Carl Karlweis
Wiener Kinder
Carl Karlweis

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Zweites Kapitel.

Vater Schober.

Woche um Woche war seit jenem Abende verstrichen. Vater Schober konnte sich zwar endlich von seinem Schmerzenslager erheben und auf eine Krücke gestützt den Lehnstuhl erreichen, den ihm Marie recht nahe rückte, aber noch durfte er nicht daran denken, die Stube zu verlassen.

Seine bange Frage, wann er denn endlich vollkommen hergestellt und wieder arbeitsfähig sein werde, vermochte der Arzt nur mit allgemeinen Trostesworten zu beantworten. Er empfahl dem unruhigen Kranken vor allem Geduld, da sich in seinem Falle nun einmal nichts überstürzen lasse. Tag um Tag wiederholte Vater Schober seine Frage und mit jedemmale wurde sie dringender; allein die Antwort blieb unverändert dieselbe. Das gab dann täglich eine Enttäuschung, welche die Ungeduld des Kranken aufs äußerste spannte und sich in wilden Zornesausbrüchen Luft machte, sobald der Arzt die Stube verließ.

Zunächst war es Marie, welche in solchen Stunden unter der bösen Laune des Vaters zu leiden hatte, denn sowohl die Mutter als auch Lori hielten sich, seit die erste Gefahr als überwunden betrachtet werden konnte, nur mehr 26 selten in der Krankenstube auf. Was zunächst Frau Schober betrifft, so hatte sie von jeher eine ausgesprochene Abneigung gegen das ermüdende Amt der Krankenpflege, dafür aber eine umso entschiedenere Vorliebe für Rührung und Thränen bekundet. Von Zeit zu Zeit mußte sie weinen, das war ihr ein Bedürfnis, dem zu genügen sie in stillen Zeiten allen Leichenbegängnissen in der nahen Paulanerkirche beiwohnte.

Nun steht sie zumeist auf dem Korridore inmitten der teilnahmsvollen Nachbarinnen, mit welchen sie den schweren Unglücksfall im allgemeinen und besonderen immer und immer wieder bespricht, wobei es natürlich ihrerseits ebenso wenig an Thränen und Schluchzen, als von Seite der Frauen an trostvollen Worten und wehmütig zustimmendem Kopfnicken fehlt. Häufig begiebt sich die gesammte Trauergesellschaft in Frau Sobotkas oder Frau Stölzls Wohnung, wo dann zur Nachmittagszeit einige mächtige Kannen Kaffee aufgetischt werden.

Wenn Frau Schober zwischen den mitfühlenden Nachbarinnen auf dem geblümten Sopha sitzt und aller Augen auf sich gerichtet sieht, wenn vor ihr die bauchige Kaffeeschale, das zierliche Milchkrüglein und zu Zeiten sogar ein appetitlicher, reich mit Rosinen gespickter brauner »Guglhupf« winkt, – das sind die wahren Höhepunkte des Schmerzes. Dann schießen der tiefgerührten Frau die Thränen in die zwinkernden Augen, und mit gebrochener Stimme schluchzt sie immer neue Betrachtungen über den furchtbaren Schlag, der sie so tief gebeugt hat, immer neue Anklagen gegen das grausame Verhängnis, das sie – eine arme, schwache und selbst kränkliche Frau! – an das Krankenbett ihres Gatten kettet.

Lori fügt sich weit stiller in das Unvermeidliche. Anfänglich hatte sie freilich viel geweint, und die Schmerzen, welche der arme Vater erleiden mußte, redlich mitgefühlt; 27 allein als der Arzt erklärte, Marie könne den Vater nicht dauernd allein pflegen, da zeigte es sich bald, daß Lori weder die Kraft noch die Geduld besaß, welche der Wartedienst bei dem erregten Kranken forderte. Sie kann den Anblick von Blut und Wunden nicht ertragen und stürzte deshalb jedesmal kreischend aus der Stube, wenn der Arzt Miene machte, die Verbände zu erneuern. So bleibt die Wartung des Vaters denn doch der älteren Tochter allein überlassen. Marie hält auch ruhig und sanftmütig an dem Krankenbette aus, trotz der Einsprache des Arztes, und obgleich ihr der Vater das schwere Amt wahrlich nicht erleichtert. Hat er ihr anfänglich nur unfreundliche Blicke zugeworfen, auf ihre Fragen nach seinen Wünschen beharrlich geschwiegen und jeden Dienst, selbst den beschwerlichsten, mürrisch und ohne das leiseste Zeichen des Dankes entgegengenommen, so läßt er jetzt, da die ausweichenden Antworten des Arztes seine ohnmächtige Wut täglich neu entflammen, allen Groll und alle fiebernde Ungeduld gegen seine stille, blasse Pflegerin austoben, welche sich redlich und doch vergeblich bemüht, seinen Unmut durch Geduld und zartsinnige Schonung zu entwaffnen. Ihre Ruhe beschämt sein Poltern und erzürnt ihn deshalb nur um so mehr.

So sehr sich Marie auch bestrebt, jeden Schimmer eines Widerspruches in ihrem ernsten Blicke zu vermeiden, der Vater behauptet doch stets aufs neue, sie lehne sich heimlich gegen ihn auf, und geberdet sich nur noch ärger.

Endlich hat er sich doch müde gelärmt und liegt nun mit schlaff herabhängenden Armen und halb geöffnetem Munde auf seinem Lager. Seine Pflegerin sitzt, eine Näharbeit in den unermüdlichen Händen, aufmerksam an seinem niederen Bette und bewacht seinen unruhigen Schlummer.

Die Mutter hat sich wie gewöhnlich zu Frau Sobotka 28 begeben, um wieder einmal von ihrem Kummer zu sprechen, und Lori steckt nebenan in der Kammer und kleidet sich an. Marie hört sie geschäftig auf und nieder trippeln und dabei ein lustiges Lied vor sich hin summen, das sie nur durch kurze Ausrufe der Ungeduld unterbricht, wenn das Mieder nicht sogleich schließen will, oder der Fuß im engen Stiefelchen schmerzt.

Da klopft es an die Stubenthüre, – der Arzt tritt ein.

Marie begrüßt ihn kurz und beide treten an das Bett des Vaters, der dasselbe mit Beihilfe der Tochter verläßt und nach einer Weile langsam durch das Zimmer humpelt.

»Es geht! Schau, schau, es geht ganz prächtig!« sagt der Arzt nach einigen Schritten.

»Glauben S'? Glauben S' wirklich, Herr Doktor?« entgegnet Vater Schober und seine Blicke haften voll banger Hoffnung an den Lippen des Doktors. Da dieser ernsthaft nickt, wagt der Kranke endlich seine tägliche Frage:

»Wie lang . . . wird's wohl noch dauern, Herr Doktor? Ich mein' natürlich nur . . . so ungefähr?«

»Nicht mehr allzulange, Herr Schober. Noch einige Tage der Schonung und wir können langsam ans Ausgehen denken.«

Der Polier holt tief Atem und tritt ans Fenster, um seine Aufregung zu verbergen. Endlich ein erlösendes Wort! . . . Nur noch wenige Tage! . . . . .

Der Doktor aber wendet sich zu Marie, die schweigend am Bette lehnt und den Vater beobachtet.

»Nun, Fräulein Marie,« sagt er laut, »sind Sie nicht stolz auf Ihr Werk? Denn das darf Ihr Vater nicht vergessen, seine Genesung verdankt er weit mehr Ihnen als mir! – Nun, nun, deshalb müssen Sie aber nicht fortlaufen!« fügt er lächelnd hinzu und ergreift Mariens Hand. »Sie 29 haben ja sonst immer tapfer stand gehalten, wo mich alle Anderen im Stiche ließen, warum wollen Sie jetzt so plötzlich Reißaus nehmen?«

Der Vater tritt betroffen vom Fenster zurück und nähert sich seiner Tochter, deren blasse Wangen eine dunkle Röte überfliegt. Jetzt steht er vor ihr. Zögernd hebt er den Arm, um ihr die Hand entgegen zu strecken, da wird die Kammerthüre geräuschvoll aufgestoßen und Lori, noch immer ihr lustiges Liedchen auf den Lippen, tritt in die stille Stube.

»Ah, der Herr Doktor!« ruft sie und unterbricht ihr Summen. »Bitt' schön, lassen S' den armen Herrn Vater endlich einmal wieder aus dem Zimmer, er hält's schon gar nicht mehr aus bei uns! Nicht wahr, Vaterl?«

Sie schmiegt sich schmeichelnd an den Vater, wirft aber dabei dem Arzte einen blitzenden Blick zu.

»Sie Wauwau!« lacht sie, liebenswürdig schmollend.

Der Vater tätschelt liebkosend ihre vollen Wangen, dann sagt er entschuldigend:

»Verzeihen S', Herr Doktor, die Lori ist halt einmal so gradaus!«

Es bedarf dieser Begütigung nicht, denn das Eintreten des jungen Mädchens hat den ernsthaften Arzt mit einem Schlage völlig verwandelt. Er knöpft hastig seinen faltigen Rock zu, betastet prüfend seine schwarze Halsbinde und streicht die spärlichen Haarbüschel an den Schläfen sorgsam nach vorne. Lori lacht ihm ins Gesicht und ihre munteren Augen beantworten seine bewundernden Blicke mit gutmütigem Spotte. Dabei zieht sie den Arzt aber doch sofort in ein Gespräch, das sie mit großer Zungenfertigkeit zu beherrschen weiß. Sie plaudert ununterbrochen fort, sprudelt zehn Fragen hervor, ehe er eine einzige beantworten kann, und springt so wahllos und unvermittelt vom hundertsten ins tausendste, 30 daß er Mühe hat, ihr nur zu folgen. Freilich ist es das Alltäglichste, Gleichgiltigste, was Lori spricht: Klatsch vom Korridore und vom Markte, die Einzelheiten des letzten Raubmordfalles, der eben die Vorstadt in Atem hält, dazwischen irgend eine jener landläufigen, neckenden Phrasen, die in jedem Falle und zur Not auf jeden Mann angewendet werden können, wie etwa: »Oh, Ihnen trau' ich auch nicht über den Weg!« oder: »Die Männer sind ja alle so schlimm!« – Aber sie hat eine angenehme Art diese leeren Worte mit ihrem fröhlichen Lachen zu beleben und sie mit so wichtiger Miene vorzubringen, als stecke doch irgend ein ganz besonderer, geheimnisvoller Sinn in ihnen.

Auch der ernsthafte und sonst so verständige Arzt hört ihr mit sichtlichem Vergnügen zu. Dabei folgen seine Blicke entzückt den lebhaften Bewegungen, die jede Redewendung drastisch genug begleiten, denn die ganze biegsame Gestalt, von den unablässig gestikulierenden Armen bis herab zu den lustig zappelnden Füßchen, spricht unbewußt mit.

Marie ist mit dem Eintritte Loris vergessen. Weder der Vater noch der Arzt bemerken, daß sie nach einer Weile leise die Stube verläßt; sie sehen auch den seltsamen langen Blick nicht, den sie ihnen noch in der Thüre zuwirft. Draußen in der dunklen Küche, die durch das einzige vergitterte Fenster nur spärliches Licht erhält, hantiert Marie geräuschlos an dem rauchgeschwärzten Herde, in dem sie ein flackerndes Feuer entfacht, das rötlich tanzende Lichter auf ihre Wangen wirft. Sie stellt das Mittagessen zurecht und hockt dann in der dunkelsten Ecke auf der Holzbank nieder, die Hände gefaltet und den Kopf müde an die Wand gelehnt. So vergeht eine Viertelstunde. Dann hört Marie, wie der Doktor drinnen Abschied nimmt. Lori begleitet den Arzt scherzend und plaudernd durch die Küche. Marie bleibt auch hier 31 unbemerkt. Auf dem Korridore schlägt ihre muntere Schwester geschmeichelt und errötend in die dargebotene Hand des Doktors ein und tänzelt hierauf an das Fenster, wo sie sich auf die Fußspitzen erhebt, um ihn aus dem Hause treten zu sehen. Da sie ihn erblickt und er nochmals winkend herauf grüßt, nickt sie freundlich, springt dann aber vom Fenster zurück, schlägt schallend in die Hände und will sich schütteln vor Lachen.

»Was ist denn geschehen?« fragt Marie in die Thüre tretend.

»Nichts, gar nichts, ich muß nur gar so viel lachen über den Doktor!« kichert Lori. »Ein spaßiger Mensch, mit seinem langweiligen, breiten Reden und seiner großen Brille, die er immer hinaufschiebt, wenn er mich verliebt anschauen will!« Dann unterbricht sie sich plötzlich und sagt leichthin:

»Er hat gesagt, der Vater soll zu Mittag ein Glas Wein trinken, und abends auch eines. Vergiß nicht, den Wein zu holen, sonst zankt der Vater wieder – Du weißt ja!«

»Ich weiß!« antwortet Marie und kehrt in die Küche zurück, wo sie noch allerlei aufzuräumen hat. Lori folgt ihr langsam, lehnt dann an der Thüre und betrachtet eine Weile die emsige Geschäftigkeit der Schwester. Endlich reckt und dehnt sie sich, als stünde sie eben vom Schlafe auf und sagt gähnend:

»Herrgott, wie fad ist das Leben!«

Marie hat eben den von Riedl gespendeten, mit zwei flammenden Herzen bemalten Wasserkrug erhoben, um damit zum Brunnen zu gehen. Nun bleibt sie stehen und sagt kopfschüttelnd:

»Hör' einmal, Lori, Du hast doch wirklich kein Recht, so zu reden.«

»Ich nicht? Und warum? Ist mein Leben vielleicht gar so unterhaltlich?«

32 »Alle Leut' thun ja nur, was sie Dir an den Augen absehn.«

Lori rümpft verächtlich das Näschen und zieht die Mundwinkel herab.

»Das ist erst recht langweilig!« sagt sie im Tone eines verzogenen Kindes.

»Und alle haben Dich gern, alle – und nur Dich!« fährt Marie fort.

»Ein schönes Glück! Bist mir vielleicht neidig drum?«

»Nein. Was geht's mich an?«

»Mich auch nicht. Ich steh' keinem um seine Lieb'!«

»Auch dem Franz . . ., dem Herrn Sturm wollt' ich sagen – nicht?«

»Ihm oder einem andern! Es ist allerweil dieselbe langweilige G'schicht.«

Und wieder reckt sich das junge Mädchen mit einem halb unterdrückten Gähnen. »Was schaust mich denn so spaßig an?« fragt sie nach einer Pause.

»Weil ich nicht glauben kann, daß Du im Ernste so red'st! Der Sturm ist doch nicht so wie die andern! Das weißt Du ganz gut, und er . . . er meint's ehrlich mit Dir!«

»Ehrlich?« lacht Lori zurück. »Das glaub' ich ihm schon! Er möcht' mich heiraten. Soll ich ihm deswegen vielleicht die Hand küssen?«

»Nein, aber Du sollst auch ehrlich sein! Wenn Du ihn nicht magst, so sag's ihm gerad' heraus, damit er weiß, wie er dran ist mit Dir!«

»Das weiß er ja so wie so!«

»Nein, er weiß es nicht! Du lachst, wenn er mit Dir spricht, aber Du sagst nicht Nein, – und dann schaust Du ihn wieder einmal von der Seite an, daß er glaubt, du wirst doch noch Ja sagen.«

33 Lori verschränkt nachlässig die Hände und läßt die Daumen kreisen.

»Vielleicht sag' ich auch Ja, – aber später! Er lauft mir doch nicht davon!«

»Lori!«

»Was ist? Mir scheint gar, Marie, Du bist eifersüchtig!«

Marie stellt den Krug, den sie noch immer in der Hand hielt, rasch auf die Holzbank und macht sich am Herde zu schaffen.

»Von mir ist nicht die Rede, sondern von Dir,« sagt sie rauh, »und es ist gar nicht schön von Dir, daß Du den armen Sturm – –«

»Den armen Sturm!« lacht Lori dazwischen. »Schau, schau, was Du für ein gutes Herz hast!«

»Spott nicht! Er hat mich gebeten, daß ich mit Dir reden soll, – das ist alles.«

»Du sollst für ihn reden? Und warum probiert er's denn nicht selber?«

»Er kommt ja nicht dazu! Wenn er reden will, läufst Du zu der Militärmusik, und da hat er mich gebeten . . .«

»Ah, das war damals!« sagt Lori gedehnt und fährt dann boshaft fort: »Hör einmal, Marie, Du hast Dir's aber lang überlegt, bis Du's ausgeführt hast!«

Marie schweigt eine Weile betroffen. Da sie endlich antworten will, tritt die Mutter aus Frau Sobotkas Thüre und klappert über den Korridor. In der Küche bemerkt sie den leeren Wasserkrug und hebt ein Gezeter an, daß Marie den ganzen Tag mit Schwatzen und Nichtsthun vergeude, statt die dringenden Hausarbeiten zu verrichten. Lori, die das Gezänke nicht leiden kann, nimmt rasch den Krug auf 34 und tänzelt damit in den Hof hinab, wo sie eine geraume Zeit am Brunnen steht und mit einer kleinen rothaarigen Näherin plaudert, die auf der Nebentreppe in einer Dachkammer wohnt und nur zu den Stunden der Mahlzeiten herabkommt, dann aber jede Bekannte, die ihr begegnet, in ein längeres Gespräch verwickelt, denn – »es ist gar so einsam in ihrer stillen Kammer!«

»Die Zunge friert einem ordentlich ein!« klagt sie mit einem wehmütigen Blicke, der für ihre Zudringlichkeit um Entschuldigung bittet.

Für Lori hegt das hagere, ältliche Mädchen eine schier abgöttische Verehrung.

»Wenn ich ein Mann wär',« lächelt sie, so oft sie der jungen Freundin habhaft werden kann, »ich thät' die größten Dummheiten für Sie machen, Fräul'n Lori!«

Lori lacht geschmeichelt und erwidert:

»Schad', daß Sie kein Mann sind, Fräul'n Tini. Die Männer machen ja heutzutag gar keine Dummheiten mehr wegen einen armen Mädel, wie ich eines bin!«

»Heutzutag, – ja freilich! Es ist jetzt eine andere Welt!« stimmt die Kleine seufzend ein. »Zu meiner Zeit hätt' ein junges Mädl, so schön und so lieb wie Sie, nur zu wählen gebraucht unter den flottesten und reichsten Liebhabern! Fürsten und Grafen hätten sich wegen ihr erschossen, . . . ja, so ist es damals zugegangen! Sehen Sie, ich war eigentlich niemals so schön wie Sie, . . . nein, wirklich nicht!« – sie sagt das mit freimütiger Bescheidenheit und legt dabei die Hand mit den dünnen, wund gestochenen Fingern auf die eingesunkene Brust. – »Ich war nur hübsch, ja das schon! Und dann, nett war ich auch, immer nett und appetitlich, wie man sagt! Richtig hat's auch bei mir nicht lang gedauert, bis einer gekommen ist, dem ich in die 35 Augen g'stochen hab'. Das hat dann freilich eine lange G'schicht gegeben, die nicht ganz gut ausgangen ist, aber mein Gott, es ist halt nicht anders in der Welt!«

Lori steht teilnahmsvoll vor ihr. Sie kennt dieses einzige Ereignis im Leben der armen Handarbeiterin sehr genau, denn die Kleine hat es ihr schon an die dreißig male haarklein und mit allen Nebenumständen erzählt, aber sie hört den Fall doch geduldig noch einmal an, um das gute Geschöpf nicht zu kränken.

Es ist die alte, traurige Geschichte von der Liebe zweier Menschen, einer recht schwächlichen Liebe, die in der Stickluft von Armut und Entbehrungen allmählich erstirbt. Der Mann erhascht nach langem Ringen und verzweifelten Kämpfen mit der gemeinen Alltagssorge des Lebens plötzlich irgend ein bescheidenes Glück. Aber sobald er es festhält, verläßt er die Gefährtin der armseligen dunkeln Armutstage, die nun in ihrem Jammer allein zurück bleibt. Das hat Tini vor mehr als fünfzehn Jahren erfahren, aber noch immer nicht verwunden. Ihre Liebe ist nur in den Zweigen abgestorben, mit den Wurzeln ruht sie noch tief im Herzen.

Lori möchte die arme Kleine gerne trösten, allein sie weiß nicht, was sie sagen soll und steht deshalb schweigend, mit zur Seite geneigtem Kopfe vor ihr. Da hebt am untern Ende des großen Hofes eine Drehorgel den neuesten Straußwalzer zu quieken an. Lori wiegt sich erst ein wenig in den Hüften, faßt dann plötzlich die erschrockene Näherin um die Mitte und wirbelt mit ihr lustig um den Brunnen.

Erst nach einer geraumen Weile vermag Tini sich aus der kräftigen Umarmung zu befreien. Sie ringt nach Atem und nestelt zitternd an ihrem Halstuche, das sich ein wenig verschoben hat. Lori klatscht in die Hände.

»Gut geht's, Fräul'n Tini!« lacht sie, selbst ein wenig 36 atemlos. »Sehr gut geht's! Sie müssen einmal eine famose Tänzerin gewesen sein!«

»O, das schon!« keucht die Kleine. »Zu meiner Zeit hab' ich's mit einer jeden aufnehmen können!«

Dabei lächelt sie glücklich vor sich hin, und in ihren matten entzündeten Augen leuchtet die Erinnerung an vergangene, schöne Jugendtage auf.

Noch quiekt und schnarrt drüben die Drehorgel, da kommt Franz in Eile und sichtlicher Aufregung über den Hof. Er stürmt geradewegs auf die beiden Mädchen zu.

»Fräulein Lori!« ruft er noch aus der Entfernung herüber. »Fräulein Lori, ich bringe etwas!«

Lori schlingt einen Arm um Tinis Nacken und flüstert dem glückstrahlenden Mädchen ein Paar Worte zu.

»Nun?« fragt sie mit herablassender Aufmerksamkeit, da Franz endlich vor ihr steht.

»Ich bin Bauführer!« ruft dieser und schwenkt ein Papier über dem Kopfe. Und mit fliegender Hast, als könne er sich's nicht rasch genug von der Seele sprechen, erzählte er, wie das so unverhofft plötzlich gekommen sei.

»Gestern ist der frühere Bauführer weggegangen, weil er mit dem Baumeister einen Streit bekommen hat, und heute in aller Früh hat mir der Herr Wittek die Stelle mit hundert Gulden Monatsgage angetragen! – Hundert Gulden! Das macht zwölf hundert im Jahr, – ein kleines Vermögen!« Er sagt das stolz und glücklich zugleich; da er aber endlich aufblickt, bemerkt er, wie kühl und gleichgültig Lori seine Mitteilung anhört.

»Ja freuen Sie sich denn nicht auch ein wenig mit mir?« unterbricht er sich kleinlaut.

»Ich?« fragt Lori gedehnt zurück. »O ja. Warum nicht? Ich wünsch' Ihnen viel Glück, Herr Sturm.«

37 »Danke, Fräulein Lori! Zwölf hundert Gulden sind schon ein schönes Stück Geld und ich kann jetzt vom Fleck weg heiraten, wenn . . .«

Lori zuckt die Achsel.

»Ist das aber hübsch von Ihnen.« sagt sie spottend. »Da wird sich die Marie freuen. Gehen Sie doch geschwind hinauf zu ihr, ich halt' Sie nicht zurück, – nein, ich gewiß nicht!«

Damit beugt sie sich wieder zu der kleinen Näherin nieder, mit der sie halblaut zu plaudern beginnt, ohne den jungen Bauführer weiter zu beachten. Dieser blickt verblüfft bald auf Lori, bald auf deren Freundin, dann faltet er langsam das Papier und sagt wehmütig:

»Was das nun wieder bedeuten soll, verstehe ich nicht. Ich weiß nur, daß Sie mir eine große und schöne Freude recht gründlich verdorben haben!«

Damit schickt er sich an, den Brunnen zu verlassen. Lori scheint bewegt.

»Was hab' ich denn Böses g'sagt?« murmelt sie.

Franz bleibt stehen.

»Fräulein Lori!« sagt er mit unsicherer Stimme. »Sie thun unrecht, mich so zu quälen; denn es meint es gewiß Keiner rechtschaffener mit Ihnen, als ich. Und wenn Sie mich nur einmal ruhig anhören wollten, so . . .«

»Aber mein Gott, Herr Sturm, ich hör' Sie ja an!« unterbricht ihn Lori mit der harmlosesten Miene. »Ich hab' auch nur gemeint, daß Sie mit Marie reden sollen, weil Sie zu ihr ja doch mehr Zutrauen haben, als zu mir!«

Dabei schmollt sie ganz allerliebst und tippt nach Kinderart mit den Fingern leicht auf die Schulter der kleinen Näherin, die den ganzen Vorgang zwar nicht recht begreift, sich aber doch als Loris Vertraute sehr gehoben fühlt.

38 Franz glaubt jetzt endlich die Erklärung für Loris unfreundliche Stimmung gefunden zu haben. Wäre es möglich! denkt er entzückt. Sollte sie wirklich eifersüchtig sein?!

Und er beeilt sich, das junge Mädchen zu beruhigen. Für Marie fühlt er ja nur aufrichtige Freundschaft, nichts weiter! Sie ist ein braves, verständiges Mädchen, gewiß . . . aber lieben?! Nein, lieben kann er nur eine einzige, die freilich von ihm nichts wissen will und – –

Seine Blicke vollenden den Satz. Lori errötet und entsinnt sich jetzt plötzlich, daß sie oben erwartet werde. Sie nimmt den Krug auf, aus welchem schon lange das Wasser gurgelnd überfließt, und beeilt sich die Treppe zu erreichen. Franz will ihr den schweren Krug abnehmen, sie lehnt es dankend ab, der junge Mann bleibt ihr aber doch zur Seite und steigt mit ihr die Treppe empor.

In der Wohnungsthüre begrüßt er Frau Schober, die sich von seinem »Avansch'man« ganz begeistert zeigt.

»Ich hab's ja immer gesagt!« erklärt sie wohlwollend. »Der Herr Sturm, hab' ich gesagt, ist ein tüchtiger, junger Mann, der es noch zu etwas Ordentlichem bringen wird, – nicht wahr, Lori?«

Das Mädchen nickt und lächelt dem »tüchtigen jungen Mann« zerstreut zu. Franz verbeugt sich wiederholt und ein wenig ungelenk, aber mit glückstrahlendem Gesichte. Frau Schober ladet ihn ein, zum Vater zu gehen, der sich gewiß mitfreuen werde. Allein Franz lehnt sichtlich verlegen ab. Er erzählt rasch, daß er seine Ernennung ganz besonders heiter begehen und sich mit einigen Freunden einen lustigen Abend machen wolle.

»Wir gehen zu den Volkssängern!« fügt er stolz hinzu.

»Zu den Volkssängern!« wiederholt Lori gedehnt. »Sieht die Frau Mutter, zu so einer Unterhaltung komm' ich nie!«

39 Franz hat einen glücklichen Einfall. Er räuspert sich und sagt dann sehr unternehmend:

»Wenn ich mir vielleicht erlauben dürfte, die Damen für heute abend einzuladen . . .?«

Lori klatscht entzückt in die Hände, allein Frau Schober schüttelt zögernd den Kopf.

»Was der Vater dazu sagen möcht'?« meint sie beklommen.

»O, der Vater sagt nicht Nein!« erwidert die Tochter bestimmt und läßt keine weitere Einwendung gelten. Sie fällt der Mutter um den Hals und dankt ihr kurzweg für die Zustimmung, dann bittet sie Franz, die Mutter und sie selbst nur ja recht pünktlich abzuholen.

»Ich freu' mich schon ganz närrisch auf heut' abend!« flüstert sie ihm zu und drückt ihm die Hand. Franz antwortet ungereimtes Zeug, denn er weiß nicht mehr was er spricht; Blick und Händedruck des jungen Mädchens haben ihn vollends verwirrt. Glückstrahlend stürzt er endlich fort.

Frau Schober sieht ihm nach.

»Wirklich ein lieber Mensch, dieser Sturm!« sagt sie zu Lori. »Und in Dich ist er ordentlich verschossen!«

Lori lacht. »Glaubt die Frau Mutter?« scherzt sie. »Die Hauptsach' ist doch, daß wir zu den Volkssängern gehn. Endlich einmal eine Abwechslung, eine Unterhaltung!«

Und wie ein zufriedenes Kind schlägt sie in die Hände, während sie in der engen Küche auf und ab tänzelt. »Ich freu' mich! . . . Ich freu' mich!«

Frau Schober betrachtet sie mit einem glücklichen Lächeln.

»Meiner Seel', – ein Prachtmädl!« sagt sie unwillkürlich vor sich hin.

Lori hört es und antwortet übermütig:

»Ich gerat' halt der Frau Mutter nach!«

»Die Leut' sagen's!« erwidert die Mutter ernsthaft und 40 streicht die grauen Scheitel unter dem Kopftuche glatt. Die Tochter macht sich rasch am Herde zu schaffen und beugt sich tief über das Feuer, um ihr Lachen zu verbergen. Es ist aber auch gar zu komisch, daß die Mutter einen solchen Spaß ernst nehmen kann! Frau Schober fährt indes mit einem tiefen Seufzer fort:

»Mich haben sie zu meiner Zeit auch nur die ›schöne Leni‹ geheißen und meine Mutter hat immer gemeint, es müßt' sich einmal ein Prinz in mich vergaffen und mich heiraten. So hab' ich gewartet und gewartet, – der Prinz hat sich aber ewig nicht anschau'n lassen. Wie dann endlich Dein Vater gekommen ist, . . . Ja richtig, Lori, – mit dem Vater mußt Du reden wegen heut' abend, meinethalben ist's ja nicht!«

»Oh, ich red' schon mit ihm!« ruft Lori lustig und hüpft in die Stube.

Sie weiß dem Vater in der That gar listig beizukommen. Sanft streichelt sie ihm das struppige Kinn, lehnt ihren Kopf zärtlich an seine Schulter und schmeichelt so lange, bis er die erbetene Erlaubnis giebt. Dann lacht sie jubelnd auf, holt die Mutter aus der Küche und zieht sie in die Kammer, deren Thüre sie sorgsam verschließt, denn nun gilt es den Putz für den Abend in stand zu setzen.

Marie hat unterdessen die Stube in Ordnung gebracht und dem Treiben der Schwester kaum einen flüchtigen Blick gewidmet. Da der Vater sie aber ungeduldig anherrscht, ob denn das ewige Putzen und Stauben gar kein Ende nehmen werde, kehrt sie in die Küche zurück, um nach dem Mittagessen zu sehen, das sowohl Lori als die Mutter über der Aussicht auf den heiteren Abend ganz und gar vergessen haben. Es brodelt und zischt in dem Topfe, den Marie geschäftig vom offenen Feuer rückt, wobei sie sich die Finger 41 ein wenig verbrennt und mit einem leisen Schrei die Hand an den Mund führt:

»Au!«

»Das Patscherl verbrannt, Fräul'n Marie?« fragt hinter ihr eine heisere Stimme.

Marie blickt zurück und gewahrt einen Mann von kleiner, aber derber und untersetzter Gestalt, in ziemlich abgerissener Kleidung, der nachlässig an der Thüre lehnt und grinsend nickt.

»Sie sind's, Herr Kumpf!« sagt sie dann, ersichtlich unangenehm überrascht.

»Ja, ich bin's!« erwidert der so unfreundlich Empfangene. »Kann ich den Herrn Vater sprechen?«

Marie sieht ihn eine Weile groß an, da er aber ihren Blick aushält, zuckt sie die Achsel und deutet kurz nach der Stubenthüre. »Der Vater ist drin im Zimmer,« sagt sie trocken.

»Dank' schön!« erwidert der Besucher und tritt langsam in die Küche. Wenn er sich bewegt, merkt man erst, daß er die rechte Schulter etwas höher hält als die linke und das eingebogene rechte Bein ein wenig nachschleppt.

Jetzt nähert er sich dem Mädchen. »Was ist's Fräul'n Marie?« flüstert er vertraulich. »Wollen Sie die alte Geschicht' denn gar nicht vergessen? Bekomm' ich noch immer kein freundliches Gesicht?« Dabei versucht er recht gutmütig liebenswürdig dreinzusehen. Seine breiten Lippen verzerren sich aber nur zu einem häßlichen Grinsen und die kleinen, wässerig blauen Augen blinzeln unter den weißlichen Wimpern lüstern nach der schlanken Mädchengestalt.

Marie erwidert seine Frage durch eine neuerliche Kopfbewegung nach der Thüre.

»Der Vater ist im Zimmer, hab' ich g'sagt!« wiederholt sie mit Widerwillen und wendet sich rasch dem Herde zu.

42 Kumpf nimmt die Mütze ab und geht leise pfeifend zur Thüre.

»Sie werden's noch billiger geben, Fräul'n Marie, – – viel billiger!« sagt er mit einem heiseren Lachen und tritt rasch in die Stube.

Obgleich auch Vater Schober von dem Besuche nicht sehr entzückt scheint, bietet er ihm doch einen Stuhl an und reicht ihm die Hand.

»Das ist schön von Dir, Kumpf, daß Du mir nichts nachtragst und mich einmal heimsuchst!« sagt er merklich verlegen. »Die anderen haben ja alle an mich vergessen wie mir scheint.«

»Ich hab' schon lang einmal nachschau'n wollen, wie's Dir eigentlich geht!« erwidert Kumpf, der auf seinem Stuhle unruhig hin und her rutscht und dabei die Mütze aufs Knie stülpt. »Aber unsereins hat halt so wenig Zeit, Du weißt ja!«

»Und wie geht's denn auf dem Bau?« fragt Schober eifrig. »Zwar Ihr Schlosser kümmert Euch ja doch den blauen Teufel drum, ob der Bau vorwärts geht oder nicht!«

Kumpf zuckt die Achseln, reibt sich das Knie und antwortet langsam:

»Neues giebt's wenig auf dem Bau. Den neuen Polier, den der Baumeister für Dich aufg'nommen hat, den Floderer, . . . kennst D' ja?«

»Natürlich kenn' ich den rotnasigen Floderer!« unterbricht ihn Schober ein wenig ärgerlich. »Na, der wird auch nicht mehr lang Polier sein! In ein paar Tagen bin ich wieder ganz fest auf den Füßen und dann muß der versoffene Kerl halt abmarschieren, basta!«

Der Schlosser schüttelt den Kopf.

»Das glaub' ich nicht!« meint er langsam. »Der Floderer wird schön ruhig bleiben und Du wirst nicht mehr auf den Bau kommen!«

43 Der Polier schnellt, seiner Schwäche ohngeachtet, in die Höhe. »Nicht mehr auf den Bau? Ich?! Wer sagt das?«

»Der Baumeister.«

»Aber der Doktor –«

»Doktor hin, Doktor her! Weißt Du, was der Baumeister sagt? Der Schober kommt mir nicht mehr auf den Bau, denn er ist nur vom Gerüst gestürzt, weil« –

Hier hält Kumpf inne und schlägt anscheinend verlegen wiederholt auf seine Mütze.

»Weil –? So red' doch!« ruft der Polier, der in atemloser Spannung vor ihm steht.

»Weil er betrunken war!« vollendet der Schlosser und erhebt sich langsam.

In der Stube wird es plötzlich mäuschenstille. Frau Schober und Lori, die bei Kumpfs Eintreten leise die Kammerthüre geöffnet haben, um zu sehen, wer den Vater besuche, blicken verblüfft auf den Alten, der wie von einem Faustschlage vor die Stirn getroffen, zurücktaumelt und in den Lehnstuhl sinkt. Kumpf stützt sich auf die Kommode und betrachtet unverwandt die getünchte Decke, von Zeit zu Zeit die Achsel zuckend, als wollte er sagen: Du hast mich ja gefragt! Auch Marie, die inzwischen leise eingetreten ist und geräuschlos den Tisch zu decken begonnen hat, hält jählings in ihrer Arbeit inne, den Blick angsterfüllt auf den Vater gerichtet.

Frau Schober bricht zuerst das Schweigen.

»So ein Unglück hat uns g'rad noch g'fehlt!« jammert sie und führt die Schürze zum Auge. »Erst die lange Krankheit und jetzt keine Arbeit! Jesus und Josef, was soll dann aus uns werden? So red' doch Florian! . . . Ich . . . ich hab's aber immer g'sagt, –«

»Mutter!« ruft Marie bittend, denn der Vater hat sich 44 während der letzten Worte aufgerichtet und das jammernde Weib mit zornentstellter Miene angestarrt.

»Was hast Du g'sagt?« fragt er jetzt dumpf. Und da seine Gattin nicht sofort antwortet, wiederholt er drohend: »Was Du ›immer‹ g'sagt hast, will ich wissen! . . . Du . . . Alte, hör mit dem Flennen auf, . . . das reizt mich nur, Du weißt's!«

Frau Schober weicht erschrocken zurück.

»Ich wein' ja gar nicht!« stottert sie ängstlich und tritt unwillkürlich Schutz suchend hinter Lori.

Der Polier holt tief Atem.

»Gieb acht, Leni!« keucht er, »gieb acht, daß ich Dir nicht am End' noch Grund verschaff' für Deine ewige Heulerei! Ich bin zwar schon ein bißl alt zum Lernen, aber das Trinken treff' ich vielleicht doch noch! Dann kannst weinen und zu den Leuten jammern: Mein Mann ist ein Lump, ein nichtsnutziger Wirtshausbruder! Jetzt aber ist's noch zu früh, merk' Dir das, Du . . .«

»Vater!« ruft Marie bittend dazwischen.

Schober sinkt zurück.

»Nein und tausendmal nein!« beginnt er plötzlich wieder. »Ich kann's nicht glauben, daß der Baumeister so niederträchtig schlecht an mir handeln sollt'! Die Leut' haben mich ja alle gesehen, und müssen's bezeugen, daß ich nicht – betrunken war!«

»Die Leut'?« erwidert Kumpf. »Mein Gott, Du weißt ja wie sie sind. Die trauen sich nicht anders zu reden, als der Baumeister will. Und gegen Dich muß ihn halt wer verhetzt haben!«

»Ich lass' aber nicht nach!« braust der Alte auf. »Von der Genossenschaft muß ich mein Krankengeld kriegen und dann –«

45 »Nichts kriegst!« fällt ihm der Schlosser neuerdings ins Wort. »Der Wiesinger hat die Sach' in seiner Weis' angezeigt und wenn einmal der Baumeister selbst nicht dafür ist, dann ist's mit der Entschädigung schon Matthäi am letzten! Wirst sehen, nicht einen halben Scheinkreuzer geben sie Dir! Probier's nur!«

»Ich probier's auch!« Und der Polier schlägt mit der Faust auf die Lehne seines alten Stuhles, der in allen Fugen kracht.

»Willst mir einen Gefallen thun, Schlosser?« fragt er dann hastig.

»Natürlich! Red nur.«

»Geh hin zu der Genossenschaft und sag: der Schober laßt um seine Entschädigung bitten!«

»Wie Du willst! Gleich nach der Arbeit geh' ich hin.«

»Und bringst mir heut' noch die Antwort?«

»Heut' noch.«

»Ich dank' Dir.«

»Nichts zu danken, es g'schieht gern.«

Der Schlosser reicht dem Polier die Hand zum Abschied. Dieser schlägt ein und fällt dann wieder in sein stummes Hinbrüten. Da Kumpf auch der Frau und den Mädchen die Hand entgegenstreckt, scheinen es Lori und die Mutter, welche leise mit einander sprechen, nicht zu bemerken; Marie wendet ihm gleichfalls den Rücken zu und er muß die Hand wieder sinken lassen. Er nickt kurz, setzt die Mütze auf und trollt sich, einige unverständliche Worte brummend, aus der Stube.

Eine Weile verharren die Zurückbleibenden still auf ihren Plätzen, da aber Vater Schober endlich den Kopf hebt und aller Blicke angsterfüllt auf sich gerichtet sieht, heißt er mit einer Geberde der Ungeduld Marie den Tisch vollends decken und das Essen auftragen.

46 Heute bleibt es freilich unberührt auf den Tellern liegen, die Marie nach einer Weile wieder in die Küche zurückträgt. Da der Vater immer noch finster und schweigsam dasitzt, steht Frau Schober endlich sachte vom Tische auf und drückt sich, vorsichtig nach dem Gatten zurückschielend, aus der Stube.

Auch Lori verläßt den Vater. Sie kehrt in die Kammer zurück, in welcher sie sich aufs neue einschließt und dann mechanisch nach dem halbfertigen Putze für den Abend greift, den sie zuerst mit verdrossener Miene durch die Finger gleiten läßt, allmählich aber eingehender und aufmerksamer betrachtet, bis sie endlich auch die Nadel wieder aufnimmt und hier eine Schleife, dort ein Band befestigt, – immer noch die Stirne in krause Falten gezogen und um die Lippen den schmollenden Ausdruck eines ärgerlichen, verzogenen Kindes. Nach und nach vertieft sie sich in die angenehme Arbeit und vergißt über dem Nähen und Putzen die bitterböse, letzte Stunde. Dagegen tritt der nahende Abend immer deutlicher vor ihren Blick. Sie sieht sich in den Saal treten und mitten unter den fröhlichen Menschen, die da schwatzend und lachend im strahlenden Lichterglanze beisammensitzen, an der Seite ihrer Mutter Platz nehmen. Ei, wie sie gucken und zischeln! . . . Der hübsche Blondkopf dort mit dem feinen Schnurrbarte und dem Zwicker auf der Nase, ist gewiß ein vornehmer junger Mann . . . und der andere, der mit den tiefschwarzen Augen, die so unverwandt herüber brennen, der muß mindestens ein Graf sein, wenn nicht gar ein Fürst, der jeden Augenblick bereit ist, für eine schöne lustige Wienerin irgend eine tüchtige Dummheit zu begehen! . . .

Immer flinker stichelt die Nadel, immer zärtlicher fährt die Hand über den weichen Wollenstoff hin . . . Und auf 47 diese einzige Gelegenheit zu einer kleinen Unterhaltung, zu einer Unterbrechung des trostlosen Einerlei's ihres alltäglichen Lebens zu kommen sollte sie nun verzichten müssen, weil . . . Ja weshalb denn eigentlich? Weil der Vater seine Arbeit bei Wiesinger verloren hat? Mein Gott, das ist freilich traurig und wer weiß, was für eine trübe Zeit ihr und den anderen noch bevorsteht, aber gerade deshalb kann es ihr niemand verdenken, wenn sie sich vorher rasch noch einmal ein wenig zerstreut! Es kostet den Vater ja nichts, Franz zahlt alles! Der gute Sturm! Auch ihn darf man nicht so tief kränken und zuerst seine Einladung annehmen, um ihn zuletzt doch allein gehen zu lassen! Nein, das wäre ganz und gar ungehörig.

Dem Vater wird's nicht recht sein! Natürlich, – er hat keinen Sinn für Lustbarkeit und Vergnügen. Er ist eben alt und krank . . . und verdrießlich! Zu seiner Zeit wird er gewiß auch anders gedacht haben! Und dann, – hilft denn das ewige Jammern etwas? Wird der Baumeister den Vater wieder aufnehmen, wenn sie nicht zu den Volkssängern geht? Nein, es hat wahrhaftig keinen Sinn, sich das bißchen Vergnügen zu versagen.

Lori beugt sich tiefer über die Arbeit. Ein unbestimmtes Hoffnungsgefühl, als müsse der heutige Abend irgend eine Wendung in ihr einförmiges Leben bringen, erfüllt sie.

»Ach was!« sagt sie vor sich hin, eine lange Gedankenreihe unwillig abschließend. »Sie sollen alle reden was sie wollen, . . . ich geh doch!«

Ein Lächeln spielt jetzt um ihre Lippen, die sich ein wenig öffnen, als wollten sie schon den Genuß der kommenden Abendstunden einfangen. Und allmählich beginnt sie ihren heiteren Refrain vom Morgen wieder zu summen. Anfänglich noch leise und schüchtern, tönt er bald lauter und kecker durch die enge Kammer: 48

»Vorwärts mit frischem Mut,
Lieb' ist mein Panier!. . . .«

In der Stube nebenan beginnt die Kohlmeise zu flattern und zu pfeifen. Vater Schober, der immer noch gesenkten Hauptes in seinem Lehnstuhle sitzt, blickt nur von Zeit zu Zeit auf, um nach der Stockuhr zu sehen. Will es heute gar nicht Abend werden?! Wie träge die Viertelstunden hinschleichen!

Der verteufelte Vogel mit seinem unaufhörlichen Gequieke! Schober erhebt sich langsam und tritt zum Fenster.

»Diu–di–i!« pfeift die Meise und flattert lustig auf und nieder.

»Wirst endlich aufhören?« grollt der Alte und wirft zornig ein Tuch über das Bauer. Die Kohlmeise schweigt, aber nebenan schmettert die helle Mädchenstimme immer lustiger ihr:

»Vorwärts mit frischem Mut!«

Der Polier nickt ingrimmig mit dem struppigen Kopfe. »Sie kann singen!« murrt er. »Ach, die Weiberleut' . . . sie taugen alle nichts!«

Dann geht er langsam durch die Stube, rückt hier einen Stuhl zurecht, zerrt dort an der Bettdecke, bis er schwerfällig niedersitzt. Stunde um Stunde schleicht dahin; nun dunkelt es, der Abend bricht trübe herein. Der lustige Refrain in der Kammer ist verstummt, die Thüre wird vorsichtig geöffnet und Lori blickt in die Stube. Vater Schober drückt sich tief in seinen Lehnstuhl und das Mädchen schleicht auf den Fußspitzen an ihm vorbei in die Küche. Nach einer Weile kommt die Mutter durch die Stube. Sie hat die schiefgetretenen Pantoffel über Anraten Loris in der Küche stehen lassen, um den vermeintlich schlafenden Gatten nicht zu wecken. In der Kammer kleidet sie sich rasch um, nimmt dann die guten 49 Schuhe, die ihr Lori bereit gestellt hat, in die Hand und schlürft, wie sie kam, auf den Wollenstrümpfen wieder durch das dunkle Zimmer.

Vater Schober blinzelt ihr nach.

»Geh zu!« brummt er, da sie die Thüre hinter sich ins Schloß zieht. Dann hört er draußen eine Männerstimme, die gedämpften Tones mit den Frauen spricht. Das ist der junge Sturm, er erkennt ihn wohl.

Wie, wenn er ihn befragte, ob es denn wirklich wahr sei, was Kumpf von der Niedertracht des Baumeisters mitgeteilt hat? Gewiß, Sturm soll ihm bestätigen, daß – –

Schon hebt er den Kopf und stützt die Hand auf die Stuhllehne, allein er steht nicht vollends auf, der Kopf sinkt zurück und der Arm fällt schlaff herab.

Soll er sich am Ende von dem Guckindiewelt wiederholen lassen, daß er seit Wochen als ein ausgemachter – – – Trunkenbold gilt?! Nein, nicht um alles möchte er es noch einmal hören! . . . Der junge Mann ist freilich eine gute ehrliche Seele, ihm könnte man vertrauen, – – unbedingter als dem Schlosser, der vielleicht doch – – ! Ach was, ehrliche Seele! Er hat sich in die Lori vergafft, das ist seine ganze Ehrlichkeit! Die Menschen sind alle falsch . . . alle!

Draußen verlassen Frau Schober und Lori eben den Korridor. Franz folgt ihnen mit einer Miene, in der sich Stolz und Befangenheit bekämpfen. Das giebt einen wunderlich komischen Ausdruck, den Lori zum Glück nicht bemerkt, sonst würde sie ihrem Verehrer ins Gesicht lachen. Die Nachbarinnen stehen an der Treppe, geben allerlei Ratschläge und wünschen gute Unterhaltung. Marie bleibt daheim. Sie hat dem jungen Bauführer, der auch sie einladen wollte, mit 50 einem verwunderten »Ich?« geantwortet und dann ruhig hinzugefügt:

»Der Vater kann ja doch nicht allein bleiben, heute am allerwenigsten!«

Darauf hat niemand mehr von ihrem Mitgehen gesprochen, aber die Mutter hat ihr einen zornigen Blick zugeworfen, als Antwort auf den Vorwurf, den sie aus den letzten Worten herausfühlte, und Lori hat achselzuckend erwidert:

»Sollen wir uns vielleicht alle um ihn herumsetzen und flennen? Er ist viel lieber allein.«

Nun sind sie fort. Die Nachbarinnen bleiben noch eine Weile plaudernd beisammen stehen, dann wird es allmählich still auf dem Korridore.

Marie sitzt in der Küche und führt bei dem flackernden Flämmchen eines kleinen Talglichtes fleißig die Nadel. Wiederholt ist es ihr, als schleiche eine lange Gestalt an dem verhängten Küchenfenster vorbei, von Zeit zu Zeit glaubt sie auch das Schlürfen von vorsichtigen Schritten zu vernehmen, – aber sie täuscht sich wohl, wer sollte um diese Stunde wie eine Schildwache vor ihrer Thüre auf- und abgehen? Gewiß, – sie täuscht sich, und sie unterbricht deshalb auch gar nicht ihre Arbeit, um nachzusehen.

Der Vater kommt immer häufiger aus der dunkeln Stube in die Küche und blickt mit wachsender Ungeduld nach der Wohnungsthüre. Schon halb acht Uhr und dieser Kumpf, der noch immer nicht kommen will!

Marie beobachtet heimlich des Vaters Unruhe, seine fiebernde Ungeduld, und seufzt dabei leise. Endlich nähert sich ein schwerer, schleppender Schritt von der Stiege her. Der Polier hat ihn gehört und steht erwartungsvoll still.

Die Thüre wird langsam geöffnet und Kumpf tritt ein.

51 »Nun was, ist? Warst D' bei der Genossenschaft?« hastet ihm Schober entgegen.

»Natürlich war ich dort!« erwidert Kumpf ruhig.

»Und ich bekomm' meine Entschädigung?«

»Wird sich hart machen!« lacht der Schlosser in seiner rauhen Art und zieht die rechte Schulter noch höher als gewöhnlich. »Sind recht feine Herren da beisammen in der Genossenschaft! Im Buch haben sie nachg'schaut und dann dasselbe wiederholt, was schon der Baumeister g'sagt hat: der Schober war betrunken – aus ist's!«

Der Polier stiert ihn, keines Wortes mächtig, lange an. Sein gefurchtes Gesicht ist kreidebleich geworden und seine derben Hände zittern.

»Also . . . sie bleiben dabei, daß ich . . . betrunken war?!« zischt er endlich zwischen den geschlossenen Zähnen hervor.

»Ja, fest bleiben sie dabei!« wiederholt Kumpf anscheinend gleichmütig, steckt die Hände in die Taschen und klimpert mit ein paar Geldstücken.

Der Alte lacht plötzlich auf.

»Recht sollen sie haben!« schreit er und fuchtelt mit den Händen durch die Luft. »Und wenn der Schober schon durchaus ein betrunkener Kerl sein muß, so sollen sie's wenigstens nicht ohne Grund sagen! Komm, wir gehn jetzt gleich in ein Wirtshaus und trinken . . . und trinken!«

Er muß sich auf die Herdbank stützen, um nicht zu Boden zu sinken. Aber er überwindet die Schwäche, rafft sich auf und schwankt in die Stube.

»Meinen Hut!« ruft er mit heiserem Lachen. »Ich geh ins Wirtshaus!«

Marie ist aufgesprungen. »Aber Herr Vater,« mahnt sie ängstlich. »Sie wollen doch nicht im Ernst ausgehen, . . . Jetzt . . . und ins Wirtshaus?!«

52 Der Vater schnauzt sie an:

»Willst Du mir vielleicht vorschreiben, was ich thun darf? Bleib mir vom Leib' oder . . .« Und er erhebt drohend die Hand. Aber Marie weicht trotzdem nicht von der Stelle.

»So denken Sie doch nur, was der Doktor gesagt hat!« beginnt sie von neuem.

»Was Doktor? Ich pfeif' auf den Doktor! Ins Wirtshaus geh ich und trink', bis sie mich z'Haus tragen, damit's doch wahr ist, was der Herr Baumeister sagt, – daß ich ein versoffener Lump bin!«

Damit stülpt er den Hut auf und kehrt in die Küche zurück. »Komm!« sagt er kurz zu dem Schlosser, der das Treiben des Poliers mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgt, obgleich er scheinbar gar nicht darauf acht hat und leise einen Gassenhauer pfeift.

»Vater!« schreit Marie, sich an den Arm des Alten klammernd.

Dieser schüttelt sie ingrimmig ab.

»Schweig, sag' ich, oder, meiner Seel', ich vergreif' mich an Dir!«

Und abermals hebt er die Hand, indes er mit festem Schritte dem Ausgange zuschreitet.

Kumpf folgt ihm langsam. Allein Marie springt mit einem Satze vor die Thüre, dem Vater mit ausgestreckten Armen den Weg wehrend.

»Ich lass' Sie nicht fort, Herr Vater!« keucht sie.

Vergebens. Ein zornmütiger Stoß schleudert sie zur Seite, – die Thüre ist frei. – –

Da Marie die erste Betäubung von sich abschüttelt und mechanisch die schmerzende Achsel betastet, ist der Vater mit dem Schlosser bereits verschwunden, – dennoch ist sie nicht 53 allein. Herr Riedl steht vor ihr, unter dem Arm wie stets seine alte Geige im grünen, verschlissenen Futteral, und in der Hand seinen breitkrämpigen Filzhut, den er jedoch hastig von sich schleudert, um das bleiche, zitternde Mädchen, dem plötzlich die Kniee versagen, zu stützen und zur Holzbank zu führen, wo Marie niedersitzt. Dabei fragt er nicht, was vorgefallen ist, sondern betrachtet sie nur mit einem Blicke schmerzlicher Teilnahme. Es dauert eine geraume Weile, ehe sie sich so weit erholt hat, um dem Geiger danken zu können; sie reicht ihm stumm die Hand, die er nur leise und wortlos zu berühren wagt.

Endlich bricht der Geiger doch das drückende Schweigen. Erst halblaut und zagend, dann immer deutlicher und kühner erhebt er eine schwere Anklage gegen Mariens Eltern und gegen Lori, die er insgesamt der schmählichsten Herzlosigkeit zeiht, und das in so heftigem, von tiefinnerster Entrüstung zeugendem Tone, daß Marie ihn anfänglich fortsprechen lassen muß, ohne seiner zornsprudelnden Beredsamkeit Einhalt thun zu können. Er hört ihre erste Abmahnung auch gar nicht. Der stille, ängstliche Geiger, der sonst kaum fünf zusammenhängende Worte hervorzustottern wagte, wenn er vor Marie stand, hat plötzlich alle Bangigkeit abgeschüttelt. Er streicht die wirren Haare aus der Stirne und fährt mit dem freien Arme kreuz und quer durch die Luft.

»Eine Schand' ist es!« eifert er, »das sag' ich . . . ich! Und wenn mir da einer widersprechen will, so soll er's nur probieren, ich will ihm schon die Wahrheit beibringen, daß er zeitlebens dran denkt! . . . Alle Arbeit, alle Müh' und Plage haben immer nur Sie, die andern rühren keinen Finger und quälen Sie nur noch, wo sie können! Ist das recht? Ist das christlich? Schämen sollen sie sich – ja schämen! Der Herr Vater, die Frau Mutter, – oh die 54 Frau Mutter schon gar! –und auch die Fräul'n Lori! Alle lassen sich von Ihnen bedienen, wie von einem Dienstboten, – von Ihnen, die zehntausendmal besser ist und braver und tüchtiger, als sie alle miteinander! Keinen Funken Gefühl haben sie und keine Ehr' im Leib, wenn . . .«

Hier unterbricht ihn Marie allen Ernstes.

»Herr Riedl!« sagt sie streng, indem sie sich aufrichtet und ihm mit der Hand Schweigen gebietet. »Keine solchen Reden mehr, ich bitt' mir's aus! Über meine Leut' darf niemand so despektierlich sprechen – hören Sie? Niemand! . . . Und jetzt gute Nacht, es ist schon spät.«

Sie hat die letzten Worte unwillkürlich freundlicher gesprochen, denn Riedl blickt sie mit Eins wieder so verzagt und ratlos an, daß sie den allzu strengen Ton fast bereut. Dahin ist aller Mut, alle Beredsamkeit des Geigers. Wie ein bestrafter Schuljunge steht er vor dem jungen Mädchen, senkt den Kopf und versucht eine Entschuldigung zu stammeln. Aber er vermag es nicht mehr. Beschämt und fassungslos verbeugt er sich endlich und sucht die Thüre zu gewinnen, ohne den Blick noch einmal zu erheben. Aber während er rückwärts schreitend die Küche verlassen will, strauchelt er an der überhöhten Schwelle, tappt verwirrt nach der Thürklinke und läßt dabei seine Geige fallen.

Wie ein sanfter Klageton seufzt es durch die Saiten des Instrumentes, das der Geiger behutsam vom Boden aufhebt und ängstlich betrachtet.

»Gott sei Dank, es ist ihr nichts geschehn!« sagt er dann erleichtert aufseufzend, und als spräche er zu einem kranken Kinde, fügt er zärtlich hinzu.

»Arme Geig'n!«

Marie muß lächeln.

»Ich hab's ja nicht so bös gemeint!« sagt sie freundlich. 55 »Und wenn Sie von meinen Leuten nicht wieder schlecht reden wollen, so können Sie schon noch ein bißl dableiben!«

Riedl dankt mit einer linkischen Verbeugung. Marie nimmt seufzend ihre Arbeit wieder auf und er sieht ihr eine Weile schweigend zu. Ob er ihr vielleicht etwas vorspielen dürfe? fragt er endlich schüchtern.

Sie nickt zustimmend. Hastig reißt er das Futteral von dem Instrumente, stimmt rasch und beginnt nach kurzer Überlegung eine einfache, rührende Melodie. Ein altes Volkslied ist es, das von der verachteten Liebe eines Musikanten handelt, – sein Lieblingslied.

Er spielt es mit schlichter, ergreifender Innigkeit. Da er zum Schlusse kommt, vermag er den Bogen kaum mehr zu führen.

»Und die Saiten sind g'sprungen
Und das Liedl war aus . . .«

Der letzte Ton verklingt. Riedl senkt die Geige und starrt wehmutsvoll vor sich hin. Da reicht ihm Marie die Hand.

»Ich dank' Ihnen!« sagt sie einfach. »Das war schön. Sie sind doch ein guter Mensch, Herr Riedl!«

Der Geiger würgt an einer Antwort, vermag aber keine Silbe über die Lippen zu bringen. Statt zu sprechen, setzt er plötzlich die Geige noch einmal unters Kinn und hebt einen Walzer zu spielen an, so laut, so lustig, so jubelnd, wie er dem alten, braunen Kasten noch keinen entlockt hat.

Mit einem wehmütigen Lächeln horcht Marie den verlockenden Tönen, die wie ein harmloser lieblicher Kinderreigen anheben, dann aber immer heller und fröhlicher aufjauchzen, immer bunter durcheinander wogen und endlich mit süßem, verführerischem Locken durch den engen Raum singen und klingen, als müßten sie selbst die weiße Holzbank und den wackligen Küchenstuhl zum Tanzen fortreißen.

56 Während Marie trotz ihrer trüben verzagenden Stimmung mit steigender Aufmerksamkeit dem jubelnden Gesange der Geige folgt, ja unwillkürlich sogar mit den Füßen den Takt schlägt zu den wienerischen Weisen, die sich so anheimelnd ins Gehör schmeicheln, huschen leise Schritte über den Korridor und halten vor der Schoberschen Wohnung still. Weder Marie noch der Geiger hören das schüchterne Pochen, das nun folgt. Wieder vergehen einige Minuten; immer hurtiger fliegt der Bogen über die Fiedel, immer lustiger tanzen die wirbelnden Töne aus dem kleinen Instrumente in die stille Nacht hinaus, da wird die Thüre langsam und vorsichtig geöffnet, der Walzer reißt jählings ab, Marie springt erschrocken auf, – Fräulein Kathi, die alte Tänzerin, steht auf der Schwelle.

Der Geiger begrüßt seine Freundin und Beschützerin nicht ohne merkliche Verlegenheit, Marie streckt ihr jedoch mit unbefangenem Lächeln die Hand entgegen. Kathi will nicht stören; im Gegenteil, sie ist nur gekommen, um den »gar so viel schönen« Walzer besser zu genießen.

»Ich hab' die Geig'n bis in meine Kammer hinein singen gehört und nicht einschlafen können,« lächelt sie. »Ich schlaf' zwar so wie so nie viel wegen dem Husten, der immer g'rad in der Nacht am boshaftesten ist, aber wie der Walzer ang'hoben hat, da hat's mich nicht mehr allein gelitten, ich bin aufg'standen, hab' in aller Still' das Tüchl da umg'worfen und bin endlich herausg'schlichen. So ein Walzer hat halt eine eigene Kraft in sich, ich muß ihm nach, ob ich will oder nicht! Ich mein, wenn ich einmal tief unter der Erden in der Gruben lieg', und sie spielen so einen feschen Walzer auf meinem Grab', – ich muß heraus und mittanzen wie die Geister um Mitternacht!«

Da die beiden sie unwillkürlich mitleidsvoll anblicken, lacht sie gutmütig und ersucht dann den Geiger fortzufahren.

57 »Bitt' schön,« sagt sie, »spielen S' einmal meinen Lieblingswalzer, den: »Du schöner Mai, vorbei, vorbei!« – das heißt, wenn die Fräul'n Marie nichts dagegen hat.«

Marie hat nichts dagegen, und Herr Riedl setzt die Geige gehorsam aufs neue an. Die alte Tänzerin legt die Hand auf die schmerzende Brust und horcht andächtig. Welch' bunte Reihe von Erinnerungen steigt auf den Schwingen des Walzers vor ihr auf! Die wunderherrliche Jugendzeit, die frohen Abende, die tollen Nächte, – ach, nur ein einziges Mal wieder jung sein! Als sie es war, da wußte sie gar nicht, welchen Schatz sie an ihrer Jugend besaß. Sie taumelte blind ins Leben hinein und genoß wahllos, was von Genüssen just am Wege stand. Heute verstünde sie es freilich besser, heute ist es aber zu spät.

»Du schöner Mai,
Vorbei, vorbei!« . . .

Sie faßt die Hand des jungen Mädchens, das traumverloren neben ihr sitzt und drückt sie an ihr hochklopfendes Herz.

Marie erwacht aus dem schwermütigen Hinbrüten, das sie wieder überkommen hat, und blickt liebevoll auf die alte Tänzerin nieder.

»Was ist Ihnen, Fräul'n Kathi?« flüstert sie besorgt, »haben S' wieder so schlimme Schmerzen?«

»Nein, o nein!« zittert es zurück, »ich denk' nur so an die vergangenen Zeiten.« 58

 


 


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