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XIX. Kapitel.

Ein trüber, windiger Tag; die großen Straßen der Vorstädte waren wie leergefegt. Die Kinder hatten noch Schule, und die Frauen, denen der Sturm die Röcke um die Beine schlug, eilten nach Hause, den Kochtopf auf den Herd zu stellen; wenn der Mann um 12 Uhr von der Arbeit kam, wollte er sein Essen haben.

Ein Händler mit Kirschen und Stachelbeeren zog, laut seine Ware ausschreiend, vorn an der Deichsel des ziemlich großen Wagens; hinten schob die Gefährtin, eine magere, krank aussehende Frau, die sich trotz des Wetters alle Augenblicke den Schweiß von der Stirn wischte.

Dann hielt der Wagen, Käufer liefen herbei, Frauen und kleine Kinder, und der Schutzmann, der von der Ecke herkam, drehte wieder um, um den Händler nicht erst nach seinem »Gewerbe« fragen zu müssen.

Die alte Frau Kelle hatte vergeblich den Versuch gemacht, ihren Platz gegen den Wind, der in langen, fauchenden Stößen die Mariendorfer Straße heraufkam, zu behaupten ... Früher hätte sie an solch einem Tag gar nicht daran gedacht, den warmen Herd oben in ihrer Tochter Küche zu verlassen ... Jetzt hatte sie eine Aufgabe ... Sie war so erfüllt von dem Gedanken an den Mörder! Und der alte Glaube, daß der Mörder immer wieder einmal zurückkehren müsse an den Schauplatz seiner Freveltat, der mußte ja bei ihr, die sich die Mitgift für ihr Enkelkind durch seine Festnahme verdienen wollte, zur fixen Idee werden ... Sie hatte sich für den Fall auch schon alles zurecht gelegt. Nebenan bei Kaufmann Fredrich war ein Telephon; da wollte sie hinhumpeln, so schnell es auf Krücken ging, und die Kriminalpolizei anläuten ... Und wenn er etwa nicht solange blieb, der Schandkerl, wenn er schnell wieder wegwollte, dann hetzte sie alle Menschen auf ihn! ... Er würde dabei vielleicht erschlagen und zerrissen werden von den wütenden Leuten, aber das war seine Schuld! ... Warum ermordete er alte, wehrlose Frauen!

Doch heute ging es nicht! Heute war's hier unten nicht auszuhalten! ... Und wenn sie nachher etwa ihr Reißen wieder kriegte, dann könnte sie womöglich wochenlang gar nicht auf die Straße ...

So stand sie vom Sturm gezaust, und ihre alten Augen suchten nach einem Kinde, das ihr den Stuhl hinauftragen sollte, als ein Mann vorüberging, ein armseliger, in einen alten verschlissenen Lodenmantel gehüllter Mensch, der lahm war auf einem Fuß und obendrein eine breite, schwarze Binde um den Kopf trug, die wohl sein krankes linkes Auge schützen sollte.

Er hinkte vorbei und blieb vor der Haustür von Nummer 20 stehen, wo er nach den weißen und roten Mietplakaten sah, die am Tor hingen ... Nun kehrte er zurück, kam näher und suchte unschlüssig mit dem gesunden Auge hin und her. Trat zu der alten Frau heran und fragte in einer harten, akzentuierten Aussprache, ob hier wohl ein kleines Zimmer oder eine Schlafstelle zu vermieten wäre.

Frau Kelle gab ihm Bescheid; ja, er solle nur hinaufgehen, da wäre vorn im Vorderhause und auch hinten noch verschiedenes zu vermieten.

Er zögerte und redete allerlei. Dabei stand er so, daß er den von der schwarzen Binde halbbedeckten Teil des stoppelbärtigen Gesichtes der Alten zuwendete. Die sah nur, daß er unrasiert und sein Gesicht blaß und eingefallen war.

Schließlich hinkte er weiter ...

Die alte Frau, die wußte, was es heißt, keine gesunden Beine zu haben, bedauerte ihn noch ... Und ohne Ahnung, wer es war, dem sie ihr Mitleid schenkte, humpelte sie mit dem kleinen Jungen, der eben aus der Schule kam und ihr den Stuhl tragen wollte, in den Hausflur hinein.

Der im Lodenmantel mit dem verbeulten Schlapphut auf dem wohl lange nicht geschnittenen Haar hinkte weiter die Straße hinauf, ging über den Damm und trat in eine Destillation, wo er sich einen Schnaps geben ließ.

Er hatte am Fenster Platz genommen und konnte von hier aus die andere Straßenseite und das Haus Nummer 19 gut sehen ...

Wenn er überlegte, wie er da fortgekommen war am Morgen des 14. April ... das wollte er in seinem Leben nicht zum zweiten Male durchmachen! In seinem Leben – haha! – sein Leben hing jetzt am seidenen Faden – nein, an der blauseidenen Schnur hing es! ... diese verdammte Schnur! ... Wie hatte er bloß so dumm sein können! ... Jede Zuckerschnur hätte es doch getan, und eine Drahtschlinge aus weichem, nachgiebigem Metalldraht wäre noch besser gewesen!

Wenn Ilonas Vorliebe für blauseidene Schlafröcke auch dem vermaledeiten Kommissar bekannt wurde – und dieser niederträchtigen Spürnase konnte ja auf die Dauer nichts verborgen bleiben – dann war er geliefert!

Warum floh er nicht? ... Noch waren alle Wege für ihn offen! Niemand besaß ein Bild von ihm! Und die Personalbeschreibung, die der Kommissar etwa verbreiten konnte, haha ... Die würde ihn nirgends aufhalten! ...

Um seine Personalbeschreibung unwirksam zu machen, brauchte er sich nur geschickt die Wangen zu schminken und den bei ihm so schnell wachsenden Bart, wie jetzt, ein paar Tage stehen zu lassen! ... Warum floh er also nicht? ...

Es hatte im Inseratenteil einiger großen Zeitungen ein Aufruf gestanden, der in einer nur den Eingeweihten verständlichen Ausdrucksform Ilona aufforderte, alle Rücksichten und Bedenken beiseitezusetzen, ihn zu verfassen und zu ihren Freunden, die sie nach wie vor liebten und sich nach ihr sehnten, zurückzukehren ...

Und dieses Zeitungsblatt hatte Ilona dummerweise früher als er in die Hand bekommen ...

Eigentlich war es ja seltsam und zu verwundern, daß Ilonas Verehrer nicht sofort die Hilfe der Presse in Anspruch genommen hatte. Aber mit Ausnahme eines Sensationsblattes, das es sich nicht hatte nehmen lassen, mit hämischen Bemerkungen über »eine große, allzu schnell beliebt gewordene Schauspielerin« eine lächerlich romantische Entführungsgeschichte aufzutischen, an der jedes Wort dumm erfunden war, hatte keine Zeitung bisher etwas über den Fall gebracht ...

Gewiß nicht aus Unwissenheit, davon war Salvioli überzeugt. Also hatte die Polizei die Presse unterrichtet, damit der Gesuchte nicht durch Zeitungsnachrichten gewarnt würde. Und diesem albernen Aristokraten war natürlich daran gelegen, jedes Aufsehen zu vermeiden; damit hatte Salvioli gerechnet! ... Seine Kalkulation stimmte! Wochenlang war Ilona in seiner Hand ... Warum hatte er nicht längst mit ihr Berlin und dieses ganze, unerträgliche Land verlassen, in dem der Bürger nicht einmal die Freiheit besaß, sich von Leuten, die klüger waren, sein Geld abnehmen zu lassen?! ...

Ein Hohnlachen glitt über das graue Gesicht des Mannes, der das Für und Wider seiner verbrecherischen Rechnung überschlug und der zu dem Schluß kam, daß er sich geirrt habe, daß ein Fehler in dem Exempel sei, der ihn verderben könne.

Er hatte Ilona verboten, Zeitungen zu lesen ... Und das war das erste Mal, daß sie seinen Befehl mißachtete ...

Merkwürdig, diese Tatsache, gegen die er wenig unternehmen konnte, machte ihn selbst wankend in seiner Fertigkeit und Härte ... Sie flog auch nicht mehr, wenn er befahl, sie ging mit widerwillig schleppenden Füßen; und es schien ihm, als ob ihre Augen ihm in heimlicher Empörung folgten, als ob Gedanken und Pläne sich hinter ihrer feinen Stirn erhöben, wie sie ihre Ketten brechen könne ...

Eines war ihm klar: das Netz mußte mit dem Augenblick über ihm zuschlagen, wo ihm Ilona tatsächlich den Gehorsam weigerte ...

Sie sprach ebensowenig wie früher ... Aber ihre Gesichtszüge waren belebter, und in den großen, tiefblauen Augen flammte der Haß deutlicher als je zuvor ... Die sahen ihn jetzt oft unverhohlen und geradeaus an, diese Augen, und leuchteten wie Warnungsfackeln, die ihm seinen Untergang weissagten ...

Sollte er sich ihrer entledigen?

Das ging auf mancherlei Art ... Er brauchte nicht einmal selbst Hand an sie zu legen ... Ein in der Hypnose gegebener strenger Befehl genügte, sie auf den Hausboden steigen zu lassen ... daß sie von da zwei Stock hoch hinunterstürzte und sich zuschanden schlug – das bedurfte keiner besonderen Nachhilfe ...

Aber merkwürdig, er hatte nicht mehr den Mut dazu ...

Seit er am Morgen des 14. April da drüben aus dem Hause herausgetreten war, hatten ihn seine kalte Ruhe und die Empfindungslosigkeit verlassen, die ehedem sein Tun bestimmten ... Er dachte nicht daran, Gewissensbisse zu empfinden – ein Organ, wie das Gewissen – wenn es nicht auch bei den anderen eine Phantasie, eine schöne Heuchelei war –, er hatte jedenfalls nie eines besessen ... das war eben Nervensache! – Solange man wirklich Herr seiner selbst blieb, konnten tote Menschen einem nichts anhaben, gleichgültig, auf welche Weise sie umgekommen waren ... Und trotzdem: es war die größte Torheit, die er in seinem Leben begangen hatte ... Warum bloß ... Warum?

Er hatte die Witwe Meyer eines Nachts auf einem Tanzzirkel kennengelernt ... Sie war ihm ekelhaft gewesen, aber an ihren großen Diamanten und an der ganzen prahlerischen Art, in der sie sich gab, sah er, daß sie viel Geld besaß. Damals hatte er, leidenschaftlicher als je spielend, auch das Letzte verloren. Was er noch nie getan, sogar einen Teil seiner Kleidung hatte er versetzt. Und Ilona, der schon da seine Absichten galten, war ihm durch Zufallsspiel immer wieder ausgewichen.

Natürlich hatte er mit der Witwe Meyer sofort hypnotische Versuche angestellt. Diese Art, anderen zu suggerieren, daß sie ihm ihr Geld freiwillig gaben, hatte er ja oft mit Erfolg angewandt. Bei der Alten aber verfing nichts. Eine ganz ungeistige Natur, stand sie mit ihren dicken Beinen so fest auf der Erde, daß er schon nach kürzester Frist erkannte, alle seine Mühe, ihren Geist der Materie zu entrücken, würde vergeblich sein. Aber sei es nun, daß ihn die Not zwang, oder erregte diese dumme und unbewußte Hartnäckigkeit der Witwe seinen Zorn – er wollte nicht nachlassen! Und dabei war die Frau gutmütig genug und ging ein auf seine wiederholten Versuche, sie in hypnotischen Schlaf zu bringen. Aber als das nicht gelang, als sie sich nicht in Hypnose berauben ließ – da schritt er zur Tat. So war er sich wohl klar über die Beweggründe, die ihn zum Morde geführt hatten ... Aber der Entschluß selbst, die Kraftquelle zur Entscheidung und die Vision der Stunde, in der aus dem Gelüst der blutige Wille und aus diesem die mörderische Tat wuchs – diese ganze, so tief unerklärliche Entstehung des Mordes verschwamm auch vor seinem scharfspürenden Geist in einem düsterroten Nebel.

Gesehen hatte ihn außer der alten Frau, die an Krücken ging und vor dem Hause saß, wohl keiner. Und die Alte – um das festzustellen, war er ja heute eigens hergekommen! – die würde ihn auch kaum wiedererkennen, selbst wenn er ohne Verkleidung vor sie hinträte ...

»Nein, es blieb nur die Schnur ... dieser Wahnsinn mit der blauen Schnur ... Warum er die gerade genommen hatte; wo da die tieferen, in irgendeiner verborgenen Seelenfalte steckenden Gründe lagen, darüber zergrübelte er seinen schon seit Tagen schmerzenden Kopf vergebens ...

Das war das einzige Beweismaterial gegen ihn ... Wenn die Schnur auf dem Gerichtstische lag, und die Sachverständigen fingen an, das Gewebe, den Faden, die Herkunft des Fabrikates zu prüfen, dann war er verloren! Dann nutzte kein Leugnen mehr! In den Zeitungen hatte über den Mord lange nichts gestanden; keine Hindeutung hatte er, der doch jede kleinste Notiz gierig verschlang, darüber gefunden, daß man sich über die Herkunft der Kordel Gewißheit verschafft habe.

Damals hatte er seine Nerven zum Gehorsam gezwungen! Er hatte die Tote so sorglich ins Bett gelegt, hatte sie eingehüllt in Kissen und das Bett über ihr gemacht – kein Krankenpfleger hätte das besser gekonnt! ... Alles hatte er vorausgesehen und wohl bedacht: daß Leute in die Wohnung kommen, nach der Witwe sehen könnten und daß sie dann die Wohnung in vollster Ordnung finden und keinen Augenblick daran denken würden, in dem peinlich eingedeckten Bett könne eine Tote liegen ...

Alles hatte er überlegt und vorausberechnet, alles! ... Nur eines nicht ... An eines hatte er nicht gedacht! An das Allernächstliegende: er hatte vergessen, der Leiche die blaue Seidenschnur vom Halse zu nehmen ... Warum er dies vergessen, weshalb er daran nicht gedacht hatte? – Vielleicht weil ihn die Habsucht trieb ... weil er in Ungewißheit war, ob die Alte nun auch wirklich die Quartalsmieten noch im Hause hatte ... Er suchte wie ein Toller und schrie auf vor Genugtuung, als er endlich das Geld in der stoffüberzogenen Wäschekiste gefunden hatte.

Er verließ die Wohnung ohne Furcht, mit einer Sicherheit und Ruhe, als käme er von einem lustigen Besuch ... Und erst, als er die alte Frau, die ihre Krücken hinter sich an die Wand gestellt hatte, vorm Hause in der Sonne sitzen sah, da erst fiel ihm – warum nur gerade jetzt? ... vielleicht weil es ebenfalls eine alte Frau war, die dort saß? – da erst fiel ihm seine grauenhafte Vergeßlichkeit ein. Da erst dachte er an die blaue Seidenschnur, die den Hals seines Opfers drosselte, die, eine stumme und furchtbare Zeugin der Tat, gefunden werden mußte.

Und er hatte den Mut nicht mehr gehabt zurückzugehen ... Es wäre auch unmöglich gewesen: wer sollte ihm die Wohnung jetzt noch öffnen, zu der er den Schlüssel nicht hatte? ...

Das war ihm tagelang nachgegangen. Tagelang war er innerlich wie gelähmt und betäubte sich nur im Spiel, das ihm in kurzer Zeit die ganze, recht beträchtliche Summe wegfraß, um derentwillen er gemordet und sein eigenes Leben vernichtet hatte.

Seine kühle Logik, sein grüblerischer Verstand eilte jetzt seinem Leben voraus bis an das Ende. In dieser Stunde ward er selbst zum Hellseher, der vor- wie rückwärts blickte, als seien alle Schleier vor Vergangenheit und Zukunft fortgezogen.

Er sah sich als Kind einer kleiner Schauspielerin, die sich in einen Italiener verliebt hatte, der in Wien einen Handel mit schlechten Porträtabgüssen betrieb. Der Mann, ein Säufer und Messerstecher, wurde vom Kaiserlich-Königlichen Bezirksamt per Schub über die Grenze gebracht. Der Sohn war alles, was er seiner Geliebten zurückließ ... Und die gab ihn bei einem Tageschreiber in Pflege, der selbst kaum zu essen hatte; nur das Pflegegeld bezahlte sie nicht, ging auf Kunstreisen und verschwand ... Pietro Salvioli konnte sich nie vorstellen, wie es ist, wenn man Eltern hat, was man empfindet, wenn man geliebt wird ...

Er wurde in die Schule geschickt und lernte da gar nichts weiter als Lesen ... Die Erkenntnis irgendeines Zahlenwertes blieb ihm lange verschlossen. Die anderen Gegenstände langweilten ihn, gegen Religion und Sittenlehre hatte er eine an Haß streifende Abneigung.

Aber er las ... Jedes bedruckte Stück Papier, das ihm in die Hände fiel, verschlang er gierig.

Mit zwölf Jahren lief er seinen Pflegeeltern, die die Stadt entschädigt hatte, fort und handelte, wie sein Vater, mit Gipsbüsten. Dann kam er an eine Schauspielertruppe, die ihn wegen seiner schlanken Gestalt, um seiner dunklen Locken und seines flammenden Augenpaares willen mit auf den ärmlichen Kunstkarren nahm.

So lernte er die Landstraße mit ihrer Not und ihrem notgedrungenen Verbrechen kennen. Er war ein Vagabund und war doch genug Künstler, um an die Oberfläche zu kommen, um nicht im Schmutz und Staub der Jahrmärkte und Messen unterzugehen.

Aber es zog ihn in die Stadt ... Er ahnte, daß da seinen Talenten ein besserer Boden blühte. Dort fiel er einem Magnetiseur in die Hände, einem platten Schwindler, der ihn als »Astralknaben« ausputzte und für Geld zeigte. So lernte er Hypnotismus und Suggestion, Telepathie und Clairevoyance kennen, zuerst als lächerlich einfache, betrügerische Manipulation, an deren wissenschaftlichen Wert der junge Stromer und Landfahrer keineswegs glaubte, da seine eigene Vorführung ein frech abgekartetes Spiel zwischen ihm und seinem Meister war.

Aber sein Lesen, seine Wißbegier kamen ihm zu Hilfe. Sein scharfer Verstand, ein eifriger Spürsinn für alles Mystische, Geheimnisvolle und Abenteuerliche brachten ihn an den großen Vorhang, der, noch wenig gelüftet, bis heute die okkulte Welt zudeckt. Er lernte einsehen, was Wissenschaft und was Gauklerkunst war, und er begriff allmählich die fabelhafte Kraft der Suggestion, der geistigen und seelischen Beeinflussung, die ihm selbst innewohnte ...

Nun war der Weg bis zur Anwendung seiner Macht kurz. Er ging ihn skrupellos, ohne jedes Bedenken, mit kalter Überlegenheit und selbst nur dann aus seiner Bahn geschleudert, wenn der Spielteufel ihn packte, und wenn er die Wut, den Zorn über seine Verluste im Wein ertränkte ... Vielleicht spielte auch da der Hang zum Romantischen, den alle Verbrecher haben, eine Rolle ... Vielleicht hatte er ihm die blauseidene Schnur in die Hand gedrückt, als er an einem Aprilmorgen nach der Mariendorfer Straße ging, um die Rentnerin und Hausbesitzerin zu erwürgen.

So sah er, wie man nach einem langen Aufstieg von der Bergspitze im Abendlicht eine Landschaft betrachtet, in der man einst gelebt hat, seine Jugend. Aber es war ihm in dieser Stunde auch gegeben, nach der Seite des Abstiegs hinunter zu schauen. Und da war kein Weg, kein Steg! Steile Grate und Felszacken fielen in bodenlose Tiefe! Wer da hinabwollte, mußte stürzen!

Mit dem Gefühl einer furchtbaren Ernüchterung und Seelenmüdigkeit sah sich Pietro Salvioli in der Kneipe um ... Am Schenktisch stand eine alte Frau im Halbdunkel ...

Er sah die Alte von drüben aus Nr. 19 steif und tot vor sich und schauderte ... Mit Gewalt riß er sich zusammen ... wenn er solchen Phantastereien nachgab, dann war er gleich verloren!

Ihm war, als klappte hinter ihm eine eiserne Tür ins Schloß, die jeden Ausweg versperrte ...

Nach Haus, nach draußen, zu Ilona hin wollte er nicht mehr ... Als er sie gestern abend verlassen hatte, um, wie schon manchmal, seinen Schlupfwinkel in der einsamen Villa aufzusuchen, da hatte sie so eigen gelächelt ... nicht mehr so hündisch ergeben ... nein, als wenn sie innerlich froh wäre, froh und gefaßt und mit sich selbst zufrieden ...

Stand sie schon in Verbindung mit seinen Feinden? ... Unmöglich! ... Aber ihre Seele hatte sich ihm entwunden. Der Glaube an seine Zauberkraft und das Gefühl der eigenen Ohnmacht, das war schon von ihr abgefallen, oder es wollte eben, wie eine schwere, die Schulter wunddrückende Bürde, von ihr gleiten! ...

Er knirschte mit den Zähnen ... Sie entzog sich ihm! ... Sie wurde frei! ... Bald würde sie an der Seite seiner Gegner hinter ihm herjagen! ...

Daß er ihr nicht auch den Hals zugeschnürt hatte mit der blauseidenen Schnur! ... Ein rasendes Gefühl nach Rache für sein Ende, das er so deutlich vor sich sah, überkam ihn! Er hätte aufspringen mögen und, jeglicher Gefahr trotzend, noch einmal hinauseilen in die einsame Gärtnervilla, um wenigstens an der einen, die sich von ihm losriß, seinen Haß zu kühlen.

Er blickte auf.

Die Wirtin fragte ihn, ob er noch ein Glas Bier wolle.

Ja, seinetwegen ...

Dabei sah er durchs Fenster auf die Straße ...

Der Atem verging ihm, sein Gesicht, seine Glieder wurden starr; ihm war, als ob plötzlich Eiswasser statt des Blutes in seinen Adern rieselte.


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