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3. Einer aus der Reihe der kleinen Leute.

Drei Tage nach der Kongregation war es auf den Straßen jenes Städtchens wieder so still geworden, daß es ein Ereignis genannt werden konnte, als ein kleines, schönes Mädchen mit einer Haube aus nationalfarbenen Bändern am Köpfchen – die man »Parta« heißt – die Straße hinabging. Hübsch ist die Kleine, das ist wahr. Ihre schlanke, schmächtige Gestalt verrät ein Alter von kaum vierzehn Jahren; auch ihr offenes, jugendliches Gesicht ist das eines Kindes; ein rotwangiges Gesicht mit glänzenden, himmelblauen Augen, einem lächelnden niedlichen Munde, aus dessen Winkeln der mutwillige Schalk hervorguckt, und mit reiner, heiterer Stirn, welche der Unschuld unbeschriebenes Blatt entrollt. Jede Bewegung des jungen Mädchens ist so leicht, so elastisch, daß sie die lange Straße des Städtchens durchschreitet, ohne auch nur die äußersten Spitzen ihrer Stiefeletten zu beschmutzen, und doch gehört im November, wie man uns gern glauben wird, keine geringe Geschicklichkeit dazu, sich die vom Kote freien Steine dieser Straße so auszuwählen, daß die Gamaschen nicht kompromittiert werden. Und dabei ist sie so bescheiden und vorsichtig, auch nicht durch die geringste Lüftung ihres Kleidersaumes dem jugendlichen Begleiter, der ihr zur Serie schlendert, Gelegenheit zu geben, von diesen schönen Füßchen mehr zu sehen, als eben nur diese schönen Füßchen.

Der jugendliche Begleiter ist Elemer Harter, der, einen Regenschirm haltend, neben dem schönen, kleinen Mädchen einherstiefelt und ihr auf der Straße den Hof macht, wie dies in kleinen Städten üblich.

Jedoch dem vorausgehenden Paare folgte die Mama auf den Fersen.

Die Figur der Mama werden wir später einmal beschreiben; jetzt fällt die mit tausend Knöpfen besetzte Gyöngyöscher Mente, wie sie damals von den älteren Frauen so stattlich getragen wurde, all' zu sehr auf.

»Ich bitte Sie, halten Sie doch den Regenschirm nicht über mich aufgespannt,« sagte das kleine Mädchen zu ihrem Begleiter; »erstens, weil es jetzt ohnehin nicht regnet, und zweitens, würde es auch regnen, so würde mir das Wasser vom Schirm gerade auf den Hals träufeln.«

»Das sagen Sie nur, damit ich Ihnen nicht so nahe komme. Nun trösten Sie sich, ich werde bald weit genug von hier sein.« – »Sie ziehen gewiß aufs Land hinaus?« – »Mein Vater geht aufs Land; doch mich schickt er noch weiter fort. Ich gehe nach England.« – »Können Sie Englisch?« – »Ich kann Beafsteaks essen. Eine andere Aufgabe werde ich ohnehin nicht haben.« – »Sehen Sie, ich kann Englisch; und ich werde doch nie nach London kommen.« – »Ja Sie! Besäße ich soviel Kenntnisse wie Sie, so wäre ich schon längst irgendwo Gesandtschaftsattaché.« – »Nun, das könnten Sie ja auch so sein.« – »Auch so? Ich danke für das Kompliment.« – »Dann kommen Sie mir nicht so nahe, wenn Sie sich vor meinen Komplimenten fürchten.« – »Wer kann dafür, wenn es der Mücke beliebt, geradezu ins Licht hineinzufliegen.«

»Nun, das ist aber von Ihrem Papa sehr konsequent gehandelt, daß er, nachdem er uns den nächsten Fasching verdorben hat – Sie wissen ja, daß jedermann in den Bann gethan ist, der in diesem Trauerjahr einen Ball besucht – wenigstens auch die Tänzer aus dem Lande schickt.« – »Gut. Ich werde ihm das sagen.« – »Was kümmert's mich! Ich fürchte mich sogar vor dem nicht, vor dem Sie alle sich fürchten. Um so weniger werde ich mich vor einem fürchten, vor dem Sie selbst keine Angst haben.«

Elemer konnte nichts dafür, aber bei diesen Worten mußte er lachen.

»Was soll ich Ihnen aus England mitbringen, wenn ich zurückkomme?« – »Wollen Sie mir wirklich etwas mitbringen? Nun denn, wissen Sie was, bringen Sie mir – irgend ein verbotenes Buch.« – »Ein verbotenes Buch?« fragte Elemer erstaunt. – »Nun ja, irgend ein Buch, das zu verkaufen nicht erlaubt ist, worin den Großen Wahrheiten gesagt werden, die sie nicht gern hören. Irgend so ein gefährliches Buch oder Bild, wofür man eingesperrt wird, wenn es die Mauthbeamten bei einem finden.« – »Danke für die Kommission. Ich werde es besorgen.« – »Nein, nein! Ich habe nur gescherzt; das ist nichts für mich, ich würde es nicht einmal lesen. Wenn Sie mir aber wirklich etwas vom Auslande mitbringen wollen, so bringen Sie uns – irgend eine kleine gute Nachricht.«

»Darf ich den Damen Nachmittags meinen Abschiedsbesuch machen?« fragte Elemer, als die Frauen vor dem Thore ihres Hauses angelangt waren.

»Nein, nein!« beeilte sich das kleine Mädchen der Mama zuvor zu kommen. »Heute Nachmittag können wir Sie nicht brauchen. Ich muß für den heutigen Tanzabend mein Kleid zurecht machen, ich bin selbst mein Stubenmädchen und sehe es nicht gern, daß mein Stubenmädchen Besuch bekommt, wenn es mein Kleid plätten soll. Sie werden mir schon in der Tanzsoirée sagen können, was Sie mir sagen wollen. Adieu!« damit flog sie zum Thore hinein, leicht wie eine Gemse, welche sich springend vorwärts bewegt, weil ihr das Gehen noch schwerer fällt.

Junker Elemer aber drückte seine Mütze mit dem wallenden Reiherstrauß in die Stirne und dachte bei sich selbst, indem er mit gesenktem Haupt den Weg zurückging, den er gekommen war: »Du kleines Ding wirst nicht auf die Soirée gehen, für welche Du Dich putzest; und ich werde Dich vielleicht nicht mehr wiedersehen in diesem Leben.«

»Drinnen ist eine Visite!« – flüsterte die Dienstmagd den nach Hause Kommenden zu, als sie in die Küche traten. In den kleinen Städten ist nämlich der Eingang nach den Wohnungen regelmäßig durch die Küche. »Wer?« – »Die Danvary.« – »O weh!« sagte die Frau. Das Fräulein aber sagte nichts, sondern flüchtete sich in das hintere Zimmer.

»Sie quält den gnädigen Herrn schon seit einer Stunde,« meinte die Magd; »inzwischen sind ihm bereits graue Haare gewachsen.«

Frau Danvary, die drinnen der Ankommenden harrte, besaß die spezielle Eigenschaft, alles zu wissen, was in der Stadt vor sich ging, und was sie noch nicht wußte, dem ging sie nach, bis sie es erfuhr.

Übrigens nahm sie, was ihr Volumen betrifft, in der Welt einen großen Raum ein, sowohl mit ihrem Körperbau, als mit ihrer Krinoline; und den Raum, den sie wohl oder übel frei lassen mußte, suchte sie soweit als möglich mit Moschusgeruch anzufüllen. – Im übrigen trug sie eine ungarische Haube von echt Debrecziner Geschmacke.

»Gott sei Dank, daß Du endlich kommst, meine Liebe!« piepste die verehrliche Dame, als Frau Vilagoschi zur Thür hineintrat, und die beiden Frauen sich abküßten, wobei sie die größte Vorsicht beobachten mußten, um nicht mit ihren Zitternadeln sich die Augen auszustechen.

»Ich warte hier wenigstens schon eine Stunde auf Euch, und stehle Deinem lieben Manne die kostbare Zeit; mir zwar schien es nur eine Minute, so angenehm war mir die Unterhaltung (man muß wissen, daß sie nie einen Anderen zu Worte kommen ließ), ihm aber, weiß ich, ist jede Minute kostbar in seinem so beschwerlichen Amte, zumal jetzt, wo alle Prozesse und Akten auf seinen Schultern ruhen, und er so zu sagen allein das ganze Komitat ist. Die Kongregation hat beschlossen, daß der Archivar auf seinem Platze bleiben soll. Jetzt befehlen wohl Sie allen Haiduken, nicht wahr?«

»Nein, nicht ich, sondern der Regierungskommissär.«

»Ah, der Regierungskommissär? und pariert man ihm? erkennt man ihn an? stößt man ihn nicht in den Kehricht, wenn er etwas befiehlt? ach, wenn ich Mann wäre! na, gewiß, wenn uns Frauen das Schicksal des Landes anvertraut wäre, weiß Gott, die Regierung würde Not mit uns haben. Aber die Männer sind eben furchtbar zahm. Gerade heute habe ich zu Hause eine Hetze gehabt, eine Hetze mit meinem Georg wegen der Antwort, die wir auf die Einladung zum heutigen Ball geben sollen. Weißt Du, meine Liebe, ich bin eben deshalb hierher gekommen, um zu hören, was Ihr dazu sagt. Der Regierungskommissär giebt heute Abend einen Ball in demselben Komitatssaal, aus dem er das Komitat eben jetzt hinaus gejagt hat. Alle Notabilitäten des Komitats und der Stadt haben Einladungen erhalten. Ich höre, daß sehr viele sie zurück geschickt haben. Auch mein Mann erhielt eine, d. h., sie lautete auf die ganze Familie. Nun, ich habe mich mit Georg schon deshalb herum gezankt: ›Wo denkst Du hin, Djuri! daß ich heute dort tanzen soll, wo ich noch in voriger Woche den Hymnus mitsingen half; ich soll Bücklinge machen vor der Frau des Kommissärs!‹ aber der Djuri, der ein entsetzlich schlafmütziger Mensch ist, kam immer wieder darauf zurück, daß es schwer sei, die Einladung eines so vornehmen Herrn zurückzuweisen, und daß man schließlich ja nicht Leib und Seele verschreibt, wenn man bei ihm ein Glas Wein oder Eis verzehrt. Was sagt Ihr nun dazu: Wird gegangen oder wird nicht gegangen?«

»Ich sagte Ihnen schon, liebe Frau Gevatterin,« erwiderte Vilagoschi, »Jeder mag thun, was ihm das Beste dünkt.«

»Reden Sie doch nicht, lieber Herr Gevatter. Ich will von meiner Justine wissen, was ihre Meinung ist. In so etwas haben wir Frauen den richtigsten Takt.«

»Nun, ich sage Dir,« antwortete Frau Vilagoschi, »daß ›Ihr‹ die Einladung annehmen und auf den Ball gehen sollt.«

»Nun ja. Du kannst auch nicht anders reden: Du hast recht. Der Herr Gevatter ist noch im Komitatshause, er muß auf seinem Posten bleiben. Euch ist's nicht möglich, mit dem Regierungskommissär Finger zu ziehen. Und dann, wer ein so schönes erblühendes Töchterchen hat, wie es mein kleines Pathchen ist, der muß doch jede Gelegenheit ergreifen, um es der Welt zu zeigen. Ihr könnt aber auch wirklich mit ihr prangen. Ich rede garnicht von ihrer Schönheit, die hat ihr der liebe Gott gegeben, aber von all den schönen Fähigkeiten, welche sie mit eigenem Fleiße ausgebildet hat. Fürwahr, mein Täubchen, das ist ein Wunderkind! sie spielt auf dem Klavier eine ganze Opernpartitur vom Blatt herunter, die allerschwerste; wenn sie tanzt, sieht alle Welt nur auf sie, denn so viel Anmuth und Grazie läßt sich bloß bei Feen denken, und graziöser können auch die nicht sein. Und dann, meiner Seele, als sie noch turnen ging, hat sie auch dort nicht allen Knaben den Preis streitig gemacht? Man sollte glauben, daß sie gleich entzwei bricht, wenn man sie ansieht, so schlank ist sie, und doch schwang sie den schwersten Bleiklumpen mit einer Leichtigkeit, als wäre sie der stärkste Bursche; auch mit dem Rapiere soll sie umzugehen verstehen! und erst die vielen Sprachkenntnisse! sie spricht Deutsch, Französisch, Englisch. Nun, das wird hübsch! heute soll auch ein Engländer auf den Ball kommen; der wird sich mit niemandem aus der Stadt unterhalten können, als mit der Ilonka. Aber Euch gebührt Lob dafür, daß Ihr Eurer Tochter eine so gute Erziehung gegeben habt. Ihr habt sie so erzogen, daß, wenn ein armer Mann sie heiratet, er eine fertige Hausfrau bekommt, ein vornehmer Herr aber eine elegante Dame, mit der er sich in der Welt zeigen kann. Bringe ihr, meine Liebe, diese Küsse. Gott segne Euch! ich küsse Dich tausendmal! Adieu Liebe! ich wünsche guten Appetit. – Also, mein lieber Herr Gevatter, Sie raten uns, die Einladung zum Kommissärball anzunehmen?«

»Ich habe garnichts geraten, meine Frau hat es gethan.«

»Nun, ergebenste Dienerin, ich gehe schon; zu Hause werden sie nicht wissen, wo ich geblieben bin; aber wenn einem in so angenehmer Gesellschaft die Zeit so rasch verstreicht! ich küsse Euch alle hunderttausend millionenmal.« Endlich war sie doch fortgegangen.

Als Mann und Weib allein waren, sahen sie sich eine Weile stumm an. Dann fielen sie einander in die Arme – und weinten. Warum? Das wußten sie sehr wohl. Sie hatten so gute, ehrliche Gesichter, alle beide. Nicht schöne, aber gute Gesichter. Und das schöne Kind ist nur ein Beweis dafür, wie sehr die Eltern einander lieben. Als sie ihre Thränen getrocknet hatten, frug der Mann sein Weib: »Weißt Du, warum diese Frau heute hier war?«

»Um aus unseren Vorbereitungen zu erfahren, ob Du Dein Komitatsamt schon definitiv niedergelegt hast.«

»Und wenn ich es niedergelegt hätte, würde ihr Mann nichts Eiligeres zu thun haben, als sich auf den leer gewordenen Stuhl zu setzen.«

»Darum sagte ich ihr, sie möge die Einladung des Kommissärs nur annehmen.«

»Jetzt höre aber, meine Liebe, wie ich mit dem Regierungskommissär fertig geworden.« Die Frau setzte sich auf das Sofa und zog den Gatten an ihre Seite.

»Der Regierungskommissär empfing mich sehr freundlich; er sagte mir, weshalb er mich habe rufen lassen. Ich kannte natürlich seine Absicht. Es sei sowohl für ihn, als für das Publikum durchaus nötig, daß ich auf meinem wichtigen Posten bliebe, auf dem ich mir seit zwölf Jahren alle Detailkenntnisse zu eigen gemacht. Ich sagte ihm, daß ich den Posten schon sechszehn Jahre bekleide. Mich habe noch das konstitutionelle Regime, die alte Welt, auf diesen Posten berufen, und die darauf Folgenden hätten mich darauf belassen, weil sie mich brauchten; der neueste, kurze konstitutionelle Sommernachtstraum habe mich neuerdings durch die Stimme des Volkes darauf bestätigt; jetzt aber gebe ich den Posten auf und bliebe nicht länger. Er fragte mich, warum ich denn gerade jetzt gehen wolle, wo wir ein ungarisches Provisorium hätten, während ich unter dem österreichischen Provisorium mein Amt weiter geführt? Ich antwortete ihm: ›damals diente ich, denn man verlangte die Einwilligung der Nation in das Willkürsystem nicht; wer aber jetzt fortdient, willigt selber ein in das, was er gegen die Nation thut; da giebt es keine indifferente Lage mehr. Damals verfügte nur mein eigener Wille darüber, ob ich bleiben solle oder nicht; jetzt ist es der Wille der Nation, daß ich gehe, und ich gehorche der Nation.‹ Darauf begann er, mir Mut zuzusprechen; ich solle mich vor Verfolgung nicht fürchten; wenn die Ultras mir etwas anhaben wollten, werde er mich schützen; er werde die Wühler zur Ordnung bringen. – Dieses Wort machte mich bitter. – Ich sagte ihm, daß ich glaubte, es werde eine Zeit kommen, wo er nicht mehr auf diesem Posten sein werde, und dann würde ich wieder zurückkehren. Ich dachte, für diese Rede würde er mir die Thür weisen. – Im Gegentheil. – Als ich ihm eine so tollkühne Grobheit sagte, ergriff er meine Hand; er bat mich, nicht ungehalten zu sein, und überhäufte mich mit Lobsprüchen; Jedermann, sagte er, der Advokatenstand, spreche zu meinen Gunsten und liege ihm an, mich zum Verharren auf meinem Posten zu bestimmen, weil sie mich für einen verständigen, fleißigen und gewissenhaften Menschen hielten, der die Partei nicht brandschatzt; ich möchte im Interesse derjenigen bleiben, die mich lieben und achten. – Da erwähnte er noch, um der Sache Nachdruck zu geben, sogar der abgedankte Obergespan Ferdinand Harter habe mich ihm ganz besonders empfohlen. – Das gab den Ausschlag. – ›Nun, dann bleibe ich auf keinen Fall im Amte, mein Herr!‹ – That ich recht so?«

Statt einer Antwort umarmte die Frau ihren Gatten und drückte ihr glühendes Antlitz an seine Wangen.

»Warum glüht Dir das Gesicht so sehr? Jetzt also, teures Weib, heißt es, das Leben von vorne beginnen. Ich sagte es zwar, glaube es aber selbst nicht, daß eine bessere Zeit kommen wird, die uns für die jetzigen Opfer bezahlt. Ich sage nicht, daß sie uns belohnt, sondern nur, daß sie uns in dasjenige wieder einsetzt, was uns genommen wurde. Ich werde diese Zeit nicht abwarten. Wenn ich gehe, so gehe ich auf Nimmerwiederkehren. Ich habe die Gnade der großen und kleinen Herren satt und suche mir eine Laufbahn, auf der ich von niemandem eine Gunst zu erbitten brauche, außer von Gott allein, und auch von ihm nichts anderes als Regen und Sonnenschein. Ich werde Landmann. Hier an der Theiß ist ein Gut zu verpachten. Unser bischen erspartes Geld reicht aus für die vorläufige Pacht und die nötigen Investitionen. Du weißt, es ist zurückgelegt aus dem Lohn ehrenvoll geleisteter Dienste. Es ist unmöglich, daß ihm der Segen Gottes nicht folge. Was sagst Du dazu, teures Weib? Noch habe ich nichts abgeschlossen, noch habe ich nichts gelöst.«

Die Frau trocknete ihre Thränen und bemühte sich, in ruhigem Tone zu sprechen. »Alles ist gut, so wie Du es beschlossen hast. Mit Dir gehe ich beruhigt überall hin, wohin es auch sei.«

»Von Dir war ich es überzeugt. Aber unsere arme Ilonka? Ihr hätte sich jetzt die Welt erschlossen. Und jetzt müssen wir sie auf einmal vor ihr versperren. Mit allem, wozu wir sie bisher mit so viel Sorgfalt heranbilden ließen, wird's jetzt ein Ende haben. Es folgt das einförmige Pußtenleben. Es ist für sie ein Friedhof, wohin wir gehen.«

»Das arme Kind! Der Sohn Harters begleitete es heute aus der Tanzprobe nach Hause, weil es regnete; sie sprachen von den Vorbereitungen zu der abendlichen Tanzunterhaltung. Wenn ich mich freue, daß daraus nichts wird, so ist's deshalb, weil sie mit diesem jungen Menschen nie mehr zusammenkommt. Jetzt macht sich die Arme ihren Ballanzug zurecht. Begleite mich zu ihr hinüber; wenn Du es ihr sagst, fällt es ihr vielleicht nicht so schwer.«

Vater und Mutter gingen hinüber in die Nebenstube der Küche, wo das Kinderzimmer war. Sie hatten noch einen kleinen Sohn, einen sechsjährigen Knaben, der – taubstumm war. Als Frau Vilagoschi die Thür öffnete, fand sie Ilonka auf dem Stuhle sitzend, den kleinen Bruder vor sich auf dem Schoß.

Der arme, stumme Knabe sah mit staunender Aufmerksamkeit ihr ins Gesicht, während sie ihm Buchstaben in der Fingersprache vormachte.

»Du rüstest Dich nicht zum heutigen Ball?« fragte die Mutter.

»O, ich möchte heute sogar nirgends hingehen. Schau, Laczika hat schon wieder einen Anfall von seinem alten Übel. Er sieht wieder überall Gespenster; er läuft wieder umher, weint und zittert schon bei hellem Tage, wie wird's erst in der Nacht sein, wenn es finster ist. Du siehst, er hat nur Ruhe, wenn ich ihn auf den Schoß nehme, und dann sage ich ihm in der Fingersprache das Vaterunser vor; wenn wir zu der Bitte kommen: ›Und führe uns nicht in Versuchung‹, dann beruhigt er sich und beginnt zu lächeln; er kann das Gebet aber nicht im Kopfe behalten, und wenn er es sich wiederholt und auf eine Stelle kommt, die er vergessen hat, dann verzweifelt er.«

Damit fuhr Ilonka fort, mit dem Fingerzeichen, welche die Sprache der Stummen ist, dem Kinde das Gebet vorzusagen; das Kind machte mit den Händchen die Fingerbuchstaben nach; es ging wie ein Spiel; und mit einemmal verschwand vom Antlitz des Knaben der furchtsame Ausdruck, die blassen Züge erheiterten sich, und, von Dank erglühend, schmiegte er sich an die Wange der Schwester und umschlang ihren Nacken.

»Mein armer Lacziska, was wirst Du in der Nacht anfangen, wenn Du Deine böse Schwester nicht an Deiner Seite findest? Deine böse Schwester geht tanzen und läßt Dich hier allein weinen bis zum Morgen. Deine garstige Schwester!«

Und mit diesen Worten drückte sie das Brüderchen an ihren Busen und küßte es ab. Ihre Thränen fielen dabei in hellen Tropfen auf die blonden Locken des Knaben. Und es war ein schöner kleiner Knabe, schön wie die Engel, nur daß er nicht sprechen konnte, wie diese es wohl können.

Der Vater trat zu den Kindern. Die Mutter vermochte nicht zu reden. »Liebes Töchterchen! Du machst Dir also nichts daraus, wenn wir heute nicht auf die Tanzunterhaltung gehen?«

Der Blick, mit dem das Mädchen den Vater ansah und seine Hand an die Lippen zog, war genügende Antwort auf diese Frage.

Jetzt wagte der Vater, seiner Tochter auch noch mehr zu sagen.

»Und was würdest Du dazu meinen, liebes Mädchen, wenn ich Dir sagte, daß wir diese Stadt gänzlich verlassen, daß wir irgend wohin auf ein Dorf oder auf die Pußta ziehen und Landwirte werden?«

Ilonka sprang bei diesen Worten in die Höhe, ergriff die Hand des Vaters, die sie mit Küssen bedeckte, und dann schaute sie ihm wieder ins Gesicht, als wolle sie fragen, ob das nicht alles bloß ein Scherz sei?

»Wir gehen wirklich aufs Land? Wir alle zusammen? Und wir bleiben für immer dort? O, teurer Vater, wie wohl wird es uns dort sein!«

Der arme kleine Knabe hätte so gerne gewußt, worüber sein Schwesterchen sich so sehr freute. Ilonka beeilte sich, es ihm zu verdolmetschen, aber diesmal schon nicht mehr mit der langwierigen Fingersprache, sondern mit jener eigentümlichen Stenographie der Stummen, in der sie sich untereinander so schnell zu unterhalten wissen. Sie zeigte ihm, daß sie weit, weit von hier fortgehen, zu Wagen sitzend, mit Peitschengeknall; dann würden sie an einen Ort kommen, wo großgehörnte Kühe, Schafe und Hühner sind, wo es kleine Tauben zu füttern giebt und Kaninchen, wo auch ein Garten ist, in dem sie Blumen pflanzen, jäten, begießen und Obst von den Bäumen pflücken werden; dann große Heuschober, in denen man sich nach Herzenslust herumwälzen, und weite, weite Flächen, auf denen man sich frei umhertummeln kann.

Der kleine Taubstumme verstand das alles. Wie es ihm verständlich wurde, ist ein Geheimnis, das nur diejenigen begreifen, die daraus ein Studium machen. Und als seine Schwester in ihrer stummen Erzählung fortfuhr, wurde er allmählich immer heiterer, und lachte zuletzt sogar mit jenem verworrenen Gekicher, durch welches die Taubstummen ihre Freude auszudrücken pflegen. Er lachte laut und zwang seine Schwester mit zu lachen.

Der Gatte und die Gattin standen, sich stumm die Hände drückend, vor diesem Schauspiel. »Gott hat uns doch lieb.«

Vilagoschi schrieb gleich nach Tische seine Abdankungserklärung; er überbrachte sie garnicht persönlich, sondern schickte sie dem Regierungskommissär unter Kouvert.

Damit hatte er die Brücke hinter sich abgebrochen.

Ihn wird man nicht mehr unter den begünstigten Personen erwähnen.

Er gehörte zu den »kleinen Leuten«: es war also ein geringfügiges Ereignis. Sein Verschwinden wird keine Lücke lassen, weder in der Gesellschaft, noch in der Verwaltung. Er wird schnell vergessen sein.

Schon Tags darauf begann die Familie des abgedankten Archivars ihre Übersiedlung nach der gepachteten Pußta. Sie verkauften ihr Klavier, ihre schmucken Möbel und ihre Seidenkleider wie sich Käufer fanden.

Am dritten Tage saß der Mann jener korpulenten Frau bereits auf dem erledigten Archivarposten.

Und am vierten Tage stattete das verehrliche Publikum in seinen Prozeß- und Geschäftsangelegenheiten dem neuen Archivar so zutrauliche Besuche ab, als wäre er von jeher dort gewesen.

Auch der Ball des königlichen Kommissärs wurde am besagten Abend abgehalten. Ich weiß, daß man bis zum Morgen tanzte. Tags darauf beeilte sich zwar jedermann seinen Bekannten die zwingenden Umstände auseinander zu setzen, die ihn genötigt hatten, dort zu tanzen – aber trotzdem, getanzt hatte er doch!

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