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2. Kapitel

Der Bund der Stummen.

Der Stromer lag auf dem Sofa, und sein verkommenes, stoppelbärtiges Gesicht hatte wieder etwas Farbe, seine stillen, gehetzten Augen belauerten uns beide, die wir wieder vor dem Ofen saßen und uns wärmten und unseren Gedanken nachhingen.

Nach geraumer Weile wandte Harst den Kopf und fragte den Fremden leise: »Können Sie schreiben und lesen?«

Der alte Landstreicher grinste beschämt und schlackerte verneinend den grauen Schädel mit der Narbe und der weißen Haarsträhne.

»Er lügt«, sagte Harst in Esperanto und rauchte weiter und starrte in die Glut des Ofens.

– Es gibt immer wieder Situationen, in denen sich selbst dem kühlsten Verstande ein Gefühl des Unwirklichen, Traumhaften aufdrängt.

Stimmung ..., eine ganz seltsame Stimmung beherrschte mich ...

Und zerriß jäh, wurde nüchternste Wirklichkeit, als Harst, nun offenbar zu einem bestimmten Entschluß gelangt, kraftvoll und mit den unverkennbaren Falten eisigster Energie um den Mund sich erhob und in einem Wasserglas eine Tablette aus der Reiseapotheke zerfallen ließ.

»Trinken Sie! Sie müssen schlafen, mein Freund!« sagte er zu dem Landstreicher so befehlend, daß der Mann gehorchte, wenn auch zögernd. – Er hob ihm den Kopf, er gab genau acht, daß nichts im Glase übrigblieb, daß der Alte auch wirklich schluckte, und erst, als er sich hiervon überzeugt hatte, raunte er ihm zu: »Sie sind niemals ein Stromer! Wer Sie sind, wird sich herausstellen. Alles kann man bei einigem Geschick verändern, nur den intelligenten Blick nicht!« Und zu mir: »Schließe die Ofentüren – beide!!«

Ich tat's, und das Zimmer versank in Finsternis.

Neben mir, dicht an meinem Ohr tuschelte Haralds Stimme: »Nimm dein Werkzeug ... auch den Mantel ... Leise!! Drüben ist's kalt!!«

... So jäh wechselt gedankenvolle Träumerei mit ereignisreichstem Wachsein.

Lautlos ging die Tür auf, wir schlichen in den Flur, – lautlos verschloß Harald die Tür, lautlos betraten wir das finstere Mordzimmer.

Auf der Schwelle hielt Harst mich zurück.

»Warte und horche!«

Es war nichts zu hören ...

Trotzdem stand er minutenlang still, schloß dann erst die Tür und zog mich in die Türnische, deren dicke Vorhänge ein hinterlistiges Wesen vorhin mit Stecknadeln gespickt hatte. Ich wußte längst, daß das Geräusch der zuklappenden Haustür, das den Wirt gewarnt hatte, nur ein Zeichen des eiligen Rückzugs der Attentäterin gewesen. Ich wußte aber nicht, wem die Stecknadeln gegolten hatten. – Wirklich dem Stromer, der kein echter Stromer sein sollte, oder gar uns, die alle die zu fürchten hatten, deren Gewissen nicht ganz sauber war?! Auf Harsts scheinbare Behauptung, der alte, bärenstarke Mann hätte ermordet werden sollen, war nichts zu geben. Auch Harst benutzt der Worte leichten, betörenden Fluß zu allerhand Irreführungen. –

Es waren noch keine zehn Minuten verstrichen, als von den Fenstern her ein kaum wahrnehmbares Geräusch ertönte und urplötzlich in dieser erstickenden Finsternis etwas so Seltsames sichtbar wurde, daß minder gute Nerven an höllischen Spuk gedacht hätten – – Gehirnnerven.

In der pechschwarzen Finsternis leuchteten grüngelb zwei menschliche schmale Hände mit verwaschenen Konturen und bewegten sich ...

Wieder knackte eine Diele ...

Wieder rauschte es leise wie von einem seidenen Regenmantel, an dem die Seide eines Kleides sich reibt ...

Die Dunkelheit war vollkommen.

Sie hing vor uns wie ein schwarzes Tuch, auf dem nur die Hände matt glänzten und langsame, unbestimmte Bewegungen taten.

Die eine Hand war halb geschlossen, und aus dieser Hand sprang nun, uns völlig blendend, eine Lichtbahn, grell und weiß, blitzartig hervor, huschte über die Dielen vor dem Vorhang und erlosch, so daß nur wieder die mit Leuchtfarbe getränkten Handschuhe der fremden Person dort am Fenster sichtbar blieben.

Harst sprang zu, – ein leiser Schrei, ein Splittern von Glas, und draußen im Wirtsgarten das dumpfe Aufschlagen einer umstürzenden Leiter. Erst nach mehreren Minuten kommandierte Harald sehr gedämpft:

»Licht!!«

Er lehnte sich nun erst zum Fenster hinaus. Die eine Scheibe des offenen Flügels war zertrümmert.

Draußen lag nur noch die Leiter, und die Dunkelheit jenseits des Lichtstreifens unserer Taschenlampen war bester Schutz für den Flüchtling.

»Licht aus!!«

... Wir horchten ... Minuten verstrichen ...: Dann irgend woher das leise taktmäßige Surren eines Autos, rasch verstummend.

»Wieder Pech gehabt, mein Alter!«, flüsterte Harald. »Nun, können wir schlafen gehen, denn ...«

Er schwieg, hielt den Atem an ...

In der Nähe erklang ein Pfiff, dann fuhr eine kleine Handrakete in die Luft, warf grüne Sternchen aus, und – alles war wie zuvor.

Harst lachte trocken ...

»Lebewohl, Freund Stromer!!«

»Du meinst?!«, fragte ich überstürzt.

»Komm' nur ...«

Das Sofa war leer, eins unserer Fenster nur angelehnt.

Harst schloß es, ging zu Bett und sagte nur mit philosophischer Ruhe: »Gute Nacht, Max Schraut ... Die Geschichte wird uns noch viel Arbeit machen.« –

Am nächsten Tage fragte mich Harst nach dem Mittagessen in unserem kleinen Eigenheim, Berlin W., Arnoldstraße, ob ich inzwischen über die Vorkommnisse der letzten Nacht irgendwie ein kleines Bild gewonnen hätte. '

Ich verneinte ehrlich.

Wir hatten übrigens über die ganze Angelegenheit kein Wort mehr gewechselt. Nur sein Material über den Kongreß der Stummen hatte er mir zur Durchsicht überlassen, es war sehr mager, und nur zwei Punkte fielen mir in der Unmenge von Zeitungsausschnitten und aus deren harmlosen Inhalt notwendig auf.

1.) Der Kongreß tagt diesmal in der Villa Professor Saduzzis, eines berühmten Krebsforschers und Operateurs, in der Zeit vom 15. bis 28. Oktober des Jahres und

2.) ein bekannter amerikanischer und ein weniger bekannter holländischer Philanthrop hatten den Mitgliedern des Bundes der Stummen zwei Millionen gestiftet, über deren Anlage und Verwendung der Bund nun auf dem Kongreß in einer Versammlung des Vorstandes endgültige Beschlüsse fassen sollte.

Trotzdem maß ich auch diesen beiden Punkten keine besondere Bedeutung bei. Saduzzi war, wenn auch naturalisierter Ausländer, eine anerkannte Größe seines Faches, und daß schwerreiche Wohltäter einem Bund der Stummen Millionen spenden, war auch nicht weiter aufregend.

Harst hatte, nachdem ich seine Frage verneinend beantworten mußte, zunächst eine frische Zigarette angezündet und meinte nun in seiner knappen Ausdrucksweise: »Die leuchtenden Hände waren mir das Wichtigste. – Der Anschlag galt dem Pseudo-Stromer, – das heißt, der Mann ist wirklich zum Landstreicher herabgesunken, er sollte sterben, und die Unbekannte, die uns die tausend Mark für den seltsamen Auftrag zahlte, war die Erfinderin des Gedankens, den Alten zu bestechen, damit er uns belauschte und dann durch die Stecknadeln stürbe ...«

Ich war nicht ganz so fest überzeugt von dieser Theorie. »Und die Geisterhände?!«, warf ich aufmunternd ein.

Harald lächelte unmerklich. – Seit dem Ableben unseres jungen Freundes Fred Steen, der dort in St. Juif den Tod gefunden hatte (vergl. den vorigen Band »Das Geheimnis von St. Juif«), war Harst stets sehr ernst und traurig gewesen, und einmal hatte er so nebenbei geäußert, er würde erst wieder seine alte Elastizität zurückgewinnen und über diesen Verlust hinwegkommen, wenn er Gelegenheit fände, einem genau so jungen Menschenkinde, wie Fred es gewesen, das Leben zu retten oder es doch zumindest vor schwerster Gefahr zu schützen.

Er lächelte, – und ich freute mich darüber. Aber der frohe Glanz hinter meinen Brillengläsern erstarb, als Harst in die Tasche faßte und ein Paar merkwürdig zerknitterte graue Damenhandschuhe aus Glaceleder, jedoch vielfach beschabt, vor mich hinlegte.

»Bitte, das fand ich heute früh im Straßengraben der Chaussee unweit des Gasthofes »Eldorado«. Du zogst es vor, einen Abschiedsgrog mit Herrn Brandt zu trinken. Ich zog es vor, mich draußen umzusehen.«

Ich fühlte mich beschämt. – »Sind es die leuchtenden Hände«, Harald?«

»Was sonst?! – Es sind die leuchtenden Hände, mit denen die zweite Frau unserem Stromer durch das Fenster Zeichen gab, als wir nebenan zunächst nicht zum Fenster hinauszuschauen wagten. Diese zweite Frau verständigte sich also mit unserem Strolch in der Fingersprache, wie sie unter Taubstummen üblich ist und verhalf ihm zur Flucht. Die Rakete brannte der Stromer als Zeichen ab, daß er entkommen sei, und die »Leuchtenden Hände« werden ihm die Rakete und die Zündhölzer draußen auf das Fenstersims gelegt haben.

Nachher nahm die Frau den Flüchtling an der mit ihm vereinbarten Stelle in ihren Wagen auf, bevor meine Schlaftablette noch wirkte. – Ich denke, ich werde mich in alledem kaum zu irrigen Schlußfolgerungen haben verführen lassen. – Was würdest du nun tun?«

Derartige Fragen sind mir stets etwas unbequem. Ich zucke dann gewöhnlich die Achseln und spiele den großen Schweiger. – Harald deutete auf die Handschuhe. »Sie' sie dir an ...! Billigste, getragene, gestopfte Ware! Die »Leuchtenden Hände« sind nicht reich und werden das Auto gemietet oder eine Taxe benutzt haben. Ich habe bereits die Detektei Schirmer beauftragt, überall Nachfrage zu halten ... Derartigen Kleinkram können wir nicht allein erledigen ... – Es wäre dies die einzige Art, vielleicht den Namen der leuchtenden Hände zu erfahren, denn die Villa Saduzzi möchte ich vorläufig noch nicht behelligen, zumal draußen auf der Straße seit elf Uhr ein paar Eckensteher den heute so heiteren Himmel anglotzen und nur immer mit einem Auge nach unserem Hause schielen, – das heißt, wir werden scharf überwacht. Die Dame, die uns tausend Mark und acht vergiftete Stecknadeln spendete, hat eben ihre »Grillen« hierher kommandiert ... Elegante Frauen haben ihre Schrullen und Grillen, dieses Weib hat männliche Grillen mit zwei Beinen zur Verfügung ... Ich fürchte, der famose »Bund der Stummen« wird demnächst auffliegen, und in Moabit (das Berliner Untersuchungsgefängnis) werden die Zellen sehr knapp werden und die Grillen nicht mehr zirpen ... – Wir sind uns doch wohl darüber einig, daß die Dame mit dem Tausendmarkschein nicht zufällig »zirpte«, – und ein so tadellos imitiertes harmloses Signal sagt mir, daß innerhalb dieses Bundes der Stummen, dem anerkannt einwandfreie Gelehrte und Künstler angehören, insgeheim Dinge betrieben werden, die dem Scharfrichter Arbeit geben könnten.«

Damals fiel zum ersten Male aus Haralds Munde der Ausdruck »Grillen« für bestimmte Leute.

Die Königsgrille sollten wir erst später kennenlernen.


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