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Die Rettungstat

Ein Nebelmorgen an der Niederelbe. Das ganze breite Stromtal ist in feuchte Schwaden gehüllt, grauweiß und dick. Es ist der erste Nebelmorgen des Spätsommers – ein Künder des nahen Herbstes. Diese Augustnebel an der Elbe sind heimtückisch: Um Mitternacht ist es noch klar; doch kurz vor Morgengrauen verbleichen die Lichter in der Runde, die dem Lotsen den Weg weisen, und gegen fünf Uhr ist es so diesig, daß man die Hand nicht mehr vor Augen sehen kann.

Mit der Flut qualmt eine ganze Flotte Schiffe vom Meer herauf, große schwarze Überseer, Trampdampfer, Küstenfahrer, knatternde Motorschoner, Fischdampfer, Kutter und Lastewer, die morgens ganz früh am Kai sein wollten. Doch die Lotsen nehmen das Wagnis nicht auf sich, im Nebel zu fahren, auch nicht mit halber Kraft. Dazu ist der Verkehr auf der Elbe zu stark. Vor Blankenese stauen sich die Schiffe. Mitten im schmalen, durch die Sandbänke zusammengeschnürten Fahrwasser liegt dazu noch der riesige rotgestrichene Bagger verankert, der alle Minute ein Nebelsignal mit der Glocke gibt. Schon rasselt der erste Anker zu Grund; es ist ein großer Japaner, der sich festlegt und in der Flut herumschwoit. In beängstigender Nähe ankert ein Levantedampfer, den die Flut auch herumdrückt, daß sein Heck fast die Ankerkette des Japaners streift. Daran reiht sich ein englischer Kohlensteamer, eine norwegische Dreimastbark, die schon längst die Segel gestrichen hatte und vorsichtig mit halber Motorkraft fuhr. Die Schoner und Kutter, die geringen Tiefgang haben, ankern näher an den Sänden oder hart gegen den Strand des hohen Wittenberger Ufers. So finden sich bis gegen acht Uhr nach und nach fast zwei Dutzend Schiffe zusammen. Es ist ein Geläute und Getute in allen Tonhöhen. Sie liegen da und sind wehrlos gegen die Macht der Natur. Einer sieht nichts vom andern, nur der Lärm zeigt an, daß es viele sein müssen, die ein machtvoller Arm hier festlegte, um gleichsam über sie alle einmal Appell abzuhalten.

Nicht selten geht es mit dem Nebel an Frühherbsttagen wie heute: gegen neun Uhr, kurz vor Hochwasser, kommt eine leichte Brise auf, die die Schwaden wallend in die Höhe treibt, der Sonne zu, die von oben an der Aufräumung arbeitet. Mit jeder Minute gewinnt die Sicht. Man kann schon den Koloß von Bagger erkennen. Nun setzt vor Blankenese ein allgemeines Kettengerassel ein. Die Dampfwinden auf den Schiffen arbeiten. Gurgelnd heben sich die Anker aus dem Grund, polternd schlagen sie gegen die Bordwand und schütteln den letzten Schlick ab.

Jetzt kommt es darauf an, die zusammengeballte Flotte wieder voneinander zu lösen, ohne daß ein Schiff mit einem andern havariert. Das ist bei der starken Strömung nicht leicht. Im Hafen werden die großen Schiffe von Schleppern bemuttert, hier sind sie hilflos in Strömung und Gewimmel.

Der Levantedampfer ist der erste, der in den Strom dreht und abdampft; hier und dort versuchen Schoner und Kutter von den großen schwarzen Riesen freizukommen, die schwerfälliger sind. Es ist ganz klar geworden, und die Sonne scheint endlich. Nun ist kein Halten mehr, eine richtige Wettfahrt beginnt nach Hamburg hinauf. Die letzten Nachzügler aus dem unfreiwilligen Wettrennen, langsame, tiefbeladene Dreuchewer, steuern töffend an Finkenwärder vorbei mit seiner hohen Werft, dem Außenposten des Welthafens, der sich tief in die niederelbische Landschaft vorgearbeitet hat. An riesigen Öllagern und halbfertigen, seit Jahrzehnten tot daliegenden Hafenbecken geht es vorbei. In der Ferne taucht wie ein graues Gebirge eine vielgestaltige Masse aus Eisen und Stein auf, der Hamburger Hafen mit seinen Masten, Werften, Kränen und Schornsteinen. Die Beamten beim Lotsenhöft haben heute morgen alle Hände voll zu tun, die aufkommende Flotte zu bedienen. Jeden Augenblick hallt das Megaphon über den Strom, den eilig Daherkommenden entgegen: »Wo kummst du her?« »Wat hest loden?« »Wo wist du hen?«

Zwischen der Finkenwärder Werft, den Öllagern und den toten Häfen liegt die schmale Einfahrt zu dem kleinen Jachthafen. Sie führt in ein viereckiges Becken, wo die Segeljachten reihenweise vertäut liegen. Ab und zu läuft ein Nicken und leises, traumverlorenes Wogen durch ihre Linien. Ein Segelboot wird gerade zur Ausfahrt bereitgemacht. Es ist ein Jollenkreuzer, nicht zu groß, auch nicht empfindlich weiß gestrichen, sondern schlicht mahagonibraun lackiert. Die Kajüte ist winzig, kaum dreißig Zentimeter blickt das Kajütdach über das Setzbord, und zwei kleine runde Fenster an jeder Seite sind mit Tüll garniert. Auf dem Deck liegen noch Perlentropfen Wasser vom Nebel. Ein junger Mann ist an Bord; er besorgt alle Arbeit allein, Peter Marquart, Kapitänssohn und angehender Schiffsjunge. Man sieht es ihm ohne weiteres an, daß er viel auf dem Wasser gewesen ist; zwei helle Augen blicken aus seinem gebräunten Gesicht, die Arme sind noch dunkler. Er trägt nur eine Trainingshose zu seinem Sporthemd, aber dazu die unvermeidliche Seglermütze.

Die Fock, das dreieckige Vordersegel, flattert schon. Er setzt gerade das Großsegel. Das weiße Tuch geht in die Höhe und breitet sich aus. Der Großbaum schwingt beim leisen Schaukeln des Bootes hin und her; denn die Wellen finden ihren Weg bis hinein in die stillen Wasser des Jachthafens, wenn ein Tankdampfer besonders nahe an der Böschung vorbeifährt oder ein grüner Fährdampfer Finkenwärder zustrebt. Die Rollen auf dem Boot klappern, das weiße Tuch flattert und knallt in der Brise.

Nun ist alles klar. Wenn er erst draußen im Strom wäre! Die enge Ausfahrt aus dem Jachthafen ist bei schwachem Wind berüchtigt. Tom, der Hafenwärter, der bewährte Helfer in aller Not, hat bereits gemerkt, was für Sorgen Marquart hat. Er kommt mit einer langen hakenbewehrten Stange, bringt das Boot vom Steg ab und legt es in den Wind. Marquart dankt, indem er die Hand an die Mütze legt, springt nach hinten, zieht die Fock nach steuerbord, zurrt sie fest, ergreift das Steuerruder, nimmt das Tau des Großsegels, zieht es zu sich heran und legt es fest. Langsam bekommt das Boot Fahrt; ein kleiner Wirbel hinten und ein leises Plätschern am Bug zeigen es an.

Nun ist das Schiffchen durch die Ausfahrt zwischen den Pfählen hindurch in den Elbstrom gelangt. In geduckter Haltung steht Marquart hinten am Steuer. Es ist gerade Stauwasser, die Wende zwischen Flut und Ebbe. Mitten im Strom flutet es noch, wie die Tonnen anzeigen, die mit den Köpfen schräg nach Hamburg weisen; aber an den Ufern drängt das Wasser bereits zurück. Die verankerten Boote vor dem Strand haben sich schon umgedreht und weisen der beginnenden Ebbe ihre Nase. Ehe das Boot Marquarts in die Strommitte gelangt ist, wird es von der nun in voller Breite daherschäumenden Ebbe erfaßt und fortgetragen.

Marquart setzt sich, streckt behaglich die Beine aus und schaut zwischen dem Segelwerk zum Himmel. Es ist kaum ein Wölkchen da, der Tag wird heiß und ziemlich windstill. Das wußte er schon, als er morgens im dicksten Nebel zum Jachthafen fuhr. Meinetwegen, denkt er, wenn man eine große Fahrt vorhat, kann es gern sachte angehen. Segler, die nur einen Nachmittag zur Verfügung haben, wollen schon eine Mütze voll Wind; aber er hatte ja Zeit, eine Woche, auch gern zwei. Es sollte vorläufig seine letzte Fahrt werden; denn im Herbst geht's auf das Schulschiff. Dann beginnt er seine Seemannslaufbahn, die sich in seiner Familie schon seit über 200 Jahren vom Vater auf den Sohn vererbte. Jetzt wollte er zum letztenmal die Elbe hinunter zum Meer, vielleicht, wenn Wind und Wetter günstig waren, hinaus nach Buschsand, oder nach Scharhörn, vielleicht in die Weser oder gar nach Helgoland oder den Halligen.

Allein kann man so eine Fahrt ja nicht machen, nein, ein Freund fährt mit ihm, Heinrich Mehrmann, dessen Bekanntschaft er vor zwei Jahren auf eigenartige Weise gemacht und den er kürzlich ganz unverhofft in der Eisenbahn wiedergetroffen und zu dieser Fahrt eingeladen hatte.

Immer wenn Marquart an Heinrich Mehrmann denkt, überkommt ihn ein Empfinden der Beschämung über das, was damals, vor zwei Jahren, geschehen war, als er seine erste große Reise machte. Er hatte vom Vater das Geld zu einer Wanderung durch die Schweizer Alpen bekommen, als Prämie für eine gute Schulzensur.

Mit dem Dampfer ging's hinein in die fremde Welt des Vierwaldstätter Sees, und er erinnert sich heute noch genau, wie er einige Tage später mit jungen Burschen aus seinem Hotel drauf und dran war, einen Dreitausender, den Urirotstock, dessen gletscher- und schneebedeckte Kegel durch die Tunnelfenster der Axenstraße imposant in der Sonne herüberleuchteten, zu bezwingen. Es ist ein Berg, der auch von Unkundigen ohne Führer zu erklimmen ist, vorausgesetzt, daß man zwei Tage Zeit hat. Marquart weiß noch gut, wie sie alle, eine übermütige Gesellschaft, am Nachmittag von dem letzten Bergdörfchen Isenthal über die Triften und Almen aufwärtsstiegen, der Alpenhütte entgegen, die hart an der Schneegrenze liegt. Im Abenddämmer langten sie dort an.

Die Gipfelwanderung begann jedoch am nächsten Morgen, und zwar zwei Stunden, ehe die Sonne über die Bergwände stieg. Es fand sich, daß zwei junge Leute, anscheinend Brüder, auch in der Hütte geschlafen hatten und den Urirotstock ersteigen wollten; denn sie traten an die Gesellschaft heran und baten, sich ihnen anschließen zu dürfen, wie es unter Bergwanderern Sitte ist. Sie als Hotelwanderer, die protzend mit ihren dicken Rucksäcken, Seilen und Eispickeln herumstolzierten, schauten spöttisch auf die einfach, ja fast ärmlich gekleideten Jungen, sahen einander blinzelnd an und zuckten die Achseln. Junge Menschen und Kinder können sehr grausam sein, und Marquart erinnert sich noch, wie er einem von seiner Gesellschaft, der den beiden zurief: »Macht, daß ihr nach Hause kommt, wenn ihr kein Geld habt«, verlegen lächelnd beipflichtete. Sie benutzten jedenfalls die erste Gelegenheit, zu verschwinden und die beiden stehen zu lassen.

Der Weg führte von der Hütte steil aufwärts. Er bestand nur noch aus Geröll. Dann hörte der Pfad sogar ganz auf. Fast senkrecht mußte man mit Händen und Füßen steigen. Das Gepäck war sehr hinderlich. Es stellte sich heraus, daß die Wandrer zuviel mitgenommen hatten.

Fast unvermittelt standen sie dann am Gletscher. Er sah aus der Nähe schmutzig grau aus. Steil floß er abwärts. Die Überquerung mußte mit großer Vorsicht geschehen. Erst standen sie unschlüssig umher. Dann wurden mit dem Pickel Fußtapfen in das morsche Eis vorgehauen. Sie seilten sich an, und der erste der Gesellschaft trat auf das Eis, indem er sich oberhalb mit dem Pickel festklammerte. Aufatmend gelangten sie nacheinander drüben an, machten halt, hockten sich auf das nasse Gestein und schauten zurück.

Da kamen tatsächlich auch die beiden Wanderer, ohne Pickel und Seil. Wie würden sie den Gletscher überqueren? Man mußte zugeben, sie hatten keine Angst. Sie erklommen die Felsen, tauchten auf, verschwanden wieder. Dann standen sie plötzlich am Gletscherrand, sprachen zusammen, versuchten einen Schritt, nahmen aber den Fuß wieder zurück, blieben unschlüssig stehen und sahen sich um. Sie mußten hinüber, wenn sie auf den Gipfel wollten. Drüben standen gespannt die andern.

Was taten die beiden Jungen? Sie legten sich auf den Bauch, klammerten sich mit den Füßen in den von den Vorgängern eingeschlagenen Tapfen fest und hakten oben mit gekrümmten Fingern in die Löcher ein, die die Pickel soeben hinterlassen hatten. So rutschten sie, halb liegend, halb kriechend, auf der schrägen, ausgezackten Eisfläche vorwärts, ohne einen Blick nach unten in den Abgrund zu tun.

Drüben mußten sie an der Gesellschaft vorbei, die immer noch ausruhte. Die jungen Leute beschäftigten sich damit, ihre Schneebrillen über die Augen zu binden, oder sie wandten sich, um die Jungen nicht ansehen zu müssen, die sich tapfer gezeigt hatten. Die zwei rieben sich die steifen, roten, schmutzigen Hände, dann verschwanden sie hinter einem Felsen.

Marquart entsinnt sich noch an den Augenblick, als die Gesellschaft die Spitze erreichte. Die beiden Jungen waren schon oben. Eisiger Wind strich über die Schneegipfel und wirbelte Staubschnee auf. Sie hockten hinter einer Schneewehe in der Sonne und sahen hinunter. Die Sonne leuchtete bis in die letzten Täler. Der Vierwaldstättersee mit seinen Buchten lag wie ein silberner Spiegel zu ihren Füßen. Schiffe durchschnitten ihn, Wellenfahnen hinter sich lassend, die von oben besonders markant auffielen. Sie schauten in die Runde. Die Kette der Berggipfel der Berner Alpen lag vor ihnen ausgebreitet. Dann erlebten sie das allmorgendliche Schauspiel: Von den Firnen, aus den Gründen stieg verdampfender Schnee wie aus unendlich vielen Ventilen auf, senkrecht und steil, bis der Wind die Fanale erfaßte und sein Spiel damit trieb. Ein Gewoge entstand, ein Geschiebe. Wolken bildeten sich und hüllten den Gipfel des Urirotstock ein. Die Aussicht war auf einmal verloht. Die Bergsteiger sahen sich frostklappernd an, nestelten ihre Schneebrillen zurecht, schnallten den Rucksack über und machten sich an den Abstieg.

Marquart muß in Erinnerung des Vorgefallenen lächeln: Der des Wanderns Ungewohnte unterschätzt den Abstieg. Die Füße sind müde, man stolpert vor sich hin, man wird unsicher. Sie waren froh, als sie die Vegetationsgrenze wieder erreicht hatten und auf dem harten Moos zwischen den Zwergkiefern dahingingen. Die Unterhaltung war erloschen, ja jede Verbindung zwischen ihnen hatte sich längst gelöst. Jeder hatte genug zu tun, sich selbst wieder zu Tale zu tragen.

Marquart weiß noch, wie schwer ihm das Gepäck vorkam, das er auf dem Rücken schleppte. Plötzlich bekam die Last das Übergewicht, er rutschte im Abwärtsgleiten nach vorn, und die Füße verloren den Halt. Er fiel, vernahm noch wie aus der Ferne den Schrei der andern, drehte sich um sich selbst, sauste ein Stück durch die Luft, landete auf einer Rasenmatte, verlor Hut, Pickel und Rucksack, rollte den Abhang hinunter. Die Matte hörte plötzlich auf.

Fiel er in die Tiefe?

So mußte einem zumut sein, wenn man ins Bodenlose fiel.

Da, ein Ruck, etwas hielt ihn fest. Er blieb mit seinem Rock im Stumpf einer Kiefer hängen. Einen Augenblick schloß er die Augen und atmete langsam und schwer, dann kam er vollends wieder zu sich. Er suchte mit den Füßen nach einem Halt, griff mit den Händen nach hinten, um den Stamm der Kiefer zu packen. Es glückte ihm nicht. Ganz umzudrehen wagte er sich nicht, der Rock wäre vom Baumstumpf herabgeglitten und hätte ihn freigegeben. Es hätte ihn dann in die Tiefe gerissen, und er wäre an den Felsen zerschellt. Weit hinten über ihm riefen seine Begleiter. Sie sahen ihn nicht mehr und wußten nicht, ob er abgestürzt war. Er konnte ja keinen Ton herausbringen.

Wie lange Marquart so zwischen Himmel und Erde hing, weiß er nicht. Auf einmal hörte er Stimmen hinter sich. Er rührte sich und versuchte sich umzudrehen. »Ruhig bleiben!« rief man ihm zu.

»Anfassen!«

Ein Riemen wurde ihm zugeworfen; er packte ihn, wurde herumgerissen und klammerte sich instinktiv an den Stamm. Sein Rock riß auf und gab ihn frei. Hände packten ihn und zogen ihn auf das Gras. Er blieb liegen und schloß die Augen vor Erschöpfung. Dann fühlte er, wie sein Kopf gehoben wurde, Wasser tropfte über seine Lippen. Er öffnete die Augen.

Jetzt wußte er, wer sein Retter war: einer der beiden, die den gleichen Weg gezogen waren wie er. Die beiden Brüder hatten an einem Hang gesessen und ausgeruht, als sie unweit von ihrem Platz die Gesellschaft der jungen Leute abwärts schreiten sahen. Auch den Sturz hatten sie mitangesehen und waren sofort darangegangen, den Verunglückten zu bergen. Doch die Matte erwies sich als schwer zugänglich. Sie kletterten hinab und stiegen wieder eine Klamm aufwärts, die sich ein Wasserfall in das Gestein gegraben hatte, sprangen abwärts über Felsblöcke und erreichten die Halde, an der der unglückliche Marquart hing.

Voller Beschämung sah Marquart seinen Retter an. Er sagte kein Wort. Man half ihm auf die Füße. Es stellte sich heraus, daß der eine Fuß beim Fall von oben Schaden gelitten hatte; beim Auftreten sank Marquart mit einem Schrei wieder zurück auf den Rasen. Man untersuchte den Fuß, er war anscheinend verstaucht. Der Stiefel ging nicht herunter; er mußte aufgeschnitten werden. Der ganze Knöchel war blutunterlaufen. Sein Retter entnahm seinem Gepäck ein Handtuch und machte einen Notverband.

Marquart erinnert sich noch gut, wie behutsam die beiden ihn dann unter eigner Lebensgefahr hinunterschafften. Das erste Stück die Klamm hinab war das schlimmste. Er wurde von einem der beiden festgehalten, während der andre einen Meter tiefer stieg und den Verletzten sorglich auf die Schulter nahm. Dann gingen sie ein Stück im Bachbett von Stein zu Stein, Marquart zwischen sich, bis sie einen Gehsteig erreichten, der ins Tal führte. Da setzten sie ihn auf einen Tannenknüppel und trugen ihn dem Dorfe zu.

Verstört kamen ihnen die andern mit einer Rettungskolonne entgegen. Ihre ganze Hotelvornehmheit war von ihnen gewichen. Sie machten einen kläglichen Eindruck. Die Frau des Dorflehrers, zu dem er ins Haus gebracht wurde, behandelte sein Bein. Dabei verlor er seine Retter aus den Augen, von denen er nicht einmal die Namen wußte. Er selbst hatte aus Beschämung kaum ein Wort zu ihnen zu sagen gewußt, sie hatten auch keinen Dank erwartet.

Doch wie es im Leben oft geht, jetzt, nach zwei Jahren, hatte er seinen Retter unversehens wiedergetroffen, und zwar im Eisenbahnzug. Ein Aufleuchten des Erinnerns glitt über Marquarts Züge, während der junge Mann nur stutzte und überlegte, wo er den andern schon einmal gesehen haben konnte. Es war der Lebensretter aus den Alpen, Heinrich Mehrmann, wie er jetzt erfuhr, ein Westfale, der zu Verwandten nach Norddeutschland in die Ferien fahren wollte. Bald saßen sie zusammen in Mehrmanns Abteil, der die Dankesworte abwehrte: »Für mich war es eine selbstverständliche Pflicht, Ihnen damals zu helfen. Es war nicht der Rede wert.«

»Obwohl wir uns so unkameradschaftlich gegen Sie benahmen? Wenn Sie da am Gletscher abgestürzt wären! Und wir sahen zu! Niemand hätte Sie retten können.«

»Damals, bei der Gletscherüberquerung? Tolle Sache, würde ich heute nicht mehr machen. Am Nachmittag hatte ich das längst vergessen. Als ich Sie da hängen sah, erinnerte ich mich nur Ihrer Gesellschaft und des Auftritts vor der Hütte.«

»Wenn man so in Gesellschaft ist, wissen Sie, macht man eben mit!«

Mehrmann wehrte lachend das Geständnis ab: »Ja, ich kenne das, man macht alles mit, und nachher tut's einem leid. Die Gesellschaft macht den Menschen, leider.«

Marquart fühlte sich zu diesem frischen, aufrichtigen Jungen hingezogen, und ehe sie sich's versahen, war im Eisenbahnabteil eine Freundschaft geschlossen und eine gemeinsame Ferienfahrt mit dem Segelboot verabredet worden.


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