagen, wie ergreifend hat er sie warnen wollen, als er da unten vor ihren Fenstern stand! Nun ist alles vergessen. – Es ist aber auch so ganz anders hier, als er es sich vorstellen konnte! Immer spärlicher werden Loris Fragen, immer länger und peinlicher die tiefen Pausen dazwischen. Nun versucht sie es mit dem Erzählen. Aber auch damit will es nicht glücken.

Was allein ihren Gedankenkreis ausfüllt: Theater und Unterhaltungen, die Ereignisse und der Klatsch der ganz und 332 gar besonderen Welt junger Lebemänner und kleiner Schauspielerinnen, in welcher sie lebt, interessiert den jungen Bauführer nicht. Das merkt sie bald und spricht deshalb immer langsamer und zögernder, bis sie endlich mitten in einem Satze abbricht.

Selbst die höchst merkwürdige Geschichte der schwarzen Thalhofer-Resi, welche letzthin am helllichten Tage durch den Prater fuhr und dabei selbst kutschierte, während der Fiaker im Wagen saß, scheint Franz gänzlich kalt zu lassen. Aber worüber soll sie mit ihm sprechen, wenn ihn nicht einmal solche sensationelle Vorfälle interessieren? – –

Ein neuer, vielleicht rettender Einfall. Lori springt auf und holt aus einem Winkel des Zimmers drei schwere Bände herbei, welche sie vor Franz aufstapelt. Alte Jahrgänge von Wiener Witzblättern sind es, die sie von Eduard erhielt und in welchen sie mit ihm oft stundenlang blättert, wenn es ihnen an Gesprächsstoff mangelt. Aber Franz lächelt nicht einmal, obgleich ihn Lori auf die drolligsten Bilder aufmerksam macht und dazu selbst, wenn auch etwas gezwungen lacht.

Nun bringt sie ihren Schmuck und das prächtige Kostüme zur Ansicht, von dem sie ihrem ehemaligen Bräutigam schon am Morgen gesprochen hat. Auch die Betrachtung dieser Schätze hält nur eine kurze Weile vor, dann sitzen sie einander wieder schweigend gegenüber. Eines hat Lori allerdings erreicht. Franz hat die erste Befangenheit allmählich überwunden. Aber damit ist auch ein guter Teil des Zaubers entwichen, den Loris neue Erscheinung auf ihn ausübte. Je eifriger sie sich bemüht ihn zu unterhalten, je hastiger sie plaudert, je gezwungener sie scherzt und lacht, desto nüchterner wird Franz.

Er betrachtet sie verwundert. Das gezierte Frauenzimmer, das da im schweren, kostbaren Schlafrocke vor ihm sitzt und eine Sprache spricht, die ihn beleidigt, obgleich er sie kaum 333 versteht, ist doch nicht in Wahrheit Lori, die Tochter des schlichten Poliers Florian Schober? Dieselbe Lori, die einst seine Frau werden sollte? Wie fremd ihm jetzt sogar ihre Stimme klingt! Und wie ihm die Schminke in die Augen sticht, die er plötzlich auf ihren Wangen entdeckt! Er wendet sich hastig ab und sieht sich im Zimmer um. Aber seine Ernüchterung wächst, je schärfer er jeden einzelnen Gegenstand ins Auge faßt. Tand, Flitterkram und erlogener Glanz starren ihm von allen Seiten entgegen. Der starke Wohlgeruch, der ihn am Morgen so sehr berauscht hatte, widert ihn nun an. Am liebsten spränge er auf und liefe davon. Jetzt erst hat er Lori ganz und gar verloren, das fühlt er immer klarer. Und nicht nur das geliebte Mädchen. Nein, auch die beseligende Erinnerung an die Zeit, da er sich noch glücklich glauben durfte, verblaßt bei dem Anblicke dieser neuen, verzerrten Lori. Er vermag die Erscheinung der einfachen Polierstochter im Kattunkleide nicht mehr festzuhalten, die beiden Bilder verschwimmen in einander, wie sehr er sich auch dagegen sträuben mag. Verloren, – alles verloren!

Ahnt Lori, was in ihm vorgeht? Eine Weile hält sie seinen starren, kaltprüfenden Blick aus, aber allmählich wird auch sie unruhig und sucht nun ihren wunderlichen Gast mit einer letzten Anstrengung doch noch zum Sprechen zu bewegen.

»Es ist eigentlich spaßig,« sagt sie verlegen, »aber mir scheint gar, wir sind heut zum erstenmal in unserm Leben allein!«

Ehe sie noch zu Ende gesprochen hat, fällt ihr ein, daß sie an jenem letzten Abende vor ihrer Flucht aus dem Freihause mit Franz allein geblieben war. Marie hatte sie verlassen, damit sie zu ihm spreche, ihn aufrichte. Damals verließ sie ihn freilich . . . .

Das Unbehagen der letzten Stunden regt sich leise mahnend 334 wieder. Aber plötzlich wächst es zu einem dumpfen Schuldbewußtsein an, das zum erstenmale in ihr erwacht.

Weshalb gerade jetzt? Franz hat ja nicht gesprochen, er hat ihr kein einziges Wort des Vorwurfs gesagt! Dennoch wagt sie nicht mehr aufzublicken, nicht mehr die Lippen zu bewegen. Sie möchte weinen, möchte klagend und sich selbst anklagend den schmerzenden Kopf wieder wie einst an die Brust dieses Mannes lehnen und sich die Beängstigung, die ihr das Herz zusammenkrampft, von der Seele schluchzen. Aber sie findet nicht den Mut dazu, sie schämt sich wohl auch ihrer Reue.

Langsam sinkt der Abend herab, seine Schatten huschen durch das Zimmer. Noch immer sitzen die beiden einander schweigend gegenüber.

Da ertönt draußen die Klingel. Gleich darauf folgt ein heftiger Wortwechsel im Vorzimmer. Lori richtet sich auf und horcht. Auch Franz erwacht aus seinen trüben Betrachtungen. Er erhebt sich und will gehen. Aber Lori hält ihn zurück. Ihre ängstliche Geberde bittet ihn, sich nicht zu bewegen.

Sie hat die Stimme des Deutschmeisters erkannt, welcher ungestüm Einlaß fordert. Das Mädchen hält ihn zwar zurück, aber Lori kennt ja seine rücksichtslose, rohe Art. Seine Drohung fällt ihr ein. Bah, er wagt doch nicht – –

Da wird die Thüre des Nebenzimmers aufgerissen, – der Deutschmeister hat sich den Eintritt gewaltsam erzwungen! Nun gilt es. Er darf Franz hier nicht finden.

Sie drängt den Bauführer zur Tapetenthüre.

»Da, da hinein in die Kammer und dann durchs Vorzimmer fort!« flüstert sie hastig. »Ich halt ihn hier schon so lang zurück! Aber nur g'schwind, – ich bitt' Dich, nur g'schwind!«

Franz tappt sich mühsam in der engen Kammer zurecht, 335 in der es noch dunkler als in Loris Schlafzimmer ist. Vor wem hat er so plötzlich fliehen müssen? Doch wohl vor dem Liebhaber Loris. Tiefer Ekel übermannt ihn. Er will zurückkehren, will dem fremden Manne sagen, daß er von ihm wahrlich nichts zu befürchten habe! – –

Da schlägt von irgendwoher eine Uhr schnarrend die achte Stunde. Jetzt fährt der Zug ab, der ihn nach seinem neuen Bestimmungsorte führen sollte. Er hat sein gegebenes Wort gebrochen, hat zum zweitenmale unredlich gegen seinen Brotherrn gehandelt!

. . . Soll er die verwünschte Thüre denn niemals finden? Da, da ist sie! Er fühlt die kalte Metallklinke in seiner Hand, – ein Druck und er ist frei. Endlich! Er lechzt nach frischer Luft, nach freier Bewegung. – Aber da tönt ein Hilferuf an sein Ohr. Schrill, verzweifelnd dringt er zu ihm. Das ist Loris Stimme. Dazwischen ein Drängen und Zerren an der Thüre, durch welche er das Schlafzimmer verlassen hat.

Ohne einen Augenblick zu überlegen, springt Franz zurück und stößt die Thüre, die von innen zugehalten wird, mit einem starken Ruck auf.

Ein menschlicher Körper fällt dumpf zu Boden. Franz hört ihn aufschlagen und beugt sich angsterfüllt nieder. Es ist Lori. Bleich, mit geschlossenen Augen und geöffnetem Munde liegt sie vor ihm.

»Lori!« ruft er und will sie aufrichten. Allein eine nervige Faust umklammert im selben Augenblicke seinen Nacken und sucht ihn gleichfalls zu Boden zu drücken. Franz biegt glücklich aus und zwingt den Gegner, dessen Gesicht er in der Dunkelheit nicht zu erkennen vermag, mit einem sicher geführten Stoße gegen dessen Schläfe den Griff am Halse zu lockern. Nun windet er sich behende völlig los und dringt seinerseits auf den Angreifer ein, den er in einem kurzen lautlosen Ringen 336 endlich überwältigt. Schon duckt sich dieser, seine Kniee wanken und seine Arme werden schlaff. Noch ein tüchtiger Ruck und er muß stürzen, – da spürt Franz plötzlich einen heftigen Schmerz in der Seite, zugleich schwindet seine Kraft, seine Sinne verwirren sich, er fühlt ein wildes Sausen in den Ohren, sieht Feuerräder, die sich vor seinen Augen in wahnsinniger Eile drehen, – dann taumelt er und hört im Hinstürzen nur noch das heisere Lachen seines enteilenden Gegners.


Da er die Augen wieder aufschlägt, findet er sich auf einem weichen Lager. In dem unsicheren Lichte, das eine einzige, herabgebrannte Kerze neben ihm verbreitet, erkennt er das Schlafzimmer wieder, in welchem er mit dem unheimlichen Fremden rang. Dort erblickt er auch noch eine breite Blutlache auf dem Boden, und das bleiche Antlitz, das sich bange fragend über ihn beugt, ist das seiner einstigen Braut.

»Geht's schon besser?« flüstert Lori mit angsterstickter Stimme.

Der heftige Schmerz raubt ihm die Sprache, aber er nickt doch bejahend.

»Gott sei Dank!« – Wie sich dieser Seufzer von ihren Lippen ringt, wie sie dankbar aufblickt, sich dann wieder mit hastender Fürsorge über ihn beugt und ein feuchtes Tuch kühlend an seine brennende Wunde drückt! – –

»Lori!« haucht er mit Anstrengung. »Du bist . . . so . . . schön . . . , Lori, . . . und so gut! . . .«

Dann sinkt sein Kopf schwer in die Kissen zurück, aufs neue umfängt ihn eine tiefe Ohnmacht.

Aus ihrer Betäubung erwachend, hat Lori ihn für leblos auf dem Boden liegend gefunden und bis an ihr Bett geschleppt, wo sie ihn zu laben versuchte. Zwei, drei endlose Minuten blieb sie allein mit ihm, dem aus der klaffenden 337 Wunde immerzu das Blut rieselte. Endlich hatte sich das Mädchen eingefunden und mit demselben die über den Hilferuf Loris eilends heraufgeholte Hausmeisterin. Den vereinten Anstrengungen der Frauen gelang es endlich, den schweren Körper des Verwundeten, der noch immer kein Lebenszeichen von sich gab, auf das Bett zu legen. Nun ist das Mädchen fortgeeilt, um einen Arzt zu holen, und Frau Bogner, die geschäftige Hausmeisterin, bereitet unten in ihrer Küche einen stärkenden Thee, welcher dem Ärmsten zunächst eingeflößt werden soll.

Der neue Ohnmachtsanfall erschreckt Lori aufs äußerste. Wenn Franz nicht mehr erwachte! In fiebernder Angst betastet sie seine Stirne, seine Hände, horcht an seinem Herzen und drückt dabei immerzu ihr feuchtes Spitzentuch an seine Wunde, deren Blutung nicht enden will. – Wenn er stürbe! Sie sinkt an dem Bette in die Kniee und faltet inbrünstig die Hände. Sie will beten. Aber sie entsinnt sich nur des Vaterunsers, das ihr noch aus der Kinderzeit erinnerlich ist. Dieses und den daran schließenden »Glauben« leiert sie nun in fiebernder Hast eintönig herab, wie sie es einst als Schulmädchen gethan, um rascher zu Ende zu kommen . . .

Da poltert die Mutter glückstrahlend herein. Ihr Streifzug hat heute endlich Erfolg gehabt; bis in die sinkende Nacht konnte sie mit beiden Nachbarinnen, die sie auf der Straße traf, angeregt plaudern. Nun hat sie alle Taschen voll Neuigkeiten und brennt vor Begierde sie auszukramen.

»Lori!« ruft sie schon in der Thüre. »Rat einmal, wer Dich grüßen laßt!«

Ein Blick auf das Bild, das sich ihr im Schlafzimmer der Tochter bietet, ändert freilich ihre Stimmung.

»Jesus Maria, was ist denn g'schehn?« fragt sie erschrocken. Lori antwortet nicht, sondern winkt ihr nur, sie 338 mit dem Verwundeten allein zu lassen. Kopfschüttelnd zieht sich Frau Schober in die Küche zurück, wo sie sich von dem eben zurückkehrenden Mädchen alles haarklein erzählen läßt.

»So was! Nein, so was!« ruft sie dazwischen immer wieder entrüstet. »Ich sag's ja, der Sturm ist halt einmal unser Unglück!«

Inzwischen hat sich Lori neuerdings über den Bewußtlosen gebeugt. Wenn nur der Arzt endlich käme!

Immer tiefer sinkt ihr Haupt auf den bleichen Mann nieder.

»Nicht sterben!« flüstert sie bittend. »Lieber, lieber Franz, – gelt, Du stirbst nicht?«

Und sie haucht einen Kuß auf seine kalte Stirne. 339

 


 


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