Jean Paul
Jean Pauls Briefe und bevorstehender Lebenslauf
Jean Paul

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Heinrich lag niedergedrückt von Scham und Trauer im Nebenzimmer, als er wie erwachend seinen alten Lehrer, der auch der Lehrer seines Vaters gewesen, diesen einsegnen hörte, als ziehe schon die längste Nacht um das kalte Leben: »Schlummere süß hinüber,« sagt' er, »du tugendhafter Mensch, du treuer Schüler! Alle gute Vorsätze, die du mir gehalten, alle deine Siege über dich und alle deine schönen Taten müssen jetzt wie hellrote Abendwolken durch die Dämmerung deines Sterbens ziehen! Hoffe noch in deiner letzten Stunde auf deinen unglücklichen Heinrich und lächle, wenn du mich hörest und wenn in deinem brechenden Herzen noch eine Entzückung ist.«

Der Kranke konnte sich unter dem schweren über ihn gewälzten Eise der Ohnmacht nicht ermannen, die gebrochnen Sinnen hielten die Stimme des Lehrers für die Stimme des Sohnes, und er stammelte: »Heinrich, ich sehe dich nicht, aber ich höre dich; lege deine Hand auf mich und schwöre es, daß du besser wirst.« Er stürzte herein zum Schwur; aber der Lehrer winkte ihm und legte die Hand auf das erkältende Herz und sagte leise: »Ich schwöre in Ihrem Namen.«

Aber plötzlich fühlt' er das Herz gestorben und ausruhend von der langen Bewegung des Lebens. »Flieh, Unglücklicher,« sagt' er, »er ist ohne Hoffnung gestorben.«

Heinrich floh aus dem Schloß. O wie hätt' er eine Trauer schauen oder teilen dürfen, die er selber über die väterlichen Freunde gebracht? Er ließ seinem Lehrer bloß das Versprechen und die Zeit der Wiederkehr zurück. Schwankend und laut weinend kam er ins englische Wäldchen und sah die weißen Grabmäler wie bleiche Skelette die grüne Umlaubung durchschneiden. Aber er hatte nicht den Mut, die leere künftige Schlummerstätte des Vaters zu berühren; er lehnte sich bloß an die zweite Pyramide, die ein Herz bedeckte, das nicht durch seine Schuld gestorben war, das mütterliche, das schon lange stille stand im Staube der zerfallenden Brust. Er durfte nicht weinen und nicht geloben; schweigend, gebückt und schwer trug er den Schmerz weiter. Überall begegneten ihm Erinnerungen des Verlustes und der Schuld – jedes Kind war eine, das dem Vater mit der hoch einhergetragnen Ährenlese entgegenlief – jedes Geläute kam aus einer Totenglocke – jede Grube war ein Grab – jeder Zeiger wies, wie auf jener königlichen UhrIm chateau royal zu Versailles war sonst eine Uhr, die so lange, als der König lebte, stand und auf die Todesstunde des vorigen zeigte und nur ging, wenn wieder einer starb. (S. Sanders Reis. 1. B.) Ein schöneres memento mori als irgendeines! – nur auf die letzte väterliche Stunde.

Heinrich kam an. Aber nach fünf dunkeln Tagen voll Reue und Pein sehnt' er sich zum Freunde des Vaters zurück und schmachtete, ihn durch die Erstlinge seiner Veränderung zu trösten. Der Mensch feiert seinen Geliebten ein schöneres Totenfest, wenn er fremde Tränen trocknet, als wenn er seine vergießet; und der schönste Blumen- und Zypressenkranz, den wir an teuere Grabmäler hängen können, ist ein Fruchtgewinde aus guten Taten.

Er wollte erst nachts mit seiner Schamröte in die Trauerwohnung treten. Als er durch das Wäldchen ging, stand die weiße Pyramide des väterlichen Grabes schauerhaft zwischen dem lebendigen Gezweig, wie im Blau des reinen Himmels die graue Dampfwolke eines zusammengebrannten Dorfes schwimmt. Er lehnte das sinkende Haupt an die harte kalte Säule und konnte nur dumpf und sprachlos weinen, und im dunkeln, mit Martern angefüllten Herzen war kein Gedanke sichtbar. Hier stand er verlassen; keine sanfte Stimme sagte: weine nicht mehr! – Kein Väterherz zerschmolz und sagte: du bist genug gestraft. Das Rauschen der Gipfel schien ein Zürnen und die Dunkelheit ein Abgrund. Dieses so Unwiederbringliche im Verlust lagerte sich wie ein Meer weit um ihn, das niemals rückt und niemals fällt.

Endlich erblickte er nach dem Fall einer Träne einen sanften Stern am Himmel, der milde wie das Auge eines himmlischen Geistes zwischen die Gipfel hereinblickte; da kam ein weicherer Schmerz in die Brust, er dachte an den Schwur der Besserung, den der Tod zerrissen hatte, und nun sank er langsam auf die Knie und blickte zum Stern hinauf und sagte: »O Vater, Vater!« (Und die Wehmut erdrückte lange die Stimme.) »Hier liegt dein armes Kind an deinem Grabe und schwöret dir – ja, reiner frommer Geist, ich werde anders werden; nimm mich wieder an! – – Ach könntest du ein Zeichen geben, daß du mich gehöret hast!«

Es rauschte um ihn; – eine langsame Gestalt schlug die Zweige zurück – und sagte: »Ich habe dich gehört, und ich hoffe wieder!« Es war sein Vater.

Das Mittelding zwischen Tod und Schlaf, die Schwester des Todes, die Ohnmacht, hatte wie ein gesunder tiefer Schlummer ihm das Leben wieder beschert; und er war dem Tode wieder entgangen. Guter Vater! und hätte der Tod dich in den Glanz der zweiten Welt getragen, dein Herz hätte nicht froher zittern und süßer überströmen können als in dieser Auferstehungsminute, wo dein vom schärfsten Schmerze umgeänderter Sohn mit dem bessern an deines sank und dir die schönste Hoffnung eines Vaters wiederbrachte. –

Aber, indem der Vorhang dieser kurzen Szene fället, so frag' ich euch, geliebte junge Leser: habt ihr Eltern, denen ihr die schönste Hoffnung noch nicht gegeben habt? O dann erinnere ich euch wie ein Gewissen daran, daß einmal ein Tag kommen wird, wo ihr keinen Trost habt und wo ihr ausruft. »Ach sie haben mich am meisten geliebt, aber ich ließ sie ohne Hoffnung sterben, und ich war ihr letzter Schmerz!« –

Die Neujahrsnacht eines Unglücklichen.

»Ein alter Mann stand in der Neujahrsmitternacht am Fenster und schauete mit dem Blick einer langen Verzweiflung auf zum unbeweglichen, ewig blühenden Himmel und herab auf die stille reine weiße Erde, worauf jetzt niemand so freuden- und schlaflos war als er. Denn sein Grab stand nahe an ihm, es war bloß vom Schnee des Alters, nicht vom Grün der Jugend verdeckt, und er brachte nichts mit aus dem ganzen reichen Leben, nichts mit als Irrtümer, Sünden und Krankheit, einen verheerten Körper, eine verödete Seele, die Brust voll Gift und ein Alter voll Reue. Seine schönen Jugendtage wandten sich heute als Gespenster um und zogen ihn wieder vor den hellen Morgen hin, wo ihn sein Vater zuerst auf den Scheideweg des Lebens gestellt, der rechts auf der Sonnenbahn der Tugend in ein weites ruhiges Land voll Licht und Ernten und voll Engel bringt, und welcher links in die Maulwurfsgänge des Lasters hinabzieht, in eine schwarze Höhle voll heruntertropfenden Gift, voll zielender Schlangen und finsterer schwüler Dämpfe.

Ach die Schlangen hingen um seine Brust und die Gifttropfen auf seiner Zunge, und er wußte nun, wo er war.

Sinnlos und mit unaussprechlichem Grame rief er zum Himmel hinauf: gib mir die Jugend wieder! O Vater, stelle mich auf den Scheideweg wieder, damit ich anders wähle!

Aber sein Vater und seine Jugend waren längst dahin. Er sah Irrlichter auf Sümpfen tanzen und auf dem Gottesacker erlöschen, und er sagte: es sind meine törichten Tage. – Er sah einen Stern aus dem Himmel fliehen und im Falle schimmern und auf der Erde zerrinnen. Das bin ich, sagte sein blutendes Herz, und die Schlangenzähne der Reue gruben darin in den Wunden weiter.

Die lodernde Phantasie zeigte ihm schleichende Nachtwandler auf den Dächern, und die Windmühle hob ihre Arme drohend zum Zerschlagen auf, und eine im leeren Totenhause zurückgebliebne Larve nahm allmählich seine Züge an.

Mitten in den Krampf floß plötzlich die Musik für das Neujahr vom Turm hernieder wie ferner Kirchengesang. Er wurde sanfter bewegt – er schauete um den Horizont herum und über die weite Erde, und er dachte an seine Jugendfreunde, die nun, glücklicher, und besser als er, Lehrer der Erde, Väter glücklicher Kinder und gesegnete Menschen waren, und er sagte: o ich könnte auch wie ihr diese erste Nacht mit trocknen Augen verschlummern, wenn ich gewollt hätte – ach ich könnte glücklich sein, ihr teuern Eltern, wenn ich euere Neujahrs-Wünsche und Lehren erfüllet hätte.

Im fieberhaften Erinnern an seine Jünglingszeit kam es ihm vor, als richte sich die Larve mit seinen Zügen im Totenhause auf – endlich wurde sie durch den Aberglauben, der in der Neujahrsnacht Geister und Zukunft erblickt, zu einem lebendigen Jüngling, der in der Stellung des schönen Jünglings vom Kapitol sich einen Dorn auszieht, und seine vorige blühende Gestalt wurd' ihm bitter vorgegaukelt.

Er konnt' es nicht mehr sehen – er verhüllte das Auge – tausend heiße Tränen strömten versiegend in den Schnee – er seufzete nur noch leise, trostlos und sinnlos: komme nur wieder, Jugend, komme wieder!«....

– Und sie kam wieder; denn er hatte nur in der Neujahrsnacht so fürchterlich geträumt; – er war noch ein Jüngling. Nur seine Verirrungen waren kein Traum gewesen; aber er dankte Gott, daß er, noch jung, in den schmutzigen Gängen des Lasters umkehren und sich auf die Sonnenbahn zurück begeben konnte, die ins reine Land der Ernten leitet.

Kehre mit ihm, junger Leser, um, wenn du auf seinem Irrweg stehst! Dieser schreckende Traum wird künftig dein Richter werden; aber wenn du einst jammervoll rufen würdest: komme wieder, schöne Jugend – so würde sie nicht wiederkommen.


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