Carl Karlweis
Wiener Kinder
Carl Karlweis

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Zehntes Kapitel.

Daheim wird es still.

Seit Frau Schober ihren Gatten und das Freihaus verlassen hat, sind wieder einige Wochen verstrichen. Dennoch ist dieser denkwürdige Vorfall noch immer der Gegenstand lebhafter Erörterungen von Seite der Nachbarinnen, welche demselben stets neue Seiten abzugewinnen wissen. Zunächst hat die Amtsdienersgattin, die sich nicht wenig darauf zu Gute thut, bei dieser Gelegenheit eine thätige, ja nach ihrer Ansicht geradezu entscheidende Rolle gespielt zu haben, eine ungemein detaillierte Darstellung des Sachverhaltes ausgearbeitet, welche bei den zahlreichen Wiederholungen in den verschiedensten Kreisen der weiblichen Bevölkerung des Freihauses nach und nach dramatische Lebendigkeit gewonnen hat. Freilich entsprechen die kleinen Einzelnheiten nicht mehr ganz genau dem thatsächlichen Verlaufe des Vorfalles, aber wer wollte Frau Sobotka deshalb zur Rechenschaft ziehen? Und – was ihr die Hauptsache scheint – wer könnte es auch, da sie selbst ja doch die einzige Zeugin ist?! So spielt sie ruhig und sichtlich vergnügt Geschichte, webt einen Sagenkreis um das große Ereignis des Korridores und läßt ihre liebe Freundin Schober immer mehr und mehr im Lichte einer bewunderungswürdigen Heldin und Märtyrerin 291 erscheinen. Sich selbst vergißt die Amtsdienersgattin dabei keineswegs, sondern weiß ihre Verdienste um die große Sache insbesondere bei der letzten, entscheidenden Begegnung mit dem Polier ganz entsprechend in den Vordergrund zu rücken.

Vater Schober selbst erhält von diesen wirkungsvollen Schilderungen seiner häuslichen Zerwürfnisse allerdings nicht die leiseste Andeutung. Sowohl er als Marie werden von den Nachbarinnen mit beleidigendster Nichtachtung behandelt, scheinen dies aber gar nicht zu bemerken. Diese unerhörte Gleichgültigkeit gegen einen Urteilsspruch des Korridores, ja des ganzen Hofes, heischt strenge Strafe. Sie folgt denn auch auf dem Fuße. Insbesondere Marie muß die Feindseligkeit der Nachbarinnen bei jedem Anlasse deutlich empfinden. Kommt sie zum Brunnen um Wasser zu holen, so schließt sich der Kreis plaudernder Frauen und Mägde, der sich dort meist versammelt findet, sofort enger und alle Blicke richten sich mit nicht mißzuverstehendem Ausdrucke der Verachtung auf das junge Mädchen.

»Sie ist allein an dem ganzen Unglück schuld!« sagt dann wohl eine oder die andere Nachbarin so laut, daß Marie es hören muß. Allein zum Verdrusse der Weiber thut das Mädchen, als habe es nichts vernommen, wartet ruhig, bis der Krug sich gurgelnd gefüllt hat, und kehrt dann nach der Wohnung zurück. Diese hat ein völlig verändertes Gepräge erhalten. Strenge Ordnung und Sauberkeit herrschen in den engen Räumen, die jetzt nur selten ein lautes Wort durchschallt.

Ohne eigentliche Verabredung hat sich ein fester Hausbrauch gebildet, dem sich Vater Schober mit großer Gewissenhaftigkeit unterwirft.

Dem alten Manne thun Ordnung und Ruhe in gleicher Weise wohl. Am frühen Morgen sitzt er der Tochter gegenüber in der hellen Stube, verzehrt langsam das vorgestellte 292 Frühstück und richtet dabei ab und zu ein Wort an Marie, welche seine kurzen Fragen oder Bemerkungen knapp und klar beantwortet. Beide sprechen zumeist wohl nur von gleichgültigen Dingen, aber die gedämpften Stimmen, die Blicke, welche ihre Reden von Zeit zu Zeit begleiten, sagen deutlicher, inniger als alle Worte es vermöchten, wie glücklich sich beide in ihrem stillen, behaglichen Heim fühlen, und wie herzlich dankbar sie einander dafür sind. Marie hat den Vater nach und nach ein ganz klein wenig unter ihre Botmäßigkeit gebracht. Doch merkt er das nicht, denn sie weiß ihm diese leichte Abhängigkeit gar traulich und angenehm zu machen. So rückt sie des Abends stets seinen breiten Lehnstuhl an den Tisch, zündet die Lampe an und fordert dann den heimkehrenden Vater, dem diese Behaglichkeit gar verlockend winkt, mit harmloser Miene auf, doch lieber ein wenig ins Wirtshaus zu gehen, wo er bessere Zerstreuung und lustige Gesellschaft finden werde. Die kleine Heuchlerin weiß sehr wohl, daß sie damit der geheimen Absicht des Vaters nur zuvorkommt. Der Polier will ihr auch wirklich folgen und läßt sich nur einen Augenblick nieder, um nach der schweren Arbeit des Tages ein wenig auszuruhen. Allein da ist Marie auch schon flink mit dem Hausrocke bei der Hand, hilft dem Vater in die bequemen Schuhe, reicht ihm die Pfeife und zündet den Fidibus an. Ein paar Züge, ein Blick auf das stille,. freundlich lächelnde Gesicht der Tochter, – und der Vater ist gefangen, er bleibt daheim. Allmählich wird ihm das zur Gewohnheit, immer wieder sucht sein Blick die klugen, liebevoll auf ihn gerichteten Augen der Tochter, und wo er diesen nicht begegnet, vermag sich der alte Mann nicht mehr recht heimisch zu fühlen. Etwas fehlt ihm dann, eine peinigende Unruhe überkommt ihn. Ihm ist's, als tauche dann die vergangene Zeit wieder auf, die er mit aller Anstrengung zu vergessen bemüht ist.

293 An einem jener traulichen Abende, da Marie ihm wieder still geschäftig gegenüber sitzt, eifrig die Nadel führt und mit ein wenig erlogenem Interesse nach dem Fortschreiten seines Baues fragt, sieht der Polier sie in tiefes Sinnen versunken lange an, überhört ihre Frage und seufzt plötzlich:

»Wär' Deine Mutter wie Du g'wesen, Marie, – manches wär' heut anders!«

Es ist das erstemal, daß er von der entlaufenen Mutter spricht. Marie blickt denn auch mit freudigem Erstaunen auf. Wie oft hatte sie der Mutter gedenken und einer Versöhnung der entzweiten Eltern das Wort reden wollen. Allein schon der erste Versuch hatte ihr eine strenge, fast drohende Mahnung von Seite des Vaters zugezogen.

»Von der Mutter und von dem verlorenen Geschöpf, der Lori, red' ich nicht mehr und will auch nichts von ihnen hören. Merk Dir das ein für allemal!« Der Polier hatte dies so bestimmt und mit so mühsam unterdrücktem Zorne ausgesprochen, daß Marie, ob sie den Vater auch sonst nicht mehr fürchten mußte, doch erschrocken schwieg und seither nicht wieder wagte, ihren Bitten und Wünschen lauten Ausdruck zu geben.

Auch jetzt sagt ihr sein Blick, daß er die unbedachte Äußerung schon wieder bereue und keine Antwort wünsche. Ehe sie eine solche übrigens aussprechen kann, hat er bereits rasch von seinem Baue zu erzählen begonnen, und Marie muß mit einem stillen Seufzer schweigend ihre Arbeit wieder aufnehmen.

Aber sie vermag sich doch nicht vollständig zu beherrschen. Die einmal angeregten Gedanken spinnen unaufhaltsam weiter, und ehe Marie sich's versieht, stehen ihre Augen voll Thränen. Der Vater bemerkt es wohl. Er beißt sich in die Lippen und steht geräuschvoll auf.

»Ich will einmal nichts mehr von ihr hören; nichts von 294 ihr und nichts von – – von der anderen!« sagt er heftig. »Also red' nicht –!«

Hier blickt ihn Marie bittend an.

. . . »Auch nicht mit den Augen!« fügt er hastig hinzu und wendet sich ab.

An diesem Abende wird zwischen Vater und Tochter kein Wort weiter gewechselt, selbst der gewohnte Nachtgruß erstirbt zu einem stummen Nicken. Am nächsten Morgen, da die kleine Stockuhr auf der Kommode schnarrend die sechste Stunde verkündet, ergreift der Polier wie gewöhnlich seinen Hut, um nach dem Bauplatze zu gehen. Dabei blickt er das ernste junge Mädchen, welches schweigend am Tische steht und das Frühstücksgeschirr abräumt, von der Seite fragend an. Er möchte ihr ersichtlich gerne ein gutes, versöhnendes Wort sagen, ehe er das Haus verläßt, aber er findet keines. Endlich geht er langsam auf die Tochter zu, faßt sie am Kinn, hebt zärtlich den feinen Kopf in die Höhe und küßt sie stumm auf die Stirne. Dann verläßt er rasch, als schäme er sich der allzu weichherzigen Regung, die Stube und tritt den alltäglichen weiten Weg nach der Erdbergergasse an.

Marie hantiert noch eine Weile in Stube und Kammer. Der Schimmer eines Lächelns liegt auf ihrem leicht geröteten Gesichte. Wie herzensgut der Vater im Grunde doch ist! Noch fühlt sie, wie seine Lippen ihre Stirne berührten, und trägt den Kopf unwillkürlich höher als sonst. Die Arbeit, zu der sie sich dann in der Stube einrichtet, geht ihr heute doppelt flink von der Hand. Die Kohlmeise zwitschert dazu vergnügt, der leichte Morgenwind spielt ihr schmeichelnd um Haar und Nacken. So still ist es um sie her, so still und einsam . . .

In den letzten Wochen ist sie tagsüber fast immer allein und freut sich der traulichen Stille täglich aufs neue. Ihr 295 Verkehr beschränkt sich jetzt auf die alte Freundin Kathi, die jedoch seit einiger Zeit nur mehr selten ihre Wohnung verlassen kann. Der böse Husten stellt sich insbesondere in den Morgen- und Abendstunden so heftig ein, daß die Tänzerin immer wieder meint, nun müsse sie doch endlich »alle Sünden abgebüßt« haben. So klagt sie mit versagender Stimme dem jungen Mädchen, das sie mehrmals täglich aufsucht und dann geduldig stundenlang an dem Krankenlager der Ärmsten sitzt. An jedem Morgen bringt jetzt Marie der Freundin, wie vordem diese ihr, irgend ein kleines Geschenk vom Markte heim, heute eine Blume, morgen eine Orange oder ein Naschwerk, das die Tänzerin besonders liebt. Die mageren, durchsichtigen Finger der Kranken drücken dann dankbar die Hand der lieben Spenderin. Dabei ist Fräulein Kathi doch immer wieder voll froher Hoffnungen auf eine baldige Genesung.

»Das ist jetzt der Übergang!« erklärt sie mit rührender Überzeugung. »Wenn ich den erst überstanden hab', dann werd' ich wieder ganz gesund! . . . Ganz gesund!«

Ihre schwache Brust hebt und senkt sich nur mühsam, die Stimme klingt hohl und heiser, zwischen jedem Worte rasselt ein schwerer Atemzug. Marie muß sich oft abwenden, um ihre Thränen zu verbergen, wenn die alte Freundin von ihrer nahen Herstellung spricht. Doch bezwingt sie sich tapfer und geht anscheinend heiter auf die Pläne ein, welche die Tänzerin für die Zukunft entwirft, in der diese »noch einmal jung werden und recht, recht lustig ihr Leben genießen« will.

Hat Marie das Krankenlager endlich verlassen und sich in ihre stille Stube zurückgezogen, so nimmt sie dort hurtig ihren Platz am Fenster wieder ein und sucht die verlorene Zeit durch emsige Arbeit hereinzubringen. Aber ihre Gedanken huschen doch über den Stickrahmen hinweg, verweilen anfänglich noch ein wenig bei der armen Freundin, wandern dann 296 allmählich weiter, tasten bald hierhin bald dorthin, suchen heimlich und trauernd Mutter und Schwester, deren neuen Aufenthalt Marie nicht einmal kennt, belauschen den Vater auf dem Bauplatze und kehren endlich nach dem Korridore zurück, wo sie mit eins gar heiter zu werden scheinen, denn um die Lippen des ernsten Mädchens spielt plötzlich ein leises Lächeln, das langsam über die Wangen hinschleicht, sich dort in zwei winzigen Grübchen behaglich einnistet und von hier aus sogar bis zu den Augen emporzüngelt, aus welchen es bald gar munter in die Welt guckt.

Marie hat des jungen Konzertmeisters gedacht, und ihre stille Heiterkeit gilt dem drolligen Aufzuge, in welchem er sich vor wenigen Tagen von ihr verabschiedete. Denn Herr Riedl hat seine Wohnung bei Frau Stölzl und das Freihaus verlassen. Freilich gar trüben Herzens, wie es schien. Auch Marie empfindet es als einen Verlust, daß Riedl ging. War er ihr doch immer ein treuer, verläßlicher Freund gewesen, auf den sie zählen konnte und dessen stumme, rührende Verehrung in ihr, die in ihrem Leben so wenig Liebe gefunden hatte, immerhin ein leises Dankgefühl erweckte. Vielleicht auch mehr. Dennoch lächelt sie so seltsam, da sie seiner gedenkt? Er sah aber auch gar zu drollig aus, als er in merklicher Angst vor Verfolgung flüchtig bei ihr vorsprach und dabei doch eine verwirrte Erklärung hervorstotterte. Auch ist er ja nicht auf Nimmerwiederkehr gegangen. Gewiß, er ist ein lieber Mensch, dem man gut sein muß, . . . vom Herzen gut!

Die Veranlassung zu dem überraschenden Schritte des jungen Geigers hat Marie nur stückweise erfahren, zum Teil durch einen ziemlich lückenhaften Bericht der alten Tänzerin, zum Teil durch Riedls eigene, freilich recht zaghafte und unklare Mitteilungen. In Wahrheit hatte sich der junge Musiker, 297 dem die flüchtige Aufwallung von Selbstgefühl, die ihn am Tage seiner Ernennung zum Konzertmeister so männlich und entschieden auftreten ließ, unter dem Drucke höchst verwunderlicher Ereignisse wieder gänzlich abhanden gekommen war, schwer genug entschlossen, die beseligende Nähe des geliebten Mädchens zu verlassen. Aber es mußte sein. Frau Stölzls Mieter konnte er ferner nicht bleiben.

Nach jener schwülen Nacht, in welcher die resolute Witwe gerührt den zärtlichen Accorden lauschte, die ihr junger Mieter noch zu so später Stunde seiner Geige entlockte, hatte Frau Stölzl mehrere Tage vergebens auf eine ausdrückliche Werbung von Seite des Konzertmeisters gewartet. So leicht sie es ihm auch machte, sie allein zu treffen, so liebenswürdig sie ihn begrüßte, so verheißungsvoll sie ihm zulächelte, – er verstand die stumme Frage ihrer Blicke nicht, wagte offenbar nicht sie zu verstehen. So dachte die Witwe, der dieses Zögern um so unangenehmer war, als sie Frau Sobotka bereits ziemlich deutlich auf die bevorstehende Veränderung ihres Standes aufmerksam gemacht hatte und nun täglich die spitze Frage anhören mußte, wann die Sache denn endlich ins reine kommen werde? Am fünften Abende beschloß sie, die Führung der Angelegenheit selbst in die Hand zu nehmen.

»Ich will doch sehen, ob er nicht red't?« erklärte sie, zur Nachbarin gewendet, deren zweifelnde Miene sie aufs äußerste verletzte. »Wenn er morgen früh wieder nicht den Mund aufmacht, dann thu ich's!«

Frau Sobotka konnte nicht umhin, diesen Entschluß zu billigen.

»Wenn man warten wollt', bis so einem Mannsbild was Vernünftiges einfallt, da könnt' man alt werden!« meinte sie mit gewohnter Schärfe des Ausdrucks.

Frau Stölzl war also entschlossen, am nächsten Morgen 298 eine Entscheidung herbei zu führen. Allein das Schicksal hatte es anders bestimmt. Noch am selben Abende kam Pepi triefend und vor Kälte zitternd heim. Die bösen Schneiderbuben, welche dem Sprößlinge der Witwe seit langer Zeit für einen seiner arglistigen Streiche schwere Rache geschworen hatten, waren seiner durch einen Überfall aus dem Hinterhalte habhaft geworden und hatten ihn mit der unerbittlichen Grausamkeit des Siegers zum Brunnen geschleppt, wo sie ihn einer ausgiebigen Befeuchtung unterzogen.

Entsetzt hatte Frau Stölzl den Schluchzenden von den feuchten Kleidern und Schuhen befreit und ihn dann eiligst zu Bette gebracht, wobei sie das zähneklappernde Kind mit der Versicherung beruhigte, daß sie am nächsten Morgen mit den ruchlosen Schneiderbuben furchtbar ins Gericht gehen wolle.

Am nächsten Morgen lag Pepi aber im Fieber, seine Wangen glühten, sein Atem wehte heiß über die trockenen Lippen und die Augen stierten gläsern zur Decke empor.

Frau Stölzl konnte nicht mehr von seinem Bette weichen. Die Nachbarinnen gingen ab und zu, gaben ihre Ratschläge im Flüstertone und besorgten abwechselnd die notwendigsten häuslichen Verrichtungen für die jetzt völlig hilflose Witwe. Frau Sobotka hatte die eigentliche Leitung der kleinen Wirtschaft übernommen, und entwickelte dabei eine geradezu großartige Geschäftigkeit. Man sah sie in steter Bewegung über den Gang eilen, hörte sie geräuschvoll in die Krankenstube treten und dort zunächst eine Weile mit Tellern und Gläsern klirren, welche sie freilich weder reinigte noch in Ordnung brachte. Dann gab sie ihre Befürchtungen über den wahrscheinlich schlimmen Verlauf der Krankheit Ausdruck und ließ dabei einige allgemeine Bemerkungen einfließen, welche die niedergeschmetterte Mutter aufrichten sollten, zumeist aber mit wenig trostreichen Bemerkungen schloßen:

299 »Ja, es ist eine schwere Zeit! Wie viele Kinder jetzt sterben! In jedem zweiten Haus ist eine Leich'!« oder: »Für das arme Kind wär's am besten, wenn es alles schon überstanden hätt'. Ganz gesund kann's bei einer solchen Krankheit ja doch nicht mehr werden, etwas bleibt immer im Blut zurück!«

Die geängstigte Witwe weinte dann still vor sich hin, und Frau Sobotka verließ sie endlich, von ihrer in so aufopfernder Weise bethätigten Nächstenliebe selbst gerührt und mit hoher Selbstachtung erfüllt.

Endlich trat eine entschiedene Wendung zum Bessern ein. Das Fieber wurde schwächer und verschwand bald vollends, – der kleine Kranke war gerettet.

In dem Maße, in welchem die Gefahr für Pepi schwand, erwachten im Busen der Witwe jene zärtlichen Gefühle wieder, welche vor Eintritt der schweren Prüfungszeit ihr Herz so lebhaft pochen gemacht hatten. Aber auch ihr Entschluß bestärkte sich immer mehr, dem Liebeshandel mit ihrem Mieter eine entscheidende Wendung zu geben, denn der junge Konzertmeister blieb noch immer ihren deutlichsten Mahnungen gegenüber stumm.

So kann es nicht länger fortgehen! Eines Tages, da ihr Söhnlein vollends hergestellt ist, bringt sie ihren Entschluß denn auch wirklich zur Ausführung. Der junge Geiger ist eben heimgekommen und liegt in Kleidern und Schuhen der Länge nach ausgestreckt auf seinem Bette, – da klopft es an seine Thüre, diese wird gleichzeitig mit einem energischen Ruck geöffnet, und auf der Schwelle erscheint Frau Stölzl, ihr Söhnlein vor sich herschiebend.

Pepi ist in sein schönstes Sonntagsgewand gekleidet, seine Haare sind glatt gestrichen und die kleine Stumpfnase sorgsam geputzt; doch bedarf es einiger ermunternder Püffe von Seite der unerbittlichen Mutter, ehe er sich dazu entschließt, ein paar ersichtlich mühevoll eingebläute Worte herabzuleiern, welche 300 dem »gar so viel lieben« Herrn Riedl den kindlichen Dank ausdrücken sollen für seine während der Krankheit Pepis bewiesene Teilnahme. Frau Stölzl, welche für sich selbst jenes Kleid hervorgesucht hat, in dem sie einst mit Herrn Christian an den Altar trat, blickt schamhaft errötend zu Boden; nur bei den Schlußworten des Knaben: ». . . weil ich eine arme vaterlose Waise bin!« zittert eine Thräne in ihrem feuchtglänzenden Auge, das mit nicht mißzuverstehendem Ausdrucke an dem jungen Mietsmanne haftet. Dieser ist hastig vom Bette gesprungen und sieht nun das Kind, die Witwe und sich selbst verdutzt an. Was geht hier vor? Was soll der seltsame Aufzug? Da Pepi zu Ende ist und sichtlich erleichtert zurücktritt, wartet Frau Stölzl vergebens auf die so sicher erhoffte Wirkung der kindlichen Rede. Der Geiger bleibt stumm. So muß die Witwe wohl selbst sprechen. Sie bezwingt die gerechte Entrüstung, welche sich bei dem verstockten Schweigen Riedls ihres Gemütes bemächtigen will, und beginnt das schwere Werk der umgekehrten Werbung mit all' der Sanftmut, deren sie fähig ist. Zunächst öffnet sie die Thüre und giebt dem bereits ungeduldigen Sprößlinge die ersehnte Freiheit. Nunmehr allein mit dem blöden Liebhaber, erinnert sie ihn an jenes erste Gespräch, in welchem er unaufgefordert seiner Überzeugung Ausdruck gab, daß sich wohl ein Mann finden werde, der gerne Vaterstelle an dem lieben Kinde vertreten wollte. Damals habe sie zum erstenmale einen Blick in Riedls Herz gethan, und es von da ab immer höher achten und schätzen gelernt! Nachdem sie dies mit süßer, leise zitternder Stimme erklärt hat, wartet sie abermals eine Weile. Die bunte Schleife an ihrem Busen beginnt dabei in eine leichte, schaukelnde Bewegung zu geraten, denn die Witwe ist erklärlicher Weise nicht wenig erregt, und da sie ziemlich kurzhalsig ist, wird ihr in solchen Augenblicken das Atmen schwerer als sonst.

301 Der Geiger ahnt noch immer nicht, wo das hinaus soll.

»O, ich bitte, Frau Stölzl!« wehrt er verlegen ab.

Allein die Witwe fährt immer fester und entschlossener fort, das Benehmen ihres Mieters von jener Zeit ab in dem Lichte zu schildern, in welchem es ihr erschienen ist. Da sie in ihrer eingehenden Darstellung endlich zu der letzten Unterredung mit dem jungen Konzertmeister gelangt und dabei unter schamhaftem Erröten des Kusses gedenkt, den er ihr in jenem unbedachten Augenblicke der Schwäche rauben durfte, hält sie tief bewegt inne, breitet die Arme aus und ruft in stürmischer Aufwallung ihres zärtlichen Herzens:

»Josef!«

Die Verblüffung des jungen Mannes geht hier in ein völliges Erstarren über. Da der innige Ruf der Witwe gänzlich wirkungslos verhallt, so wiederholt sie ihn, diesmal schon ein wenig stärker und mit einem leisen Durchschimmern von staunender Entrüstung:

». . . . Jo–sef! . . .«

Der Geiger ist sich zwar keiner Schuld bewußt, allein der drohende Vorwurf in der Stimme der Witwe, das Blitzen ihrer fest auf ihn gerichteten Augen, beraubt ihn doch ein wenig seiner Fassung.

»Aber entschuldigen Sie, liebe Frau Stölzl . . .!« stottert er verwirrt. »Hier muß ein unglücklicher Irrtum . . .«

Er kann nicht mehr zu Ende sprechen. Auf dem hochgeröteten Antlitze der Witwe, welche noch immer mit geöffnetem Arme dasteht, spiegeln sich in raschen Übergängen die Wandlungen ihres Gemütes ab. Die anfänglich noch mühsam beherrschte Entrüstung steigert sich jählings zu aufbrausendem Zorne und dieser zur Wut; die Busenschleife gerät in ein drohendes Schaukeln, die Hände ballen sich zu Fäusten und dringen auf den entsetzt zurückprallenden Mieter ein, welcher 302 instinktiv nach einem Stuhle greift und diesen abwehrend schwingt.

Aber Frau Stölzl läßt sich dadurch wenig beirren. Kann sie dem Verräter auch nicht thätlich an den Leib rücken, so überschüttet sie ihn dafür mit einem Wolkenbruche von Vorwürfen und Schimpfworten, die wie Hagelschlag auf sein schuldiges Haupt niederprasseln. Unwillkürlich duckt sich der junge Mann unter diesem Sturzbade; er muß es wehrlos über sich ergehen lassen. Zweimal hält die wutschnaubende Witwe scheinbar erschöpft inne, und jedesmal versucht der Geiger sie zu beruhigen, ihr zu erklären . . ., aber immer vergebens. Sie ist noch lange nicht zu Ende und hat nur Kräfte gesammelt, um gestärkt von neuem zu beginnen.

Ihr Geschrei lockt denn auch bald die Amtsdienersgattin herbei, welche bis in Riedls Kammer dringt und hier sofort mit einem zufriedenen Lächeln für die beleidigte Frauenehre eintritt.

Frau Stölzl fühlt sich durch die Anwesenheit der befreundeten Nachbarin zu einem nur noch unnachsichtlicheren Vorgehen gegen den Treulosen veranlaßt. Sie eröffnet jede neue Wendung mit einem röchelnden Atemzuge und mit tiefer, wie naher Donner grollender Stimme, um sie dann in den höchsten kreischenden Tönen ausklingen zu lassen, wobei sie unbedenklich zu den gewagtesten und verletzendsten Redefiguren greift. Aber an der Genugthuung, den Gegenstand ihrer lieblichen Träume nun gründlich all' des Schmuckes beraubt zu haben, mit welchem nur ihre eigene, allzu früh geschäftige Phantasie ihn ausgestattet hatte, läßt sich die resolute Witwe nicht genügen. Mit grauenvollem Seherblick verkündet sie dem Erschütterten das furchtbare Schicksal, das des geächteten Verräters harrt. Der höchste Galgen und der dickste Strick werden seinem verruchten Leben ein schimpfliches Ende bereiten. Sie 303 erklärt das mit wildem Triumphe und will mit ihrem geistigen Auge den also »Gerichteten« bereits baumeln sehen. »Denn« – fügt sie in ihrem unerschütterlichen Vertrauen auf eine ewige Gerechtigkeit über den Sternen hinzu, – »unser Herrgott kann's nicht zugeben, daß ein so schlechter Mensch ohne Ehr' und Gewissen, wie Sie, eine hilflose Witwe und ihr armes, unschuldiges Kind in Schand und Unglück bringt!« Inwieferne Herr Riedl dies gethan hat, vermag sie nicht mehr zu erklären, denn hier bricht plötzlich ihre Stimme. Der Gedanke an Pepi bannt ihr die entfesselten Furien im Busen, die wild auflodernde Wut weicht einem sanfteren, wehmütigeren Schmerze, – dem brausenden Sturme des jähen Zornes folgt der milde Regen der Thräne, nur hie und da noch unterbrochen von einzelnen Schimpfworten, die bei dem plötzlichen Übergange in die weichere Stimmung zurückgeblieben sind und nun nachträglich über ihre Lippen kollern, wie die eingefrorenen Töne aus weiland Münchhausens Trompete.

Frau Sobotka findet jetzt den Augenblick geeignet, die schluchzende Witwe aus der Kammer des treulosen Bewerbers zu entfernen. Ihrer strengeren, unbeugsamen Sinnesart ist die Rührung, welche Frau Stölzl überkommen hat, ein Greuel.

»Nur keine Schwachheit!« mahnt sie mit harter Stimme. »So ein Mannsbild ist gar nicht wert, daß man seinetwegen so viel G'schichten macht!« Und zu Riedl gewendet fügt sie drohend hinzu:

»Ihnen aber sag' ich für jetzt nur eines: Sie werden die arme Frau da um Verzeihung bitten und in vier Wochen Hochzeit machen! Sonst erleben Sie was! Haben S' mich verstanden?« Dabei wirft sie den Kopf zurück. »Mir hätten Sie das anthun sollen, – – mir!« sagt sie mit einem fatalen Lächeln. »Mehr hätt' ich Ihnen nicht gewünscht!«

Dann führt sie die jammernde Witwe aus der Kammer 304 und läßt den jungen Konzertmeister völlig betäubt von dem überstandenen Auftritte allein zurück. Herr Riedl sieht den beiden Frauen lange fassungslos nach, dann greift er sich an die Stirne und schüttelt den Kopf. Das Vorgefallene ist ihm noch immer unbegreiflich; vollkommen klar dagegen nur, daß er nicht länger Frau Stölzls Mieter bleiben darf. Nachdem er die erste Verblüffung überwunden hat, geht er denn auch sofort daran, seine Effekten zu packen. Das ist rasch genug geschehen. Vier Notenblätter werden auf dem Boden der engen Kammer entsprechend neben- und übereinander gelegt, hierauf die oberste Schublade der Kommode aufgezogen und derselben der bescheidene Vorrat an Leibwäsche entnommen. Nun folgt noch eine schwarze Halsbinde, weiters eine solche von einst tadelloser Weiße und ein ehrwürdiger, bereits schonender Behandlung bedürftiger Frack, worauf der Konzertmeister das ganze zu einem Pakete formt.

Damit ist er fertig. Nein, die hohen Aufzugstiefel stehen noch in einer Ecke und winken ihm vorwurfsvoll zu: Willst Du uns preis geben?

Herr Riedl sinnt eine Weile vergeblich nach, wie er die alten treuen Gefährten in Sturm und Unwetter jetzt fortbringen könne? Da erhellt ein Lächeln seine umdüsterte Miene. Er streift die Sommerschuhe ab, steckt sie zu Wäsche und Frack in den improvisierten Reisesack und zieht die Schneestiefel an. Das scheint ihm trotz der herrschenden Augusthitze eine vortreffliche Lösung der schwierigen Frage, und hoch aufatmend steht er mitten in der Kammer, die sein suchender Blick noch einmal durchwandert.

Wenn nur erst die beiden Frauen, deren schrille Stimmen noch immer zu ihm hereindringen, die Küche verlassen haben, kann der Auszug beginnen. Der Geiger setzt sich an den wackligen Tisch und beginnt eifrig zu schreiben. Dann kramt 305 er aus sämtlichen Taschen alles Geld hervor, das sich dort vorfindet und legt es dem Abschiedsbriefe an Frau Stölzl bei. Draußen knarrt noch immer die scharfe Stimme der Amtsdienersgattin. Sie scheint dem Mieter zu Gehör sprechen zu wollen, denn sie erklärt der gekränkten Witwe, daß Eheversprechen einklagbar sind.

»Mein Mann muß die Sach' in die Hand nehmen!« ruft sie triumphierend. »Er ist, Gott sei Dank, beim Ministerium, er wird dem sauberen Zeisig schon die Flügel stutzen. Verlassen Sie sich darauf!«

Das Unbehagen des Konzertmeisters wächst von Augenblick zu Augenblick. Dahin alles Selbstbewußtsein, dahin aller Mut. Er knickt zusammen. In welche Lage ist er geraten! Er muß sich befreien, muß entfliehen. Das ist die einzig denkbare Rettung. Hat er nur einmal die Wohnung und den Korridor hinter sich . . ! Hier erbleicht er plötzlich. Herrgott, dann muß er ja auch Mariens Nähe verlassen, wird das angebetete Mädchen vielleicht nie, nie wiedersehen.

Das ist unmöglich! Nein, das wird er nicht ertragen können! Verzweifelt wirft er sich auf das Lager, das in allen Fugen kracht, verschränkt die Hände unter dem Kopfe und starrt trübe zur Decke empor. So vergeht eine Stunde. In der Küche ist es längst still geworden, aber Riedl rührt sich noch immer nicht. Er träumt mit offenen Augen.

Aus einer rosigen Wolke blickt Mariens Köpfchen zu ihm herab und lächelt so lieblich, so ermutigend!

»Geh!« sagt dieses Lächeln. »Ich werde dir folgen!«

Ein Adagio von Geigen und Flöten ertönt dazwischen, so süß und milde, wie der junge Musiker noch keines gehört hat.

»Ist es denn möglich, daß ich so glücklich werden soll?« flüstert er mit freudigem Bangen. Und aus den erglühenden Wolken nickt und winkt es zurück. »Ja, es ist möglich! Fliehe nur, . . . fliehe!«

306 Unten im Hofe schlägt jetzt plötzlich ein Hund an, das herrliche Traumgesicht verschwindet und der junge Konzertmeister fährt hastig in die Höhe.

»Jetzt oder nie!« flüstert er entschlossen. Dann faßt er mit der rechten Hand seine Geige, nimmt das Paket in die Linke, wirft den faltenreichen Mantel über die Schultern, preßt noch eine dicke Notenrolle unter einen Arm und den Stiefelknecht unter den andern, – nun mit Gott, . . . es muß sein, . . . es muß!

Vorsichtig und nicht ohne beklemmendes Herzklopfen öffnet er die Thüre. Alles ist still. Noch ein letzter Blick, ein kurzer Seufzer der Erleichterung, und er drückt die Thüre hinter sich mit dem Fuße zu, da er keine Hand frei hat.

Vor der Schoberschen Wohnung hält er inne. Und wenn ihn Frau Stölzl hier auch überraschen und stückweise heiraten sollte, er kann nicht gehen, ohne Marie wenigstens noch einmal gesehen und ihr erklärt zu haben . . .

Welch ein Glück! Da tritt sie selbst eben aus der Stube in die Küche. Herr Riedl grüßt ergriffen und wehmütig.

Das junge Mädchen bekämpft nur mit Mühe ein lautes Lachen, da es seiner ansichtig wird.

»Aber wie schauen Sie denn aus, Herr Riedl?«

»Ich muß ausziehen!« erwidert der Geiger kläglich und überblickt dabei wehmütig sämtliche Wertgegenstände, welche ihn auf seinem letzten Gange begleiten. Dann sucht er durch eine möglichst diskrete Schilderung der letzten Vorgänge seinen außerordentlichen Schritt zu erklären. Er schont dabei seine bisherige Hauswirtin so weit es nur irgend angeht, kann sich aber selbst auch keine Schuld beimessen. Dadurch wird sein Bericht immer unverständlicher. Auch blickt er ab und zu scheu um sich, ob nicht Frau Stölzl oder Frau Sobotkas Gatte, der Mann des Gesetzes, irgendwo erscheine. Während 307 er spricht und sich dabei ein wenig bewegt, fällt zuerst ein Hemdkragen, dann die stark abgenützte Haarbürste aus seiner primitiven Reisetasche, und da er sich nach ihnen bückt, verliert er auch noch den Rest aus dem sich vollends öffnenden Pakete.

Nun steht er gänzlich ratlos vor der neuen Verwirrung. Und das muß ihm just vor Marie geschehen! Es schnürt ihm das Herz zusammen, daß er aufschreien möchte. Aber das junge Mädchen hat das Lachen tapfer überwunden und bückt sich nun, um den Geiger beim Sammeln der herabgefallenen Gegenstände zu unterstützen. Herr Riedl will das nicht zugeben, auch er langt nach ihnen. So kauern beide auf dem Boden und ihre Hände berühren sich. Der Geiger hat Frau Stölzl, seine Flucht, seine Angst, – er hat die ganze Welt um sich her vergessen. Immerzu möchte er hier knieen neben dem angebeteten Mädchen, dessen Atem seine Stirne fächelt – – – –

Endlich sind sie aber doch fertig und er muß nun ernstlich daran denken, sich zu verabschieden. Das Lächeln kehrt jetzt siegreich auf Mariens Gesicht zurück. Es länger zu bemeistern ist unmöglich. Das fühlt sie, und in ihrer Angst den lieben braven Menschen dadurch zu verletzen, spricht sie rasch, was ihr just auf die Zunge kommt.

»Sie ziehen doch nicht weit weg von uns?« fragt sie und blickt zu Boden, um jeder neuerlichen Anregung zur Heiterkeit auszuweichen.

Riedls Augen leuchten.

»O nein!« versichert er feurig. »Und ich weiß, daß ich Sie wiedersehen werde. Mein . . . mein Herz sagt es mir. Ich könnte ja nicht leben, ohne Sie zu sehen, ich . . .«

Er würgt noch an einer Fortsetzung seiner so stürmisch begonnenen Rede, aber der Mut hat ihn schon wieder 308 verlassen. Da das junge Mädchen aufsieht, ist der junge Konzertmeister bereits verschwunden.

– – – Dieser wunderlichen Begegnung gedenkt nun Marie, und deshalb ist ihre Stimmung so heiter geworden. Welch ein Lärmen und Kreischen das gab, als die gekränkte Witwe, nach einer Stunde heimkehrend, die Kammer leer und darin statt des Mieters nur dessen Abschiedsbrief vorfand! Bis in die Stube hörte Marie die wenig schmeichelhaften Bezeichnungen, welche Frau Stölzl dem Entwichenen nachsandte, und vermochte sich erst aus der Entrüstung der Witwe den Vorfall einigermaßen zu erklären.

»Der arme Riedl!« lächelte sie damals, und lächelt sie auch heute wieder.

Die Stille um sie her erfüllt sie mit immer fröhlicherem Behagen. Sie fühlt sich so frei und leicht! Die Luft scheint ihr reiner, die Sonne heller als jemals. Ein Lied, das sie einmal unten im Hofe von einer buckligen Harfenistin singen hörte, fällt ihr jetzt nach Jahren plötzlich ein und sie summt, während sie ihre Arbeit wieder aufnimmt, den Refrain desselben:

»Geh Welt, geh nicht unter,
Du bist ja so schön!«

Da klopft es an die Stubenthüre. Wer kann das sein? Nun, wer es auch sei, – »Herein!«

Auf der Schwelle steht Franz.

Seit jenem Abende, an welchem Lori das Haus verließ, um nicht mehr zurückzukehren, hat auch er dem Freihause den Rücken gekehrt. Es duldete ihn nicht mehr in der Stube, in welcher Lori so schlecht an ihm gehandelt hatte. Marie hat ihn seither nur selten gesprochen. Er ist ihr wie allen anderen Bewohnern des Korridors stets ängstlich ausgewichen, und auch Marie zeigte kein Verlangen ihm zu begegnen.

309 Da er jetzt nach einem kurzen, verlegenen Gruße an der Thüre stehen bleibt, erhebt sieh Marie, nicht weniger befangen als er, und bittet ihn mit leiser Stimme näher zu treten. Er folgt ihrer Einladung und nimmt auf der Kante des zurecht gerückten Stuhles Platz. Schweigend kehrt nun Marie an ihre Arbeit zurück, die sie jedoch nur aufnimmt, um ihre ein wenig zitternden Hände zu beschäftigen.

»Ich komme Ihnen Adieu zu sagen!« beginnt der junge Bauführer endlich mit der verschleierten Stimme tiefer Erregung.

»Sie gehn fort?« fragt Marie.

»Ja, nach Rußland.«

»So weit! . . Aber doch nicht auf lang?«

Franz lächelt matt.

»Ich weiß nicht, – vielleicht auf immer. Es soll dort eine große Eisenbahn gebaut werden, und ich bin dabei engagiert.«

»Von Ihrem Baumeister?«

»Nein. Ich hab' die Stelle genommen, weil ein großes Angeld ausbezahlt worden ist und ich damit meine . . . meine Schulden hab' zahlen können.«

Marie blickt angelegentlich auf ihre Stickerei.

»So ist jetzt alles – wieder in Ordnung?« fragt sie leise.

»Alles!« erwidert der Bauführer aufatmend. Das Mädchen reicht ihm die Hand, die er heftig drückt, dann schweigen beide und sehen zu Boden. Endlich erhebt sich Franz.

»Also leben Sie recht, recht wohl und glücklich, Fräulein Marie!« sagt er bewegt. »Ich danke Ihnen noch vielmals für alle Freundschaft, die Sie mir erwiesen haben –«

Marie fällt ihm hier ins Wort.

»Lassen Sie sich's auch recht gut gehn, lieber Herr Sturm!« sagt sie herzlich. »Und vergessen Sie uns nicht ganz.«

»Gewiß nicht, Fräulein Marie, gewiß nicht!« versichert er eifrig. »Sie und Ihr Herr Vater waren ja immer so 310 gut und freundlich zu mir! . . . Denken auch Sie manchmal an mich, wenn ich fort bin!«

Marie nickt nur, und wieder schweigen beide eine geraume Zeit.

»Reisen Sie schon bald?« fragt endlich das Mädchen.

»Heute abend, um acht Uhr!« erwidert er und langt nochmals nach ihrer Hand. »Also Adieu!« setzt er zögernd hinzu, als habe er noch etwas auf dem Herzen, das er aber nicht auszusprechen vermag.

Marie sieht auf. Sie glaubt zu wissen, wovon er noch sprechen möchte.

»Haben Sie – – die Lori nicht wieder gesehen?« fragt sie mit leiser, stockender Stimme.

Franz erbleicht und seine Lippen zucken.

»Nein!« erwidert er bebend. »Und ich möchte sie auch nicht mehr sehen, – – und nichts, nichts mehr von ihr wissen! . . . . Sie verzeihen schon, Fräulein Marie!«

Er ist bei diesen Worten über und über errötet. Jetzt betrachtet er aufmerksam die Decke.

»Übrigens . . . geht es . . . ihr ja gewiß gut?« fragt er leise.

Marie antwortet nicht und Franz fährt sich mit dem Handrücken über die feuchte Stirne. Dann zieht er eine Karte aus der Tasche und reicht sie dem Mädchen.

»Das ist die Adresse der Bauunternehmungs-Kanzlei in Wien!« sagt er nach kurzem Zögern. »Durch diese kann ich jeden Brief bekommen! . . . Vielleicht schreiben Sie mir aus alter Freundschaft einmal, wie es Ihnen und dem Herrn Vater und – – – und allen geht! Wollen Sie das thun, Fräulein Marie?«

Marie verspricht es. Sie versteht ihn wohl, das liest er in ihren Augen, und dankt auch sichtlich erleichtert durch wiederholtes Schütteln ihrer Hand.

311 Dann sagt er ihr, fast fröhlich, noch einmal Lebewohl und geht.

Marie geleitet ihn bis an die Wohnungsthüre und betrachtet hierauf lange und nachdenklich die erhaltene Karte, freilich ohne sie zu lesen.

Daß er Lori noch immer liebt, hat sie nicht überrascht. Aber daß es bei diesem Gedanken in ihr selbst so still und ruhig bleibt, berührt sie doch gar seltsam. Sie fühlt weder Schmerz noch auch nur Bedauern, . . . die Empfindung überkommt sie, als ob sie plötzlich alt, sehr alt geworden sei. Wie weit ihr bisheriges Leben hinter ihr liegt, wie weit selbst die letzte Stunde, – die eben gehörten Abschiedsworte Sturms!

In der Stube lärmt die Kohlmeise am Fenster, der warme Sommertag flutet durch den Raum, die Sonne spiegelt sich glitzernd im Glassturz der Stockuhr auf der Kommode, – alles ist wie es früher war, und doch anders, . . . nüchterner, kälter. Marie schüttelt den Kopf. Sei froh, daß es aus ist! sagt sie zu sich selbst. Dann nimmt sie die Arbeit vor und bemüht sich an alles zu denken, was sie früher so still und behaglich beschäftigt hat: an den Vater, an Riedl. Aber sie vermag es nicht sogleich wieder. Wie um sie her, ist es auch in ihr still geworden, still und einsam . . .

Eine Stunde später, da sie eine Schublade der Kommode öffnet, um ein weißes Tuch für ihre Arbeit zu suchen, fällt ihr dort das kleine Goldkreuz am schwarzen Sammtbande in die Hand, das sie seither wieder auslösen konnte. Eine ganz absonderliche Geschichte tritt ihr dabei in die Erinnerung. Als sie den Versatzschein von Riedl forderte, weigerte er sich unter allerlei Vorwänden ihn herauszugeben. Das hatte sie damals nicht begriffen und deshalb hartnäckig auf ihrem Wunsche bestanden, das Goldkreuz selbst auszulösen. Erst da ihr das Päckchen gegen Erlag des Darlehens und der Zinsen 312 ausgefolgt wurde, erkannte sie den Grund der Weigerung Riedls, –neben dem Kreuze lag ein schmaler Goldreif, dem innen ein altes Datum eingraviert war. Wie er erbleichte, als er über ihre Frage gestehen mußte, daß es der Ehering seiner Mutter war, von dem er sich getrennt hatte, um die Summe voll zu machen, die der Wirt damals gefordert hatte! Der Ehering seiner Mutter! Marie wog ihn eine Weile nachdenklich in der Hand, ehe sie ihn dem Freunde zurückgab. Es ist eine eigentümliche Sache um solch einen Ehering! Da sie aufblickte, gewahrte sie einen seltsamen Ausdruck in seinen Augen . . . Auch jetzt sah er komisch aus, aber lachen hätte sie darum doch nicht können, nur lächeln – – –

Wie lebendig der kleine Zwischenfall vor ihr steht! Wie deutlich sie Riedls Gesicht vor sich sieht, – den ängstlich verzogenen Mund und die treuen Augen, in welchen, ganz heimlich allerdings, ein gar mächtiges Feuer zu lodern scheint.

Der gute Riedl!

Und siehe, da huscht das Lächeln wieder über ihr blasses Gesicht. 313

 


 


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