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Heimkehr

Als Hans Holtz früh am Morgen durch das verschlafene Städtchen geht, kennt er sich selbst nicht mehr. Er schaut an sich herunter – nicht nur äußerlich ist er ein andrer Mensch geworden, nein, sein Schritt ist so beschwingt, seine Last auf dem Rücken so leicht. Die Morgensonne liegt auf den stillen Straßen. Die Landleute grüßen ihn freundlich, und die Mägde, die mit den gefüllten Milcheimern aus den Ställen kommen, nicken ihm zu.

Der Wanderer wendet sich dem Kanal zu. Die Brücke weist ihm den Weg. Durch Wiesenwege mit Heide und Ginster geht es; dann blinkt der Kanal auf. Hintereinander fährt eine Reihe Schiffe dahin; ihre Rauchfahnen steigen fast senkrecht zum Himmel, und ihre Stimmen rufen weit über die Marschen.

Die Fähre unter der Brücke, die eine durch den Kanal unterbrochene Landstraße verbindet, kommt mit Tacktack langsam herüber. Der Ton bedeutet für Hans Holtz Musik. In ihm singt und klingt es, ihm ist so frei und froh. Er steht auf der Fähre. Der Morgenwind streicht um sein Haar, er reckt den Kopf, unbeschwert und fröhlich. Ob ihm die andern Fahrgäste anmerken, daß er auf dem Heimweg ist zu seiner Mutter und daß er eine so starke innere Freudigkeit hat, daß er laut hinaussingen möchte? Er blickt sich verstohlen um, doch keiner achtet auf ihn.

Holtz nimmt die Natur heute wandernd mit ganz anderm Auge wahr. Haben sich die Bäume ihm zulieb so wundervoll bunt geschmückt? Spielt das Falterpärchen im Sonnenschein, um ihn zu erfreuen? Grüßen ihn die Windmühlen, die die Marsch entwässern? Huscht da nicht ein Wiesel über den Weg? Es wendet den Kopf, ehe es im Knick verschwindet. Ha, es will ihn anschauen, den glücklichen Hans Holtz.

Er schreitet unwillkürlich schneller aus, als wandere er ins volle Leben hinein. An einer Wegkreuzung durchzuckt es ihn; er sieht auf einem Wegschild den Namen des Dorfes, wo seine Mutter wohnen soll. Da erscheinen in der Ferne unter hohen Bäumen die strohgedeckten, weit ausladenden Häuser.

Leute arbeiten auf dem Felde. Er betrachtet die Frauen. Sollte etwa seine Mutter darunter sein? Wenn er nun an ihr vorbeigeht, ohne sie zu erkennen? Doch da schießt es ihm durch den Kopf: Meine Mutter erkennt mich, sie hat mein Bild immer vor sich.

Ein Radfahrer kommt ihm entgegen. Hans bleibt stehen und fragt: »Wohnt hier im Dorfe eine Frau Holtz?«

Der Mann zuckt die Achseln und fährt weiter.

Hans Holtz geht zwischen den Häuserreihen hin. Unregelmäßig ist der Ort angelegt, immer neue Häuser tauchen zwischen Baumgruppen auf. Wege zweigen ab, die zu einzelnen Gehöften führen.

»Es ist am besten. Sie gehen zum Ortsvorstand«, sagt man ihm an der ersten Tür, wo er nach seiner Mutter fragt.

Ein Schild macht das Haus des Dorfschulzen kenntlich. »Jetzt muß es kommen«, denkt Hans Holtz, als er dort anklopft. Doch nichts rührt sich. Nach einer Weile ertönt Hundegebell. Die Frau des Schulzen erscheint. Ihr Mann sei bei der Erntearbeit draußen, sagt sie. Eine Frau Holtz kenne sie nicht. So, bei ihren Verwandten wohne sie? Ihr Geburtsname sei Kohrs? Ja, zwei Familien Kohrs seien hier im Dorfe ansässig. Eine Familie wohne am Ausgang des Dorfes und die andre außerhalb in einem einsam liegenden Gehöft, das nur mit zum Dorfe gerechnet wird, weil eine Straße dort vorbeiführt.

Beklommen wandert Hans Holtz dem Ausgang des Dorfes zu. Sollte ihn seine Ahnung getäuscht haben? Der Name Kohrs sei in ihrer Gegend häufig, hatte die Schulzenftau noch gesagt, da gäbe es in jedem Dorfe Familien, die so hießen.

Doch da erhält er auf einmal Gewißheit: Bei der ersten Familie Kohrs weist man ihn auf die Spur seiner Mutter. Ein junger Mann arbeitet im Hofe, der ihm sagen kann: »Frau Holtz wohnt bei meinem Onkel. Da gehen Sie diesen Feldweg immer geradeaus, an jenem Gehölz vorbei, bis Sie an den nächsten Hof kommen. Da wohnt Frau Holtz.«

Der Sohn kann die Freude nicht mehr verbergen. »Wie geht es Frau Holtz? Ist sie gesund? Sieht sie wohl aus?«

Gleichgültig kommt die Erwiderung: »Was soll man sagen? Gesund ist sie. Ab und zu kommt sie her und fragt nach Post. Der Postbote legt hier die Post für meinen Onkel nieder, dann spart er sich den Weg.« Der Mann wendet sich wieder seiner Arbeit zu.

Jetzt, nach einem ganzen Jahr der Sehnsucht, des Wanderns und Wartens zum erstenmal gewisse Nachricht! Jemand hier im Dorfe kennt die Mutter, spricht ihren Namen aus! Doch da plötzlich hemmt eine große Beklemmung seinen Fuß: Die Mutter lebt, ja sie wohnt hier in der Nähe – doch wie wird sie den Sohn aufnehmen? Haben mich die Träume getäuscht, die mir vorgaukelten, daß sie auf mich wartet? Sie wohnt bei den Verwandten – hat sie nicht dort ihre Heimat, ihr Zuhause gefunden, aus dem sie der Heimkehrer aufstört? Bin ich den Verwandten willkommen, oder vermehre ich nur die unnützen Esser um einen? Wird es der Mutter nicht peinlich sein, ihren Sohn den Menschen, mit denen sie nun zusammenlebt, vorzustellen? Doch die Gewißheit, die ihn heute den ganzen Tag trug, die Gewißheit, daß jede Mutter auf ihren Sohn wartet, ist stärker als alle quälende Hemmung! Wollte ihm das Geschick nur die neue Gestalt geben, um ihn vor seiner Mutter zuschanden werden zu lassen?

Hans Holtz stürmt den Feldweg entlang. Eigentlich ist er froh, wieder aus dem Dorf und der Umgebung der Menschen herausgekommen zu sein. Wenn er jetzt hier seine Mutter so ganz allein träfe – – –

Da kommt ihm eine kleine, dunkelgekleidete Frau entgegen. Den Hut kennt er doch? Seine Mutter trug ihn, als sie ihn vor zwei Jahren an die Bahn brachte, in seiner Heimat.

Es ist seine Mutter, diese tapfere Frau. Kleiner scheint sie geworden zu sein. Die Überraschte erkennt den Sohn erst, als er vor ihr steht. »Mein Junge, mein Junge«, weiter kann die Mutter nichts herausbringen. Dann nimmt sie sein Gesicht zwischen ihre Hände und blickt ihn an.

Sie tritt einen Schritt zurück und mißt die Gestalt ihres heimgekehrten Sohnes:

»Ich hab mir immer vorgestellt, daß du so zurückkommen würdest, mein Hans. Du bist nicht untergegangen unterwegs.« Hans Holtz wird rot. Er denkt an Elke und wie er ausgesehen haben würde, wenn sie nicht an alles gedacht hätte.

.

»Mein Junge, mein Junge!«

»Ich wollte eben ins Dorf und nachfragen, ob du nicht geschrieben hättest. Du hast mich lange warten lassen, Hans, mich, deine Mutter. – Aber nun bist du ja gekommen.«

Dann schreiten sie Hand in Hand durch den milden Sonnenschein nach Hause, die Mutter mit verklärtem Glanz auf dem Antlitz, und der Sohn, der gar nicht weiß, wie er sich vor Freude benehmen soll. Hans Holz hat seine Mutter wiedergefunden.

*

Am Abend weilt Hans Holtz in seiner Kammer, dem Gastzimmer, das ihm die Verwandten zur Verfügung gestellt hatten. Viel zu früh, nach der Meinung seiner Mutter, hat er sich von ihr getrennt. Doch er hat jetzt, nach den Tagen des Erlebens, den Wunsch, mit sich allein zu sein. Die Spannung, die noch am Morgen auf ihm lastete, beginnt nach dem Wiedersehen mit seiner Mutter abzuklingen.

Er schaut aus dem Fenster in das herrliche Abendrot – drei Tage vorher erlebte er das abendliche Schauspiel am Himmel auf Krautsand. Weit am Horizont stehen am Himmel Rauchfahnen; da fahren die Schiffe in dem Bett, das ihnen die Menschen künstlich bereiteten, mitten durch das fruchtbare Land von Meer zu Meer. Schiffe haben ihn begleitet in den letzten Tagen, sie haben in seine Träume gerufen, und hier könnte er wohl eine Heimat finden, wo der Nordwest in glücklichen Tagen die Stimmen der Schiffe zu ihm herüberträgt.

Die Begegnung mit seiner Mutter war viel beglückender und einfacher, als er sich es vorgestellt hatte. Sie fragte nicht viel, sie verlangte von ihm keine Abrechnung, keine Entschuldigung, keine Beichte – der Mutterblick sagte ihm, daß sie alles wußte, was er gelitten und erlebt, gefühlt und gedacht hatte. Die ganze Innigkeit ihrer Seele, all die aufgespeicherte Sehnsucht des Mutterherzens hatte ihn wie ein Sturzbach übergossen. Er muß lächeln; denn als ob es ganz selbstverständlich wäre, so verfügte sie über ihn. Er war wieder zum Kinde geworden, zum Sohn seiner Mutter. Nur eine Mutter kann ihr Kind, auch einen erwachsenen Menschen, so selbstverständlich besitzen.

Ebenso selbstverständlich war der Mutter auch, das fühlte Hans Holtz, der Glaube an das Walten der Vorsehung. Nicht etwa, daß sie nur die Hoffnung nicht aufgegeben hätte: Mein Sohn kommt einmal zurück! Sondern sie hatte ihren Willen und alle ihre Wünsche in die Hand eines Höheren gelegt, der, das wußte sie, alles sieht und kennt, und der auch alles zum Wohl hinausführen würde. Und darum hatte sie es nicht anders erwartet, als daß ihr der Sohn eines Tages wiedergegeben würde. »Ich fühlte immer, daß du nicht untergehen wirst«, hatte sie wieder und wieder gesagt. Dieselben Gedanken hatten ihn selbst in den letzten Tagen bewegt, während er mit Mehrmann zusammen die Elbe befuhr. Das Wesen dieses jungen Menschen war in seiner Art dem der Mutter ähnlich.

Er hatte seiner Mutter heute immer wieder von seinen Fahrten auf den Landstraßen erzählen müssen. Ja, es war so: Draußen in der Natur, in der Landschaft der Dörfer und kleinen Landstädte, hatte er sich immer zur Not halten können, und die Menschen, die er traf, hatten etwas für den Heimatlosen übriggehabt. Nein, betteln hatte er nicht brauchen, konnte er seine Mutter beruhigen; aber ab und zu bat er Leute, die er von der Straße aus am Fenster oder in der Tür ihres Hauses stehen sah, um Unterstützung. Man sieht den Leuten am Gesicht an, welche Gesinnung sie haben, besonders den Landleuten, sagte er. Dann und wann hatte sich auch Gelegenheit geboten, für die Unterstützung zu arbeiten. Darauf hatte die Mutter gemeint – und das rührte den Sohn tief: »Immer, wenn hier Wanderburschen vorbeizogen, dachte ich an dich. Und wenn ich einem von ihnen einen Teller Suppe reichte oder einen alten ausgedienten Rock vom Vater, dachte ich, es kommt meinem Sohn zugute. Fremde Leute werden meinen Hans speisen, Gott vergelt's ihnen.«

Aber in den großen Städten und den Industriezentren kommt man auf die Art nicht weit. Die Menschen sind einander schon so weit entfremdet, daß sie den Besitzlosen nicht mehr sehen. Da hatte er manchmal tagelang gehungert, und er war immer froh gewesen, wenn er in einer Großstadt, die sonst die Menschen so sehr anzieht, den Rücken gekehrt hatte. Nur in Hamburg, da war es ganz anders gekommen.

Mit Kameraden vom gleichen Schicksal war er auch ab und zu tageweise gewandert. Aber er war mit ihnen immer nach kurzer Zeit wieder auseinandergekommen; denn fast durchgängig hatten sich die Leute, wenn sie längere Zeit wurzellos waren, eine eigene Weltanschauung gebildet, eine Philosophie der Landstraße, die nur vom nackten Selbsterhaltungstrieb diktiert war.

Erst gegen Abend, als die Mutter seinen Rucksack ausgepackt und die kleinen Dinge bewundert hatte, die er barg, begann er stockend von den letzten Tagen und dem reichen Erleben zu berichten. Doch während er sprach, klärten sich seine Gedanken, und er wunderte sich darüber, wie abgeschlossen seine Meinung schon über all die Dinge war, die er gesehen und gehört hatte. Den Namen Elke wollte er scheu umgehen – sie trat ja auch erst in seinen Kreis, als sich schon die Kameradschaft zwischen den drei jungen Leuten herausgebildet hatte. Doch die Mutter lächelte in seine Scham hinein, und ihm war es, als wüßte sie alles. Und als er im Überschwang der Gefühle von ihr zu sprechen begann, sagte sie nur: »Ich wünschte, Hans, ich könnte sie auch kennenlernen.«


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