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Die versunkene Stadt

Die Leitfeuer am Strom verlöschen jetzt vorschriftsmäßig 5.05 Uhr, auch das Licht des kleinen Leuchtturms Juelssand. Zwei junge Mädchen in Sportkleidern kommen vom Wasser her und steigen die Rasenstufen zur Wurt hinauf, auf der das kleine Wohngebäude liegt, aus dem der Turm emporwächst. Da öffnet sich auch schon die Tür, sie stehen vor dem alten Lampenwärter. Die eine sagt, ohne zu grüßen: »Find ich niedlich, so'n kleinen Leuchtturm.«

Die andere kommt auf den Alten zu: »Guten Morgen. Würden Sie uns wohl mal den Leuchtturm zeigen?«

»Fräuleins, wo kommen Sie denn so früh am Morgen her?« Zwanzig Minuten Fußweg ist das nächste Haus entfernt.

»Wir sind im Faltboot die Nacht durchgepaddelt. Von Blankenese her. Wie lange dauert's noch, bis die Flut einsetzt?«

»Eine halbe bis dreiviertel Stunde. Hier kommt sie eine Stunde eher als in Blankenese. Wir sind zehn Seemeilen weiter nach dem Meere zu.«

Der Alte geht hinein, beide folgen wie selbstverständlich. Sie steigen die Wendeltreppe hinauf. Im Lampenhaus mit den großen Fenstern kommen die beiden frischen Mädchen gar nicht aus dem Staunen heraus. Nicht die blanke große Gasöllampe interessiert sie so brennend, sondern der Ausblick auf die Landschaft.

»Das sieht ja hier aus wie die Welt am ersten Schöpfungstag!«

»Das mögen Sie wohl sagen, das Mädchen hat recht«, sagt der Alte vor sich hin, dann erklärt er: »Sehen Sie, wir liegen hier auf einer Halbinsel. Und hier, das ist das riesige Einbruchsgebiet der Elbe, nicht Wasser und nicht Land, wie am ersten Schöpfungstag, wahrhaftig. Viele Kilometer breit und lang schauen aus der Elbe, die hier hinter dem Leuchtturm breit wird wie ein See, Sandbänke und Streifen dunklen Landes heraus. Mancher Streifen ist fest, ein andrer ist nicht begehbar, man versinkt im Schlamm. Andre werden von dem tückischen Mahlsand gebildet, in dem alles wegsinkt, was sich dort festsaugt. Ganze Schiffe sind hier schon verschwunden. Am Horizont sehen Sie die beiden hohen, dünnen Leuchttürme von Pagensand. Da fängt die geschaffene Welt wieder an. Jetzt ist man gerade dabei, den Hungrigen Wolf bei Pagensand trockenzulegen, eine ganz gefährliche Ecke. Und nun kommen Sie hierher auf die andre Seite: Da hinten sehen Sie den Deich, der die holsteinische Marsch abschließt, vielmehr sehen Sie davon nur die Windschutzbäume.«

»Wird es Ihnen hier nicht auf die Dauer langweilig, immer so allein hier im Turm?«

Der Lampenwärter zeigt auf eine breite rote Narbe, die sich quer über die haarlose Schädeldecke zieht. »Seit ich das hier habe, halte ich es in der Stadt nicht mehr aus. Da werde ich verrückt.«

Die Mädchen schauen den Alten fragend an. »Ja, Schädelbruch. Hätte mein Tod sein können. Bin nur wie durch ein Wunder gerettet worden.« Dann erzählt er: »Ich war Vorarbeiter auf der Werft. Im Maschinenraum der ›Hansa‹ fiel mir eine Winde auf den Schädel. Natürlich gleich besinnungslos zusammengesackt. Die Kollegen erzählten: Als sie mich auf der Tragbahre mit dem Werftkran oben zum Schornstein herausgehievt hatten und am Kai niedersetzten, kam der Arzt. Der nahm mir erstmal die Mütze ab. ›Der Schädel ist ja ein reiner Papierkorb‹, sagte er, als er die ganzen Zettel aus dem Spalt in der Schädeldecke zog. Aber mein Kontrollbuch mit dem steifen Deckel, das wir immer unter der Mütze tragen, hatte den Stoß so gemildert, daß sie mich im Hafenkrankenhaus wieder zusammenflicken konnten. Jetzt wohne ich hier gern allein.«

»Ich möchte eine Sturmnacht hier mal erleben«, sagt die kleinere der beiden.

»Lieber nicht, Fräulein, das ist nichts für euch.«

»So richtig Abenteuer erleben, von denen man immer liest, das möchte ich mal. Ja, wirklich.«

»Mir gefällt die Elbe besser«, sagt die andere, »wenn ruhiges, sonniges Wetter ist.«

»Und mir bei Sturm! Heute müßte es noch richtig wehen, o ja.«

»Das kann leicht kommen, wir kriegen sicher noch mehr Wind«, sagt der Alte und sieht in die Wolken.

Die kleinere von beiden Mädchen besieht angelegentlichst die große Lampe, und sie schnuppert den Ölgeruch ein. »Wir haben die ganze Nacht die Leuchtfeuer gesehen«, sagt sie, »ich dachte, die wären viel heller. Manche waren grün, manche rot, einige verlöschten in kurzen Abständen. Wie kann sich da ein Schiffer durchfinden?«

»Ein Lotse führt ein Schiff bei Nacht ebenso sicher wie am Tage. Dieser Leuchtturm steht ja nun an einer besonders günstigen Stelle, sozusagen mitten im Strom. Sehen Sie mal, wie stark das Ufer hier im Halbkreis mit Steinwällen befestigt ist. Bald setzt die Flut ein, dann sollen Sie mal sehen, wie das brandet! Dies Feuer zeigt den elbaufwärts fahrenden Schiffen nachts die Fahrstraße durch einen weißen ununterbrochenen Leitsektor, einen Strahl in einer Richtung. Von einem bestimmten Punkt aus steuern die Schiffe hier gerade drauf zu.«

»Und dann fahren sie doch hier gegen die Steine?«

»Sehen Sie da drüben den kleinen Leuchtturm, der ganz ähnlich gebaut ist wie dieser hier? Was da leuchtet, ist ein sogenanntes Quermarkenfeuer. Es zeigt nicht die nächtliche Fahrstraße, sondern gibt dem Schiffer einfach an, wenn es aus meinem Leitfeuer hinaus und seine Fahrtrichtung ändern muß. Das Licht von dem Leuchtturm da drüben scheint nämlich in farbigen Streifen quer über den Strom. Solange der elbaufwärts steuernde Lotse das rote Licht sieht, muß er auf mich zusteuern. Dann ist ein ganz schmaler weißer Sektor eingeschaltet. Dann muß der Steuermann das Ruder umlegen, und wenn er dann das grüne Licht von demselben Leuchtturm sieht, muß er schon nach dem hohen Turm da hinten steuern, wenn er nicht hier stranden will. Nein, hell sind die Feuer auf der Elbe alle nicht, es sind ja keine Straßenlaternen, sondern nur Leitfeuer.«

»Es muß fabelhaft sein, heute zu segeln! Da möchte ich drauf sein«, sagt die kleinere wieder und winkt hinaus. Quer über den Strom, von Rückenwind vorwärtsgepeitscht und vom letzten Ebbestrom heftig versetzt, kommt ein Segelboot daher. Drei junge Männer sind darin. Jetzt gerät es in die Wirbel vor den Stacks des Leuchtturms. Einen Augenblick bockt das Boot, als würde es gehemmt, dann schießt es mit einem Stoß über das Kabbelwasser hinweg.

Heute macht das Segeln wirklich Spaß. Peter am Steuer läßt das Boot mit vollem Zeug dahinschießen. Sie haben eine unheimlich schnelle Fahrt. Nun schwenken sie am Leuchtturm vorbei. »Den nennen die Schiffer den ›kleinen Kohn‹!« bemerkt Peter. Sie winken und schreien übermütig hinüber. Der Alte da oben nickt. Die Mädchen winken Heinrich Mehrmann und Hans Holtz zu, die am Mast stehen und den nassen Anzug von Hans aufhängen. Er ist schon ganz verklammt.

Sie fahren jetzt wie in eine neue Welt. Graue Massen Sands sind aufgetaucht. Ketten von Wildenten erheben sich vor ihnen. Man scheint Land und Wasser gar nicht mehr unterscheiden und auseinanderkennen zu können. Das Boot kommt nun dem Festland näher. Es macht eine Wendung. Peter zieht das Segel heran und macht die Schot fest; denn böig ist der Wind nicht. Sie segeln nun in einiger Entfernung an den Wiesen entlang, die nach dem Wasser zu steil abfallen. Als wenn ein Riesenmaul mit bleckenden Zähnen Stücke davon abgebissen hätte, so unregelmäßig und eingerissen hört das Land auf. Die Grasnarbe hängt manchmal über; darunter hat der Strom die braune Erde weggefressen. Tiefe Einschnitte hat das Wasser in das Land vorgeschoben, um von da aus bei Sturmfluten alles zu überschwemmen. Jetzt liegen diese Priele fast trocken. Nur wenig Wasser sickert noch ab.

»Schwert hochziehen, Sandbänke voraus!« ruft Peter plötzlich. Hans springt schon herbei. Kaum ist das Schwert hoch, da saust das Boot auch schon auf den Sand. Das ist bei dem Wind keine kleine Sache. Nun heißt es zugreifen! Der Wind drückt das Boot zur Seite. Schnell die Segel herunterholen! Dann waten sie mit hochgekrempten Hosen durch den Schlamm und sinken dabei bis über die Knie ein. An der ausgefressenen Kante steigen sie hinauf auf eine Wiese. Peter holt den Anker herüber und legt ihn um einen Erlenbusch.

»Zwei Stunden nach Flutbeginn sind wir wieder flott. Wir wollen einstweilen Bishorst besuchen«, erklärt Peter seinen Freunden. Sie gehen nun am Rande eines Erlenwäldchens entlang. Quer durch den Wald strebt weit hinten vom Deich ein Weg auf sie zu. Er kommt von einem alten Haus, das sie jetzt auf einmal vor sich sehen. Es steht außendeichs am Strom auf einer hohen Wurt, deren Mauer aus Findlingsblöcken weite Risse hat. Die Sturmfluten haben daran gezerrt. Ein Hofhund an langer Kette hat sie längst gesehen und bellt. So gehen sie noch nicht auf die Wurt hinauf, sondern erst mal draußen herum.

Das Haus duckt sich an die Bäume, die es überragen. Es sucht Schutz vor dem Wind. »Hier ist vor 500 Jahren eine Stadt untergegangen, die Bishorst hieß. Bei anhaltendem Ostwind, wenn alles Wasser hier wegläuft, sollen die Kirchenfundamente, die Gräber und vielleicht auch ein Brunnenrand oder Hauskeller wieder aus dem Schlamm heraustreten. Die Schiffer nennen die Gegend hier herum den Friedhof, und bei Nacht fährt keiner hier gern darüber. Da spuken allerlei dunkle Geschichten.«

Man hat die drei Gäste vom Hause aus schon wahrgenommen und winkt sie heran. Der Hund bellt zwar noch; aber die Kette ist so verkürzt, daß sie ungehindert eintreten können. Das Haus ist nicht groß, doch drinnen gibt es viel zu sehen: In der niedrigen Stube, deren Decke von dicken Schiffsbalken getragen wird, hängen und stehen ausgestopfte Vögel: eine Wildente, eine Graugans und ein Exemplar der seltenen Zwergschwäne – alles Tiere, die hier auf den Sandbänken hausen. In das Haus selbst sind allerlei angeschwemmte Schiffstrümmer eingebaut, so zwischen zwei Stuben eine kleine Kajüttür, durch die man regelrecht hindurchkriechen muß. Im Flur hängt eine fast mannshohe achtkantige Prunklaterne, wie sie vor Jahrhunderten auf niederländischen Kauffahrteischiffen am Heck zu beiden Seiten der Kapitänslaube hingen.

»Wie ist es mit der versunkenen Stadt?« Das ist die erste Frage der drei. Der Mann antwortet schnarrend wie ein Schloßkastellan: »Seit mehreren hundert Jahren heißt nur noch dieses Haus Bishorst, die Stadt wurde von der Sturmflut verschlungen. Auch dies Haus ist schon mehrmals neu aufgebaut, der Platz hier vor dem Deich ist zu ungeschützt.«

»Warum legte man eine Stadt so nahe an den Strom?«

»Um das Jahr 1150 baute sich der Heidenapostel Wizelin in undurchdringlicher Buschwildnis mit unendlicher Mühe eine Missionsstation. Von hier aus unternahm er Missionsreisen nach Holstein und bis hinein nach Mecklenburg, um die Holsaten und die Wagrier zu bekehren. Wenn's einmal nötig war, konnte er sich mit seinen Helfern immer wieder in diese Wildnis zwischen den Inseln und Flußarmen zurückziehen. Hier entstand um die Wohnung der Geistlichen eine Siedlung von Bekehrten, die ihrem Apostel gefolgt waren. Fischer und Krämer schlossen sich an, und so wuchs um die Kirche im Laufe der Jahrzehnte eine verborgene Stadt. Die Geschichte erzählt, daß die Bewohner den Apostel Wizelin gar bald vergaßen, als er gestorben war, und daß sie, durch Piraterei und Schmuggel reich geworden, auf der Stätte, wo er gepredigt, herausfordernde und gotteslästerliche Reden geführt hätten. Da sei, es war im Jahre 1468, als sie gerade wieder ein Schiff mit Wein, kostbaren Zeugballen und indischen Gewürzen aufgebracht hatten, in ihren Hafen trieben und die ganze Stadt noch nachts auf den Beinen war und Männer und Frauen betrunken umherzogen, die Flut plötzlich gestiegen und habe alles verschlungen. Wie meinen Sie? Nein, wir selbst haben die Reste des Kirchhofs noch nicht gesehen; aber nach einer Sturmflut lag hier vor der Wurt ein gemeißelter Stein mit alten, verwaschenen Schriftzeichen.«

»Wenn jetzt der Boden des Stromes sich hebt und aus Schlamm und Schutt die versunkene Stadt heraufsteigt«

»Haben Sie keine Angst bei Sturmfluten?«

»Die Sturmfluten kommen jedes Jahr, wir sind es gewohnt. Vor drei Jahren haben wir hier einen Finkenwärder Fischkutter, ein ziemlich großes Schiff, aus dem Wald geholt. Wir hörten nachts im Toben des Sturmes, als schon der Platz um das Haus unter Wasser stand, ein Krachen und Schreien. Mit der Laterne hinaus, in das Boot und zwischen den Erlenbäumen hindurch. Da saß der Fischkutter. Der hohe Steven lag zwischen den Bäumen fest. Die Leute klammerten sich an die Stämme. Den Schiffsjungen fanden wir erst am nächsten Tag, als sich die Flut verlaufen hatte. Er war in die Krone eines Baumes geklettert und hatte sich nicht blicken lassen, während wir den Schiffer und den Knecht retteten.«

Dann sehen sie sich die ausgestopften Vögel an und hören von den seltsamen Vogelgeschichten, die sich hier ereignen: Von den jungen Schwänen der Alster in Hamburg, denen man die Schwingen wachsen ließ und die hierher kamen, um sich eine Braut auszuwählen und auf diese Weise ihr durch Inzucht verdorbenes Blut aufzufrischen; von dem Höckerschwan, der sich der Zwergschwanfamilie annahm, als das Männchen von der Schaufel eines Raddampfers zermalmt wurde; von dem heldenmütigen Kampf der Entenmütter mit Wasserratten und Wieseln; von den Graugansherden, die auf dem Flug von Schweden nach Afrika herüberkommen und einige Wochen im Frühling und Herbst hier verweilen und die zahmen Gänse in den Dörfern rebellisch machen, so daß eine oder die andere sich ihnen anschließt; von den sibirischen Waldschnepfen und den finnischen Kranichen, die sich hier in den urzeitlichen Gebieten in jedem Jahr ein Stelldichein geben.

Die Jungen müssen von dem gefilterten Wasser trinken, das träge durch ein Hähnchen in ein Glas quillt und behutsam aufgefangen wird. Sie finden es im Geschmack leidlich gut. Dann gehen sie hinaus. Der Wind empfängt sie. Er wühlt in ihren Haaren und zerrt an der Kleidung. Sie setzen sich auf die Steine des Wurtrandes vor dem alten Haus und blicken über die Wasserfläche. Die Flut kommt mit Macht herauf, unterstützt von dem steifen Südwest, der sogar hier Schaumköpfe auf den Wellen erzeugt. Wie muß es jetzt erst draußen hinter den Sünden auf dem freien Wasser sein!

Zu ihren Füßen liegt die versunkene Stadt. Es kommt ihnen ordentlich unheimlich vor. Wenn jetzt der Grund der Elbe sich höbe und aus dem ablaufenden Schlamm die einstige Stadt emportauchte?

Sie malen sich alles in den glühendsten Farben aus. Peter liebt das Piratentum. »Interessant muß das Treiben gewesen sein, wie sie da von ihren kleinen Kähnen aus die Kaufmannsschiffe enterten und dann mit ihrer Beute heimkehrten. Und den Jubel in der Stadt hätte ich miterleben mögen: Wie der spanische Wein in Strömen floß, wie die Tuchballen auf dem Markt aufgerissen wurden und sich die Frauen darüberstürzten.«

»Wenn ich zu wählen hätte, was hier auferstehen soll, so wünschte ich mir die Zeit des stillen und tapferen Missionars Wizelin«, sagt Heinrich Mehrmann.

Hans schweigt träumend und wünscht sich gar nichts, doch es leuchtet ihm ein, was Heinrich zur Verteidigung seiner Meinung sagt: »Es gibt zweierlei Heldentum. Ich halte es mit den Helden aus Selbstverleugnung, wenn auch die Menschen nicht viel Aufhebens davon zu machen pflegen. Zu dem Missionarsleben gehört eine Kraft der Selbstentäußerung, die der Mensch aus sich selbst nicht aufbringt.«


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