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10. Das bittere Brot.

Was ist aus den Bewohnern des Pußtenhauses geworden?

*

Nach dem großen Schlage, der die Familie Vilagoschi getroffen hatte, war es das Erste und Dringendste, den hinfällig gewordenen Familienvater nach Pest zu schaffen und dort den Rat der Ärzte einzuholen. Man mußte Böschke das Haus und das Kind überlassen.

In Pest ließ man von den berühmtesten Weisen der Heilkunde ein Konsilium abhalten. Diese gaben gar schlimmen Trost. Eine langwierige Krankheit, lautete der Ausspruch, die zuletzt der Tod heilt. Der beste Rat, den sie zu erteilen vermöchten, sei: Zurück mit dem Kranken nach Hause, aufs Land, ins Grün!

Dort ist er ja eben irrsinnig geworden! Und gegen dies Übel giebt es keine Arznei in allen sieben Apotheken der Hauptstadt.

Eines Vormittags erwartete man eben den Arzt, als die zum Fenster hinaussehende Ilonka ein Bauernmädchen mit einem kleinen Knaben auf der Straße erblickte. Die Dörflerin trug auf dem Rücken ein großes Bündel.

»Sieh nur, Mutter,« sagte Ilonka, »wenn ich nicht wüßte, daß Böschke mit meinem Brüderchen daheim auf der Pußta ist, so würde ich sagen: das sind sie!«

Die Bauerndirne mit dem kleinen Knaben blieb aber gerade vor dem Thor des Gasthofes, in dem die Vilagoschi's abgestiegen waren, stehen, um sich zu erkundigen. Wenige Minuten darnach ging die Thür auf und sie traten ein. Von der Sonne verbrannt, mit Staub bedeckt, alle beide, Böschke und der kleine Stumme.

»Um Gotteswillen! was ist geschehen?« rief die Vilagoschi erschrocken, während Ilonka auf ihr Brüderchen losstürzte und den kleinen Stummen in die Arme schloß, der ermüdet und erschöpft mit lautem Schluchzen an ihre Brust sank.

»Was es giebt? was geschehen ist?« sagte Böschke, indem sie das in ein ungeheures Linnen gebundene Bündel herabschwenkte und auf den nächsten Tisch stellte. »Nun, ich werde gleich alles der Reihe nach erzählen. Aber wenn es erlaubt ist, so setze ich mich nieder, denn wir sind zu Fuße bis hierher gekommen und überdies habe ich auch den kleinen Junker auf dem Arm getragen, wenn er müde war.«

Damit ließ sie sich auf einen Stuhl nieder, und nachdem sie sich die bisher in der Hand gehaltenen Schuhe an die nackten Füße gezogen hatte, fühlte sie sich im Stande, zu beginnen.

»Also, wie meine gnädige Herrschaft abgereist war, kommt am vierten Tage ein Wagen angefahren mit einem rothaarigen Fiskal und mit einem übergetretenen Herrn – Sie wissen ja, so nennen wir unter uns die jetzigen Stuhlrichter. Der brachte noch einen Schreiber mit sich und einen Haiducken. Also wie die zwei Herren hereinkommen, fragen sie nicht erst und warten auf keine Antwort, sondern lassen den Schreiber gleich sich niedersetzen; der nimmt Feder, Tinte und Papier heraus und fängt an aufzuschreiben, wie viel Spiegel im Zimmer sind, wie viel Stühle, wie viel Spinden! Hm! denke ich mir, was soll denn das werden? Dann fragten sie mich, ob ich die Spindenschlüssel habe. ›Freilich habe ich sie.‹ Warum soll ich lügen, wenn ich nicht will? Ich möge sie also herausgeben. ›Nun ja! nicht einmal dem Höllenpater!‹ Nun, ihnen sei's einerlei. Dann zündeten sie sich ein Licht an, zogen eine Stange Siegellack hervor und fingen an, kleine Papierschnitzel auf die Kästen über das Schlüsselloch zu kleben. ›Hören Sie, meine Herren, das erlaube ich nicht, daß Sie unsere Spinden mit Siegellack verpetschieren. Hier ist alles mir anvertraut, und ich gestatte nicht, an irgend was zu rühren, wenn der Herr nicht zu Hause ist.‹ Schreit mich da der rothaarige Fiskal an: ›Warum ist er nicht zu Hause? Eben deshalb legen wir Beschlag auf seine Sachen, weil er mit seiner ganzen Familie durchgegangen ist.‹ Nun wahrlich, da haben wir eingesehen, daß ohnehin alles zu Ende war. Was von Sachen vorhanden, läßt der Gutsherr wegen des unbezahlten Pachtschillings in Beschlag nehmen, und es gehört nicht mehr unserem Hauswirt; wer's konfisziert, wird auch dabei Wache stehen. – Die Welt ist groß, schau jeder, wo er hinauskommt! in dem Haus übernachten wir nicht länger. Ich riß denn das erste beste Lailach heraus, packte das Bündel hier zusammen, warf mir's über den Rücken, nahm den kleinen Stummen auf den Arm und fort ging's in die schöne Welt hinaus, und jetzt sind wir da.«

Bei Frau Vilagoschi brach jetzt der Schmerz aus. Ihr stummes Kind ans Herz drückend, schluchzte sie: »Wir sind Bettler geworden, mein Kind! von Haus und Hof verjagte Bettler.«

Ilonka weinte nicht, sie preßte ihre feinen Lippen über einander und achtete, sich selbst vergessend, wie der Steuermann eines vom Sturm umhergetriebenen Schiffes, nur auf ihre Umgebung.

Während Frau Vilagoschi weinte und schluchzte, saß der Familienvater in einem Armstuhl und schien nichts zu hören und zu verstehen von dem, was vor ihm gesprochen wurde. Oder vielleicht hörte und verstand er all das, und es quälte eben sein Gemüt, was er verstand, während seine Seele nicht mehr so viel Macht über die Nerven hatte, seine Empfindungen mitzuteilen. Dumpf starrte er vor sich hin ins Leere. Ilonka ging zu ihrer Mutter, küßte ihr das Antlitz und wischte die Thränen ab.

»Weine nicht, Mutter. Komm zu Dir. Wir dürfen nicht in Verzweiflung verfallen. Sieh auf den Vater und auf dies kleine stumme Kind. Gott hat sie uns anvertraut, wir müssen für sie sorgen, die nicht selbst für sich sorgen können. Damit wir dies im Stande sind, müssen wir stark bleiben. Ihr habt mich durch viele Jahre in allem unterrichten lassen, was einer Frau zur Zierde gereicht. Ich kann Französisch und Englisch. In der großen Stadt leben viele vom Sprachunterricht. Auch der Sprachlehrer, von dem ich gelernt, hatte ein gutes Auskommen und lebte mit seiner Familie sehr anständig.«

»Das war ein Mann!« stammelte die Mutter.

»Ich denke, Frauen und kleine Kinder lernen noch lieber von einer Lehrerin.«

»Aber Du bist selber noch ein Kind, Du bist ja kaum sechszehn Jahre alt.«

»Deshalb kenne ich die Sprachlehre doch gründlich und bin im Stande, andere zu unterrichten.«

Frau Vilagoschi ergriff die Hand ihrer Tochter, als bangte ihr, sie zu verlieren.

»Kind, bedenke – doch freilich, Du hast nicht einmal eine Ahnung davon, welche Gefahren, welche Versuchungen einem jungen Mädchen auflauern, das allein durch die Welt wandelt! Wer wird Dich vor ihnen behüten, wer wird Dich schützen?«

»›Ich selbst!‹ Fürwahr, das ist ein großer Herr, der auf die Frage der Welt zu antworten vermag ›ich selbst.‹ Ich habe keinen vor mir und keinen hinter mir. Ich behüte mich selbst!«

Frau Vilagoschi konnte der Tochter mit keinem Worte mehr widersprechen; sie zog nur Ilonka's Arm um ihren Hals, umschloß mit den Händchen des kleinen stummen Knaben deren Nacken und stammelte mit thränenerstickter Stimme: »Thue denn mit uns, was Du willst; nimm das Schicksal Deines Vaters, Deiner Mutter, Deines armen Bruders in die Hand. Gott stehe Dir bei, meine teure, gute Tochter.«

Ilonka ließ noch an demselben Tage in die Blätter der Hauptstadt einrücken, ein junges Mädchen wünsche Damen und jungen Fräuleins Lektionen im Französischen und Englischen zu geben.

Andern Tags wurde sie sofort in ein vornehmes Haus gerufen und kehrte mit der erfreulichen Nachricht zurück, ihre erste Schülerin sei eine liebenswürdige Dame, welche ihr für eine Stunde täglich dreißig Gulden monatlich zahlte.

Ilonka erzählte ihrer Mutter, ihre erste Schülerin sei eine reiche Bürgersfrau. Sie harrte lange, daß ihre Mutter sie um den Namen dieser Bürgersfrau fragen werde; doch diese that es nicht. Sie selbst aber beeilte sich nicht, es unbefragt zu sagen. Wozu auch? Frau Vilagoschi kannte in Pest keine Seele; ihr war es gleichgültig, ob die Bürgersfrau so oder so hieß. Ihr genügte die Beruhigung, daß ihre Tochter zuerst in eine bürgerliche Familie kam. Sie hielt dieselbe für eine sehr ernste Familie, in die die Lockungen der großen Welt noch nicht gedrungen seien.

Auch das empfahl ihr die Bürgersfrau von vorn herein, daß dieselbe um 7 Uhr morgens die Stunde nehmen wollte. Wer früh aufsteht, hat viel zu thun, und wer viel zu thun hat, ist eine gute Hausfrau. Und so mußte das ein sehr gutes Familienleben sein.

Das war nun freilich nicht die Ursache, weshalb die Lektion auf eine so frühe Tagesstunde verlegt wurde; der Grund war vielmehr, daß die reiche Dame schon um 5 Uhr morgens auszureiten pflegte, und somit die Stunde von der Rückkehr bis zur neuen Toilette am besten zu einer Sprachlektion verwerten konnte, da sie dann den ganzen übrigen Tag frei hatte. Nicht minder war es eine gelegene Stunde für Ilonka, denn sie konnte gleichfalls den ganzen Tag bei ihrer Familie zubringen und für Geld nähen und sticken, was ihr immerhin ein paar Gulden für die Küche eintrug.

So verging ein guter Monat, ohne daß Elemer Ilonka gesehen. Und doch war er schon auf die Spur gekommen, daß die Vilagoschis nach Pest gezogen seien. Was war hier aus ihnen geworden! Er flanierte tagelang auf den Straßen umher und ging auch ins Theater, um irgendwo diejenigen zu sehen, die er suchte. Ja, er fragte sogar bei der Polizei an, dort aber wußte man wirklich nichts von ihnen.

Und doch verkehrte er jeden Tag in jenem Hause, in das Ilonka ging; er setzte sich jeden Tag in den Armstuhl, welchen Ilonka verlassen hatte; nur war es höchst natürlich, daß für Elemer, bei dem der Tag erst um neun Uhr begann, es eine astronomische Unmöglichkeit war, mit jemand zusammenzutreffen, der schon um acht Uhr sein Tagewerk beendet hatte.

Und die distinguirte Bürgersfrau, die bei Ilonka Englisch lernte, war Frau Lemming. Daß Malwine selbst Ilonka nie vor Elemer erwähnte, dafür mochte sie ihre guten Gründe haben.

Herr Lemming lud den jungen Herrn Elemer häufig zu Tisch. Nach dem Diner zogen sie sich ins Rauchzimmer zurück, wo sie bei Mokka und Curaçao sich unterhielten und von allerlei tollen Abenteuern sprachen. Natürlich waren es Abenteuer mit schönen Mädchen und schönen Frauen. »Nun, sind Sie seitdem wieder Ihrer Unbekannten mit dem blauen Schleier begegnet?« erkundigte er sich während einer Pause bei dem Kaffeeschlürfen nach der Herzensangelegenheit seines jungen Freundes. »Zweimal bin ich ihr wieder begegnet. Wiederum war ihr Gesicht verschleiert, sodaß ich ihre Züge nicht erkennen konnte. Es ist aber so ganz ihre Gestalt, ihr Wuchs, ihr Gang, daß ich darauf schwören möchte, sie sei es. Wieder erging es mir wie das erste Mal. Ich grüßte sie, sie dankte nicht. Ich sprach sie an, sie hörte nicht. Dann begann ich ihr nachzugehen, um zu erfahren, wo sie wohnt. Da war sie auf einmal verschwunden, wie eine leibhaftige Hexe. Und ich bin doch überzeugt, sie ist es.«

»Und weiß keiner von den bekannten Gentlemen etwas von ihr?«

»Nein, niemand; weder im Kiosk, noch beim Mandolettibäcker. Und doch, wer sie nur einmal gesehen, vergißt sie nicht wieder. Schon das ist auffällig, daß sie keine jener häßlichen Krinolinen trägt, welche die Frauen erscheinen lassen, wie bei Büffon die Mutterköniginnen der weißen Ameisen. In der Hand trägt sie einen en tout cas, bald offen, bald geschlossen und am Hute einen blauen Schleier.«

»Und sie verschwindet, wenn sie jemand verfolgt?«

»Sie verschwindet!«

Herr Lemming hätte Elemer Aufschluß geben können, denn er hatte von seiner Frau oft genug gehört, daß dasselbe kleine Mädchen, welches jetzt als Lehrerin in sein Haus kam, das Ideal des Junkers gewesen sei; sie hatte es jedoch ihrem Gemahl auf die Seele gebunden, nichts davon an Elemer zu verraten. Ilonka war aufrichtig gegen Malwine gewesen. Sie vertraute ihr an, nicht mehr mit Elemer zusammen treffen zu wollen. Sie schämte sich vor ihm, ihrer Armut wegen.

Zufällig aber mit ihr zusammen zu treffen, war für Elemer im Hause Lemmings eine Unmöglichkeit, da er noch den Schlaf der Gerechten schlief, wenn Ilonka dort ihr Tagewerk schon vollbracht hatte. In der Stadt begegnete er ihr manchmal, wenn sie zum Arzte eilte. Doch der Schleier machte sie unerkennbar.

»Lieber Freund,« sagte Lemming, »mir kommt es sehr verdächtig vor, wenn ein Mädchen einen früheren Bekannten beim späteren Zusammentreffen nicht erkennen will.«

»Mir auch.«

»Als Sie früher mit ihr zusammenkamen, war sie ja noch ein ganz anständiges Mädchen.«

»Sie war noch ein Kind. Sie ging nie ohne Begleitung der Mutter aus.«

»Jetzt geht sie aber ohne Mutter aus und allein; und trifft sie mit Ihnen zusammen, will sie Sie nicht erkennen. Das ist kein gutes Zeichen. Mir sind schon viele ähnliche Fälle bekannt.« Elemer schnitt bei diesen Worten ein sehr grimmiges Gesicht.

»Nun,« fuhr Lemming fort, »am Ende liegt weiter nichts daran. Man kann sich eine Nuß schmecken lassen, auch wenn man sie nicht mit eigenen Zähnen aufknackte. Manchmal ist die Wirklichkeit mehr wert als die Illusionen. Mir bangt nicht um Sie. Den Henker auch! Sich Sorgen zu machen um meinen Freund Elemer, wegen eines schönen Mädchens! Wenn sich die Sache ›so‹ verhält, dann um so besser!«

›Wie‹ sich die Sache verhält – das freilich sagte er nicht.

Elemer mußte sehr oft ausspucken, wegen des bitteren Saftes der Cigarre.

»Apropos!« sagte Lemming, »ich kaufte dieser Tage ein schönes Reitpferd; ich dachte, Malwine einmal zu überraschen, indem ich ihr nachreite, sobald sie nichts davon ahnt. Ich nahm eine Lektion in der Reitschule, bin aber verflucht dabei angekommen. Ich dachte, zum Reiten brauche es nichts, als daß man das eine Bein links, das andere rechts an der Seite des Pferdes hat. Nun ich danke schönstens! Als sich der Vogel Greif mit mir in Bewegung setzte und ich fühlte, daß unter mir die Welt mobil wurde, griff ich mit beiden Händen umher, wollte mich an der Luft festhalten und riß dabei den Zügel zur Seite; da begann mein Pferd auf den Hinterbeinen, nach rückwärts zu gehen. Und als ich nun ein ›Hüo!‹ losließ da fings so schnell an zu traben, daß es mir die Seele klein rüttelte; bei jedem Stoße dachte ich, ich rennte mir den eigenen Kopf ein; und wie erst am entgegengesetzten Pole! Alle Wetter, hätte ich mich nicht mit der Rechten rückwärts am Sattelknopf gehalten, so wäre es um mich geschehen gewesen! Jemehr ich dem tollgewordenen Tier ein ›Oho!‹ zuschrie, um so mehr griff es mit mir aus, bis ich es an der Mähne zurückzog. So hob man mich halbtot aus dem Sattel. Aber das weiß ich, in meinem Leben besteige ich kein Pferd mehr!«

Herr Lemming wußte, daß Reitpferde die schwache Seite Elemers waren. Sein hochgeborener Papa hielt ihm – so lange sie noch auf gut verwandtschaftlichem Fuße standen – immer ein Reitpferd und Elemer hielt sich daher für einen kühnen Reiter.

»Was werden Sie nun mit dem Pferde beginnen?« schnappte der Junker nach dem neuen Gegenstande und ließ sogleich sein früheres Thema, betreffs des verfolgten blauen Schleiers, auf sich beruhen.

»Ei, ich werde es behalten. Dann und wann trifft sich doch ein bekannter Kavalier, der meine Frau hinausbegleitet nach dem ›Stadtwäldchen‹. Können Sie reiten?«

»Ich will es meinen! Ich kann ja sonst ohnehin nichts.«

»Dann können Sie ja alle Tage mit Malwine ausreiten!«

»Herzlich gerne!«

»Aber dann müssen Sie in der That früh am Morgen aufstehen. Meine Frau galoppiert schon um 5 Uhr im Stadtwäldchen.«

»Ladet man mich zum Jagen, zum Reiten ein, dann ist es mir nie zu früh. Wenn sie wollen, bin ich noch vor Tagesanbruch da. Wann befehlen Sie also?«

»Meinetwegen schon morgen.«

»Hier meine Hand. Ein Pferd kauften Sie bereits; jetzt engagieren sie mich dazu als Stallmeister.«

»Der Vertrag ist geschlossen. Das Traktament: freies Frühstück bei mir – bis zum späten Abend.«

»Ich trete in Dienst!«

Andern Tags fünf Uhr früh war Junker Elemer in der That da.

Der Kutscher Lemmings sagte ihm, die gnädige Frau sei bereits eine Viertelstunde vorher weggeritten.

»Macht nichts, ich werde sie schon einholen.« Zwei Stunden lang durchritt er kreuz und quer, bald im Schritt, bald galoppierend, die kleinen Parkanlagen, nirgend aber traf er mit Frau Lemming zusammen. Nun, das Pester »Stadtwäldchen« ist kein Wald in dem zwei Reiter längere Zeit mit einander Versteckens spielen könnten. Dann saß er noch eine volle Stunde im Kiosk, an dem Malwine unbedingt vorbei mußte, wenn sie im Stadtwäldchen war; doch auch dort bekam er sie nicht zu Gesicht. Endlich mußte er sich entschließen, ohne die seinem Schutze anvertraute Amazone zurückzureiten.

Als er zu Lemming hinaufging, um dem Bankier zu erzählen, welche guten Eigenschaften er an dessen Pferd entdeckt habe – Leute, die früher nie ein Pferd besaßen, hören es gerne, daß ihr Tausendguldenroß Tugenden für fünftausend Gulden besitze – fand er Malwine bereits zu Hause.

Man war eben im Begriff zu frühstücken. Für Elemer hatte man ein drittes Couvert zurechtgelegt.

»Ah, Sie sind mir ein schöner Kavalier!« – rief ihm Herr Lemming entgegen. »Wo haben Sie meine Frau gelassen?«

Elemer warf zuerst einen Blick auf Lemming, sodann auf Malwine, und fühlte sich sofort orientiert.

Er dachte sich: dieser mein Freund Lemming will das Roß und mich benutzen, um zu erfahren, ob seine Frau wirklich in den Stadtwäldchenalleen sich den amazonenhaften Gelüsten der Leibesübung hingiebt? Nun, – so sehr Roß sind wir beide nicht.

Plötzlich verwandelte sich seine Miene des Erstaunens in ein vertrauliches Lächeln, und er sagte: »Also hast Du mich verraten, Stiefmama? Ei, und ich wollte doch Papa Lemming sagen, daß wir uns nicht getroffen haben!«

»Aha, falschherziger Betrüger!« – lachte Herr Lemming – »jetzt endlich erwischten wir Sie. Also ziemt es sich, die begleitete Dame im Stich zu lassen und dem ersten besten blauen Schleier nachzusprengen?«

»Mißbrauchen Sie nicht Ihre Kenntnis meiner schwachen Seite.«

»Aha! Sie sind ein arger Windbeutel! Sie vermögen sogar die Höflichkeit zu vergessen, überkommt Sie die Narrheit. Glückliche Jugend! Auch ich war in meiner Jugend so. Wäre ich aber Malwine, so würde ich nie wieder mit Ihnen ausreiten. Sie sind ja sogar fähig, sobald Sie Ihre blaue Fee ersehen, vom Pferde herabzuspringen und der Dame, welche Sie begleiten, die Zügel mit den Worten zu reichen: Halten Sie, Madame, indes ich diesem Rehlein nachjage.«

Elemer lachte selbst am meisten über Lemmings Witz.

Herr Lemming übernahm es, unseren Freund Elemer von seinen unzeitgemäßen Schwärmereien zu heilen.

Herr Lemming hatte das Geld dazu; denn eine solche Heilmethode kostet Geld: Die Schwärmerei für Frauen durch Verachtung der Frauen zu kurieren.

Unter uns gesagt, es bedurfte nicht vieler Anleitung dazu bei unserem Junker Elemer. Er besaß sehr schöne Anlagen, um jene Musterbilder zu erreichen, die ihr ganzes Leben hindurch nur Studenten bleiben; sie werden grau, sogar kahlköpfig, und bleiben dennoch Studiosen. Besonders dem schönen Geschlecht gegenüber bekommen sie das burschikose Alter nie hinter sich. Sie suchen in der Liebe leichte Siege, und weil sie zu diesen leicht gelangen, da sie die Liebe nur als dienende Magd kennen gelernt haben, so glauben sie nicht an deren königliche Majestät, und kennen die Wonne der Huldigung nicht.

Herr Lemming war, so lange er in Wien wohnte, stets ein großer Lebemann gewesen. Die Genußsucht eines solchen braucht dann auch in Pest nicht Hungers zu sterben. Wenn dann irgend eine Wiener Kunstreitergesellschaft hier ihr Wanderzelt aufschlug, so fanden ihre Mitglieder bei uns genug Bekannte. Herr Elemer traf hierbei in Lemming einen trefflichen Lehrmeister, der ihn in die rechten Gesellschaften einführte. Zu solcher Zeit bildeten Clowns und Kunstreiterinnen seinen täglichen Umgang. Uebrigens giebt es auch unter diesen wackere, achtenswerte Persönlichkeiten, aber die läßt man hübsch in Ruhe. Dagegen giebt es andere, welche gewiß niemand verschmachten lassen. Dort lernt man dann, daß die Frauen alle gleich sündig sind, nur daß die eine es besser zu verleugnen weiß als die andere. Die eine bekennt sich schon beim Benevolum sündig, die andere wartet erst die Folter ab. Manche stirbt sogar unter den Martern; dennoch war auch sie sündig, nur daß sie sich bis zum Tode zu verstellen gewußt.

Elemer lebte sich ganz in das wüste Schlaraffenleben hinein; die Gefühle, die er im Sommer, auf der Rasenbank des Pußtenhauses sitzend, mit seinen Thränen getauft hatte, ließ er im Winter zum Gegenstand des Scherzes werden und anabaptisierte sie mit Wein in Herrn Lemmings Gesellschaft.

»Dieser Lemming ist ein fideles Haus. Man hätte es gar nicht von ihm denken sollen.«

Die blauverschleierte Fee aber konnte Elemer durchaus nicht erhaschen. Und doch trieb er sich den ganzen Tag über auf der Straße umher; und doch saß er täglich auf demselben Stuhl, von dem seine einstmalige Geliebte am selben Tage aufgestanden war, nahm er täglich das Buch in die Hand, das sie kurz vorher zugeklappt hatte, und seine Finger berührten dieselben Stellen, welche von den ihren eben durchblättert worden waren, ohne daß sie ihm von einem geheimen Zauber erzählt hätten, den sie bei dieser Berührung empfanden.

Jetzt erfüllte dies Bild seine Seele nur noch als eine irdische Erscheinung.

Mit Eintritt der rauhen Jahreszeit mußte Malwine ihre Morgenspazierritte aufgeben und somit wurde auch die englische Lektion auf eine spätere Morgenstunde verlegt. So war es denn unvermeidlich, daß Elemer mit Ilonka zusammentraf.

Eines Vormittags ging der Junker zu Herrn Lemming hinauf einen Besuch zu machen. Der Finanzier hatte keine Zeit mit seinem jungen Freunde zu plaudern und schickte ihn zu seiner Frau.

Herr Lemming wußte sehr gut, daß seine Frau ausgegangen war und auch ihre Gesellschafterin mitgenommen hatte, um in einer Modewarenhandlung Einkäufe zu machen, und daß sich im Zimmer seiner Frau Ilonka allein befand, welche einstweilen die englischen Aufgaben durchsah. Trotzdem hatte er Elemer bloß gesagt, er möge zu seiner Frau hinübergehen.

Der junge Herr glitt schlittschuhlaufend und eine Melodie trällernd über die weichen Teppiche der dazwischen liegenden Salons hinweg. Malwine hatte in ihren Gemächern keine Flügelthüren, bloß halb zurückgefaltete schwere Vorhänge, durch deren Öffnungen man eine Perspektive durch die Salons gewann. So wie Elemer in den ersten eintrat, erblickte er im dritten seine kleine blaue Fee an einem Tische sitzend, wie sie, in eine Schrift vertieft, etwas mit Blei darin ausbesserte.

Während er über die Teppiche der beiden dazwischen liegenden Zimmer hinwegschritt, flog es ihm durch den Kopf: Das sei ja die oft erwähnte Sprachmeisterin, welche zu einer Stunde hierherkomme, zu welcher er sich daheim schlafen zu legen pflegte. Und so ging Ilonka täglich in diesem Hause ein und aus, in welchem er selbst, so zu sagen, seine Wohnung aufgeschlagen hatte und doch hatte er sie bisher noch nicht gesehen. Gewiß war das ein ihm absichtlich gespielter Possen. Gewiß wurde er von jedermann darüber ausgelacht. Und dies Mädchen gehörte also wirklich zur dienstthuenden Klasse und konnte als solches nicht einmal auf die gegen sie früher beobachteten Rücksichten Anspruch machen.

»Ah! habe ich Dich endlich, Du kleine entwischte Fee!« Mit diesen Worten stürzte Elemer in die dritte Stube und ging mit ausgebreiteten Armen auf die Erscheinung los.

Das aufgescheuchte Mädchen sprang plötzlich von ihrem Sitze empor; statt aber seinen Schrecken in irgend einer mädchenhaften Art zu offenbaren, griff es kaltblütig zu dem am Stuhle lehnenden en-tout-cas und hielt dessen Spitze im vollkommensten en garde Tempo dem jungen Herrn vor die Nase.

»Hoho, junger Mann, rennen Sie sich nicht das Auge ein.«

Auf diese Art von Widerstand hatte Monsieur Elemer in seinem »Konversations-Taschenbuch« keine Replik in petto; soviel jedoch war ihm klar: Wenn er sich nicht ein Auge ausstoßen will an diesem en-tout-cas, so muß er denselben mit seinem Spazierstock parieren.

»Ah, Sie können auch fechten?« rief das Mädchen, »nun, sehen wir, was Sie gelernt haben.«

Damit stellte sie sich in die regelrechteste Fechtpositur und stieß unserem Freunde eine prächtige »Sekonde« in die Seite, so daß der Schaft des en-tout-cas sich umbog; aber nicht abbrach, denn er war gutes Fischbein. Unser Freund Elemer sah ein, daß er hier ernst auf seine Verteidigung bedacht sein müsse; denn das war fürwahr kein Spaß und er selber war ja lange genug in die Fechtschule gegangen.

Bei einem ungedeckten Ausfalle erhielt er indessen eine solche »Terz« über den Nagel seines Daumens, daß er allen weiteren Attackeversuchen entsagen mußte. Dieses entsetzliche Mädchen setzte ihm mörderisch zu mit ihren unwiderstehlichen Angriffen und schlug ihm zuletzt mit einer meisterhaften »Quart« den Spazierstock aus der Hand, daß dieser bis zum Lustre hinaufflog und zwischen dessen Glasprismen stecken blieb; während der junge Herr Elemer, vor einem darauffolgenden totdrohenden Stoß retirierend, in Malwinens Stickrahmen hineingeriet und darauf mit solcher Gewalt niederplumpste, daß die halbfertige ausgespannte Stickerei durchbrach. Damit aber das Unheil vollständig sei, ertönte in diesem Augenblick aus dem zweiten Zimmer ein schallendes Gelächter. Malwine war nach Hause gekommen und zwar unmittelbar nachdem der junge Herr eingetreten, und hatte so von Anfang bis zu Ende dem martialischen Schauspiele zugesehen, das für ihren Stiefsohn mit einer so entschiedenen Niederlage endigte. Elemer war wie vernichtet. Jetzt erst sah er, wie feig, welch' ein Schwächling er sei. Selbst ein Mädchen schlägt ihn – wenn es will. Malwinen dagegen gefiel dieser Spaß unendlich.

»Ah! das ist prächtig, das ist gottvoll! Hahaha! Brava Ilonka! Brava mein kleines Mädchen! Ich würde es nicht für eine Million geben, daß mein Freund es hier so abbekommen hat. Das geschieht ihm recht!« Und sie klatschte entzückt Beifall.

Ilonkas Gesicht glühte. Sie schämte sich vor sich selbst und vor Elemer. Sie freute sich ihres Sieges und errötete darob. Sie schämte sich, in eine so einfältige Lage gekommen zu sein, in der ein junges Mädchen genötigt war, einen jungen Mann – für dessen Blumen sie einst geschwärmt hatte – wegen einer rohen und albernen Ungezogenheit, die er sich hatte herausnehmen wollen, in dieser Art zu bestrafen und sich mit ihm zu schlagen, wie ein Bruder Studio mit dem andern. Elemer stand da, vor Scham blaß wie die Wand. Er hob seinen Hut auf, der ihm entfallen war und sagte mit heiserer Stimme zu Ilonka: »Sie haben mich getötet.«

Ilonka wandte sich ab von ihm und wünschte ihm von ganzer Seele, daß sie ein geschliffenes Rappier in der Hand gehabt hätte und daß der Stoß ihm mitten durchs Herz gegangen wäre. Möge er gehen und sterben, nachdem er bereits getötet worden.

Elemer ging auch. Seiner Stiefmama sagte er nicht einmal Adieu; denn sie hätte ja ohnehin vor Lachen nicht zu sich kommen können.

Er kehrte übrigens auch später nicht wieder; er verschwand so spurlos, daß niemand erriet, wohin er gekommen sei. Er besaß einen Paß fürs Ausland, und so konnte er in die weite Welt gehen. Daß er sich nicht in die Donau gestürzt, war daraus zu vermuten, daß er noch am Tage seines Verschwindens seinem Advokaten in der Prozeßangelegenheit gegen seinen Vater eine Vollmacht und zugleich die Weisung erteilt hatte, wenn er bis zu seiner Rückkehr zu Geld kommen sollte, davon Herrn Lemming die für ihn gemachten Auslagen zurückzuzahlen. Endlich ließ er ihm sein Testament zurück für den Fall, daß er binnen zwei Jahren nicht zurückkehren oder früher schon die Nachricht von seinem Tode einlaufen sollte.

Also er starb nicht, soviel schien gewiß.

Malwine war hingerissen von Ilonka.

»Meine Liebste! Sie sind eine wahrhaftige Amalazuntha! Sie haben gekämpft wie eine Jungfrau von Orleans. Sagen Sie mir, haben Sie fechten gelernt?«

»Jawohl, noch als Kind, als ich in die Turnschule ging.«

»Ah, das ist eine herrliche Kunst! Das muß ein Hochgenuß sein. In der Luft zu spielen mit der spitzen Klinge und zu sagen: Gieb Acht, oder Du stirbst! Aug' in Aug' geheftet und Stahl gegen Stahl gezückt, den Stoß des tollkühnen Angreifers zu parieren und dann ihm einen Gegenstoß zu versetzen, daß das Eisen ihm mitten durch die Seele geht.«

Die Dame schauderte in sich zusammen – vor Wonne.

»O, es war immer mein sehnlichster Wunsch, fechten zu lernen, wenn ich nur jemand gehabt hätte, von dem ich es hätte lernen können. Bei einem Fechtmeister aber kann ich nicht Unterricht nehmen. Das würde mich ins Gerede bringen. Sehen Sie, Sie könnten mir täglich eine Fechtstunde geben.«

»Ah, gnädige Frau ...! Ich kann ja selber nicht viel.«

»Als ob ich Ihnen nicht zugesehen hätte! Sie haben den jungen Herrn zu Paaren getrieben, wie ein Spadassin.«

»Er kam in Verwirrung und vergaß, was er gelernt hatte.«

»O, ich wäre vollauf mit dem zufrieden, was Sie können. Entschließen Sie sich. Täglich noch eine Fechtstunde nach der englischen Lektion. Einige Motion wird Ihnen nicht schaden. Ich schicke Sie dann stets zu Wagen nach Hause, damit Sie sich nicht erkälten, wenn Sie erhitzt sind. Und dann zahle ich Ihnen als Unterrichtsgeld monatlich 100 Gulden.«

Ilonka nahm das Anerbieten an. Es ist das ein schönes Geld, und so gut wie für nichts. Für etwas Vor- und Rückwärtsspringen und einige Handbewegungen auf und ab. Und wenn man für all das besser zahlt, als für die Kenntnis der englischen Sprache! Allerdings ist es etwas Ungewöhnliches, daß ein hübsches, junges Mädchen sich mit einem derartigen Metier Geld verdient; allein der Erwerb ist ein ehrenhafter; es ist nichts daran, dessen man sich voraus zu schämen oder das man nachträglich zu bereuen hätte.

*

 


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