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5. Kapitel

Der fehlende Briefumschlag.

Anneliese brachte eine Kassette herbei, die unter Wäschestücken in einem Schranke versteckt gewesen, nahm einen komplizierten Schlüssel und wollte das Schloß öffnen.

»Lassen Sie, Kind ...« – meinte Harst in munterem Tone. »Das ist ja eine sehr gute Kassette, sogar mit einem Yale-Schloß ... Geben Sie mir nur den 5chlüssel ...«

– Hoffnung verändert Menschen in Sekunden.

Anneliese war wieder aufgelebt.

Neugierig schaute sie zu, wie sorgfältig Harald das Stahlkästchen in Augenschein nahm und wie er besonders dem schwarz lackierten Boden der Außenseite Beachtung schenkte.

An dem schwarzen Lack hingen Stoffäserchen.

Ich sah es.

Harst roch an dem Lack und nickte: »Sehr klug, – – nur nicht klug genug, – Anneliese, bringen Sie mal die Wäschestücke, in die die Kassette eingewickelt war.«

Dann hielt er das Stahlkästchen mir hin. »Bitte, der Eisenlack riecht noch, und Anneliese sagte, die Kassette sei vor Jahren gekauft.«

Das Mädchen zeigte uns ein Laken, und das Laken hatte schwärzliche Flecken. – Die Einbrecher hatten nicht gewartet, bis der Lack vollkommen getrocknet war. Daher die weißen Fäserchen, – Harst hatte richtig gefolgert und weit richtiger als ich.

Er nahm ein Messer, kratzte den Lack des Bodens an den Rändern ab und legte eine feine Rille frei, ein vollkommenes Viereck, die Spur einer Stahlsäge.

Die Rille war hinterher mit Eisenkitt verschmiert worden, und der frische Lack hatte diese Spuren einer gewaltsamen Oeffnung verdeckt.

Anneliese lehnte auf dem Tische und schaute mit fiebernden Augen zu.

Jetzt erst schloß Harald die Kassette auf, schüttelte die Papiere auf die Tischplatte und lächelte ironisch.

Ein großer Briefumschlag war unten etwas festgeklebt, – als er ihn herausnahm, sah man die Spur der Stahlsäge und den Eisenkitt in der feinen Fuge ganz deutlich.

»Prüfen Sie, Kind, ob etwas fehlt.«

Anneliese starrte immer noch in das Kästchen. »Erbrochen!« hauchte sie. »Also waren Einbrecher hier.«

»Ja, Kind, – das muß wohl so gewesen sein. Die Grillen ahnten, daß Ihr Vater schreiben würde, und der Inhalt seiner Briefe war für sie Lebensbedingung ... Wie hätte wohl die Grillenkönigin ihm sonst in der vergangenen Nacht haben auflauern können?!«

Grillenkönigin ...?!« Ihre in den Papieren wühlenden Hände erlahmten. »Wer ist das, Herr Harst?«

»Ich weiß es nicht, aber ich werde es wissen. Fehlt etwas?«

Sie ordnete die Papiere, aber sie war sehr geistesabwesend.

»Hier sind Vaters beide Briefe, die letzten, die Sie ja auch nur haben wollten, Herr Harst ... – Nein, es fehlt nichts ...«

Harald besichtigte die Briefe. Nur der eine hatte einen gewöhnlichen graublauen Umschlag, der andere war ohne Umschlag.

»Ein Umschlag fehlt, Anneliese ... Haben Sie ihn weggeworfen?«

»Wahrscheinlich ...« Ihre Augen hafteten auf Harsts nachdenklichem Gesicht. »Wer sind die Grillen?« wiederholte sie nochmals und weit eindringlicher.

»Die Grillen, Kind? Ich werde es Ihnen später sagen. Verlangen Sie von mir nicht zuviel ... Es gibt Dinge, die man bis zuletzt hinausschiebt, weil sie das Grauen in sich bergen.«

Und nach kurzer Pause ...: »Anneliese, haben Sie früher, als Sie noch in guten Verhältnissen lebten, im Modesalon Holder gekauft?«

Sie nickte. »Ich konnte es mir leisten, damals war ich noch eitel, und es gehörte zum guten Ton unseres Verkehrskreises, nur von Holder alles zu beziehen.«

»Ich weiß, – ein großes, sehr elegantes Geschäft«, murmelte er zerstreut.

Seine Augen waren halb geschlossen, die Stirn lag in Falten, und ebenso leise fügte er hinzu: »Begleitete Ihr Vater Sie zuweilen bei den Einkäufen?«

»Zuweilen ...«

»Gut, – packen Sie die Papiere und die Kassette wieder weg, Anneliese ... Dann müssen wir, – – aber nein, geben Sie her ... Setzen Sie sich.«

Seine Gestalt straffte sich, als er die Kassette verschloß und sie in das Laken hüllte.

Das Mädchen schaute ihn erwartungsvoll an.

»Wir müssen Sie in Sicherheit bringen, Kind ... Die Grillen werden nun sehr rührig werden ... Die Königsgrille weiß, daß Schraut und ich aus unserem Heim verschwunden sind und wie üblich Stellvertreter im Hause einquartiert haben ...« – Er wandte den Kopf zum Fenster ... horchte ... »Es regnet noch immer ... Schnüren Sie sich ein Bündel mit dem Allernötigsten, Anneliese ... Auch Eßwaren ... Haben Sie vielleicht einen Spirituskocher und Spiritus? Auch das packen Sie ein ... Beeilen Sie sich ... Hoffentlich kommen wir unbelästigt aus dem Hause heraus ... Ja – – beeilen Sie sich ...!«

Sie stand da. seltsam steif, den feinen Kopf zurückgeworfen. »Was fürchten Sie, Herr Harst? – Ich habe die ersten Schrecken überwunden. Oh, Sie kennen mich nicht, ich bin kein Nervenbündel, ich bin hart geworden, sehr hart und widerstandsfähig ... Ich werde Ihnen eine brauchbare Verbündete sein, und ...«

»Beeilen Sie sich! Ich fürchte die Grillen, und sie sind zu fürchten, weiß Gott!«

Das Mädchen eilte in ihr Schlafzimmer ...

Harald nahm eine Zigarette. Sein Blick hing wieder auf dem Fenster.

»Schraut«. er dämpfte die Stimme zum Flüstern, »wenn dieser Peter van Amsteln Gegenpartei ist, dann...«

Die noch unangezündete Zigarette glitt zu Boden.

»Hörtest du, – was war das?!«

»Der Regen und der Wind, Harald...« – Auch ich lauschte mit angespannten Sinnen ... Auch meiner hatte sich ein Gefühl der Unsicherheit bemächtigt.

»Es war ein schwacher Knall«, flüsterte Harald schnell. »Ganz bestimmt – ein Schuß ...«

Mit zwei Sätzen schnellte er zur Flurtür, riß sie auf, ließ die Taschenlampe aufblitzen ...

»Untersuche die Hintertür ...!«

... Wir fanden nichts.

Neben der kleinen Küche lief ein Treppchen auf den Bodenraum und zu dem Giebelstübchen. Er beleuchtete die Stufen.

»Trocken, – keine Spuren, keine Nässe ...«

Seine ungewohnte Nervosität wirkte ansteckend.

»Harald, – zum Teufel, hältst du die Grillen für so gefährlich?!«

Er blickte mich an und beugte sich vor und flüsterte mir gerade ins Gesicht, – sein Flüstern war wie pfeifendes Zischen:

»Max Schraut, wenn all das stimmt, was ich vermute, hat es noch nie ärgere Schädlinge gegeben als diese ... noch nie! Und ...«

... Er verstummt ... Seine Augen fliegen zum Geländer des Treppchens ...

»Da – – was ist das?!«

Er streicht mit dem Finger darüber ...

Etwas feuchter Schmutz haftet an der Fingerspitze.

»Also doch, – – diese Teufel, – – diese Teufel, wir sind belauscht worden ...« Seine Stimme überschlägt sich ... »Und das Häuschen hier liegt einsam! Kein Telefonanschluß, – – das heißt, den Draht hätten die Grillen draußen ohnehin durchgeschnitten ...! Und der gedämpfte Schuß, – – weißt du, was ich fürchte, wie ich kombiniere: Amsteln entführte uns Professor Gerty ... Und Amsteln liegt jetzt irgendwo in der Havel mit Steinen an den Füßen und einem Kugelloch im Schädel! – Warte hier ... Lasse Anneliese nicht aus den Augen!«

Ich stieß die Tür zum Wohnzimmer auf, lief hinein und pochte an die andere Tür ...

»Fräulein Anneliese?«

Alles still ...

Eine wahnwitzige Angst, die zumeist Harsts bisher nie gekannter Uebernervosität zuzuschreiben war, packte mich ...

Ich riß auch diese Tür auf ...

Leer der bescheidene Raum – – leer!

Ich stürze zur Tür des dritten Stübchens ...

Sie geht von selbst auf ...

Anneliese schaut mich bestürzt an.

»Was haben Sie, Sie sind ja so blaß, Herr Schraut ...«

Das glaube ich, daß ich blaß bin ...

Ich komme mir trotzdem lächerlich vor in meiner übertriebenen Angst.

»Dachten Sie, ich wäre ... entführt worden?« fragt das Mädchen forschend. »Oh, die Sorge wäre überflüssig gewesen ...!«

Ihr beherrschter Ton überraschte mich.

Langsam zieht sie aus der losen Bluse eine kleine Repetierpistole hervor, Liliputformat.

»Vater war eifriger Jäger und lehrte mich frühzeitig den Umgang mit Waffen ... Vater hatte ja auch eine Pistole ... in seiner zerlumpten Hose ... – – Mein Gott!!« .

Sie läuft plötzlich in das Wohnzimmer, durchsucht den alten Schreibtisch ...

»Mein Gott, – – er hat die Pistole mitgenommen, Herr Schraut! Er wird sich erschießen, er ...«

»Nein!«, Harst steht in der Tür zum Flur. »Er wird sich nie erschießen!!« – Er spricht's mit so eigentümlicher Betonung, daß mir jetzt eine Gewißheit kommt: Albert Gerty hat ... morden wollen, sowohl in der verflossenen Nacht als auch in dieser!! Gerty drang in die Villa Saduzzi ein, um die Königsgrille zu töten, den Professor! Und heute auf der nächtlichen Chaussee hat Peter van Amsteln ihn uns entführt, – wenn auch Amsteln weiß, was den Stromer Gerty nach Berlin zurückgelockt hat: Rache!!

... In diese meine wild flatternden Gedanken hinein tropfen wie ein Medikament Harsts klare, freundliche Worte:

»Anneliese. – an die Arbeit! Wir müssen flüchten!«

Das Mädchen enteilt, und Harst tritt näher auf mich zu, ganz dicht sogar ...

»Schraut, soeben sah ich durch das Bodenfenster, das offenstand, Amstelns Begräbnis ... Drei Mann warfen ihn in den Fluß ... – Armer Amsteln, er war nie Maler, er war Kriminalbeamter, holländischer Detektiv hohen Ranges, wette ich ... – Schraut, die Grillen lauern draußen ... Wir werden doch wohl bis Tagesanbruch warten müssen ...«

»Woran erkanntest du Amsteln?«

»An den Schnallgamaschen und dem Mantelschnitt.«

»Und weshalb feuerst du nicht einfach Alarmschüsse durch das Fenster ab und holst so die Polizei herbei, – – auch ohne Telefon?!« »Weil ...« –er stockt ... überlegt die Antwort ... »Weil Professor Gerty ein Verbrecher ist«, vollendet er traurig. »Und weil ich Gertys Schuld nach Möglichkeit vertuschen möchte. Es gibt Verbrechen, die man verheimlichen darf,– – das heißt: Ich werde diese Fragen erst noch nachprüfen ...«


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