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XII. Kapitel.

Der Kommissar war auf dem Wege zum Dönhoffplatz, er wollte sich dort mit dem Grafen Zeinfeld treffen.

Die Normaluhr zeigte auf dem Spittelmarkt schon zehn Minuten nach elf. Doch auf den taghellen Straßen war ein Leben und Treiben wie am Mittag ... Das Herz dieser großen Stadt, die in einem einzigen Menschenalter sich um das Fünffache vergrößert hatte, schlug unter der weißen Lichtflut der Bogenlampen nicht weniger laut und stürmisch, als wenn die Sonne grell über den Asphalt flammte ... Und das Vergnügen, die laute Luft dieser arbeitsamen Menschen, die der Tag in seinem Triebwerk festhielt, sie bemächtigten sich der Nacht, zerbrachen mit hohem Geräusch ihr Schweigen und kamen erst, wenn der weiße Morgen sich über den Häusern erhob, zur Ruhe.

Wie oft hatte der Kommissar diese Stadt durchstreift, die er kannte wie kaum ein anderer, in der er geboren war und die er liebte in ihrem gewaltigen Wachstum, mit all ihrer Schönheit und ihrer tiefen Häßlichkeit, mit ihrem rasenden Menschenverbrauch und mit der überraschenden Großartigkeit ihrer Erscheinungen ... Er hatte beinahe sämtliche Großstädte der Welt kennengelernt, aber nirgends glaubte er einen so festen Willen zur Arbeit, nirgends eine so naive Freude am Genuß gefunden zu haben ...

Ja, sein Berlin! ... Das war wie eine junge, kraftvolle Frau, die unablässig gebiert und im Gebären nur immer schöner wird! ...

Als Dr. Splittericht ins Café Zinsser kam, sah er den Grafen schon beim Kaffee sitzen. Der Aristokrat hatte eine Zeitung in der Hand, doch er starrte über das Gedruckte hinweg ins Leere. Sein Gesicht war in den vier Wochen seit dem Verschwinden seiner schönen, jungen Geliebten fahl und mager geworden, und die Hakennase trat noch schärfer aus dem Profil heraus. Der Art, wie seine linke Hand auf dem Marmor des Tisches nervös spielte und wie seine Lippen sich leise bewegten, sah man die bittere Unrast an, die sein Leben seitdem vergiftete und seine Nächte träumeschwer und schlaflos machte.

Der Mann tat dem Kommissar leid, er hätte ihm gern geholfen. Doch er war überzeugt, daß hier mehr als sonst Geduld nötig war, daß am Ende nur Ilona selbst durch ihr Wiedererscheinen das Rätsel lösen werde.

An den Grafen herantretend, leicht seine Schulter berührend, erschrak er selbst fast über das Zusammenfahren Zeinfelds.

Der Aristokrat entschuldigte sich, er sei ein wenig schwach in den Nerven; er hätte auch schon die Absicht gehabt, etwas für sich zu tun, vielleicht zu reisen, aber die Sorge um Ilona habe ihn nicht fortgelassen.

Dann zündeten sich die beiden Männer eine Zigarette an, Dr. Splittericht nahm einen »Schwarzen«, und sie besprachen ihr Vorhaben für heute Nacht.

»Wir suchen einen Hoteldieb,« sagte der Doktor-Kommissar, »der von Amsterdam avisiert ist. Er hat dort einen amerikanischen Juwelenhändler den Koffer mit Diamanten für mehrere hunderttausend Dollars gestohlen. Der Preis für ihn ist – lebendig oder tot – 10 000 Mark – das lohnt sich schon! – wenn wir ihn fassen ... Heute früh hab' ich einen Brief bekommen ... da bitte, lesen Sie!«

Der Graf nahm den Brief – aus Höflichkeit, ihn interessierte einzig und allein seine eigene Angelegenheit – und las:

»Mac Duffre ist hier – trifft sich mit Abraham Feinglas, der kauft, im Janitscharenkeller ... Der will Dienstag wieder nach London ... Keine Zeit zu verlieren ... Ein Freund.«

Der Graf reichte den Briefbogen, dem ein Duft wie von Mandelblüten entströmte und der gewiß von einer Frauenhand geschrieben war, dem Kommissar zurück ... Diese Sache fing doch an, ihn zu interessieren! Der Sportsmann wurde wach, und er begriff wohl, daß die Jagd auf so seltenes und gefährliches Menschenwild keiner anderen an Reiz und Aufregung nachstehen möge.

»Nun ist«, der Kommissar steckte den Brief sorgfältig fort, »dieser Feinglas, den wir längst als Hehler größten Stils kennen – wenngleich er uns noch nie ins Garn gegangen ist –, dieser Feinglas ist tatsächlich in Berlin, er bewohnt im »Imperial-Hotel« eine ganze Zimmerflucht, hat eigene Dienerschaft, ein eigenes Auto mit auf der Reise, tritt überhaupt in jeder Weise als Grandseigneur auf ... Warum er überhaupt reist, meinen Sie, und die Herren Gauner nicht nach London kommen läßt? – Oh, das ist ganz einfach: England hat die schärfsten Strafbestimmungen, eben weil dort alle Gauner aus der Alten und der Neuen Welt ihre »Sore verschärfen« – Pardon, das gestohlene Gut abzusetzen belieben ... Ja, dort gibt es heute noch im Zuchthaus die alte, gute Tretmühle, und vor der haben natürlich so vornehme Herrschaften« einen Heidenrespekt. Deswegen reist Herr Feinglas, der überhaupt nur die Geschäfte macht, wenn es sich um viele Tausende handelt, seiner Kundschaft immer bis zum halben Wege entgegen und wickelt seine Kommissionen immer auf neutralem Boden ab ... Na, hoffentlich können wir ihn diesmal ein bißchen hier behalten! ... Jedenfalls ist Braun mit fünf anderen feinsten Spürnasen hinter ihm und seiner Dienerschaft her ...«

»Und der andere ... Mac Duffre?« fragte Graf Zeinfeld.

Der Kommissar hob die Achseln.

»Ja, wenn wir das wüßten! ... Wir haben sein Photo ... hier sehen Sie sich ihn mal an, er sieht aus wie ein schottischer Lord oder meinetwegen wie ein ganz verdammter Yankee ...«

Graf Zeinfeld mußte lachen. Wahrhaftig, dieser Juwelenräuber sah aus wie ein Mensch aus der allerersten Gesellschaft! ... Wer sollte, wenn so einer zu ihm ins Eisenbahnabteil trat, wohl argwöhnen, daß das ein Gauner war, der es nur auf die Pretiosen seiner Reisegefährten abgesehen hatte?!

»Aber« – der Doktor-Kommissar nahm das Bild wieder an sich – »es ist ganz leicht möglich, daß auch dieser Kunde sich inzwischen ein anderes Exterieur zugelegt hat ... seit sie ihn im Zuchthause Sing-Sing getypt haben. Das ist fünf Jahre her, und so alt ist auch die Photographie ... Die größte Raffinesse solcher alten Fachleute besteht darin, daß sie ein vollständig anderes Menschenbild aus sich machen im Laufe der Zeit ... nicht nur, daß sie Bart- und Haartracht ummodeln und der Kleidung einen völlig neuen Stil geben, nein, sie verändern mit einer Konsequenz, die man bewundern muß, ihre Gangart, den Ausdruck des Gesichts; sie gewöhnen sich eine ruhige Heiterkeit an, wo früher vielleicht kalter Ernst den Beschauer abstieß, lassen falsche Goldplomben in ihre Zahnreihen setzen, tragen plötzlich die Renommierschmisse des Korpsstudenten, die sich ja täuschend nachahmen lassen, und sie kommen auf taufend Ideen und Tricks, die ein Wiedererkennen sehr erschweren ... übrigens, denk' ich, wir gehen ... Es ist bald zwölf! Jetzt muß der Janitscharenkeller schon im vollen Betrieb sein ...«

»Was wollen Sie da, lieber Doktor?«

»Vielleicht meinen Mann finden!« Der Kommissar klopfte auf seine Brusttasche: »Vielleicht können wir da auch in Ihrer Sache was tun.«

Sie verließen das Café und gingen die Kommandantenstraße herunter. Hinter der Alten Jakobstraße war ein Keller mit breitem Eingang. Wenn man in den Hals hinabsah, leuchtete die verhangene Glastür. Man hörte singen und den Schall von Musikinstrumenten.

»Ich übernehme die Führung, Herr Graf. Wenn wir unten sind, bitte, benehmen Sie sich genau so, als ob Sie in Ihre gewohnte Bar träten.«

Als die Tür des sich weit nach hinten ausdehnenden Raumes sich öffnete, sah man zunächst in dem qualmerfüllten Lokal wenig. Nur der schlimme Lärm eines Riesenorchestrions, das mit Pauken und Trompeten, Zimbeln, Klarinetten und ähnlichem Blechzeug arbeitete, fiel dem Empfindlichen auf die Nerven.

Der Keller war in Nischen eingeteilt, die Wände aus künstlichem Weinlaub hatten; an der Decke hingen Girlanden aus weißen und roten Papierblumen, noch ziemlich sauber und wohl einem der letzten Bockbierfeste ihr Dasein dankend. Das Licht kam von großen Deckenlampen mit weißem Emailleschirm, war elektrisch und verbreitete eine verqualmte Helligkeit.

»Die Luft ist greulich!« sagte der Graf.

»Ja, ein Schwitzbad bekommt man hier gratis«, erwiderte der Kommissar.

Sie kamen an einer Nische vorbei, in der vier Bierkutscher in ihrer Arbeitskleidung zechten. Indem sie vorbeigingen, fiel dem Kommissar die Zigarette zu Boden. Er bückte sich. Einer der Bierfahrer sagte leise, aber doch so deutlich, daß es des Grafen seines Ohr ebenfalls vernahm:

»Er war hier, Herr Kommissar, mit der roten Therese ... aber er kommt wieder ... Zahnke ist ihm nach ...«

Der Kommissar richtete sich ruhig auf. Hatte er die Worte nicht gehört? Der Graf war so verdutzt, daß er sich noch einmal umwenden mußte. Und da erkannte er in dem Bierkutscher, der eben leise gesprochen hatte, den Kriminalbeamten Braun.

»Kommen Sie«, sagte der Doktor-Kommissar zwischen den Zähnen, und der Graf folgte ihm lächelnd, mit einem Scherz auf den Lippen.

Das war nötig, denn die Kleidung des Aristokraten, der seinen Rang nicht verleugnen konnte, fing an, aufzufallen.

Was sagen Sie zu der Damenwelt?« fragte der Kommissar.

»Ich bin erstaunt! Das sind ja geradezu Schönheiten, die Schwarze da drüben und die Blonde neben dem Pseudokavalier ...«

»Sagen Sie das nicht! Das ist mal ein bekannter Herrenreiter gewesen, der sich schließlich bis hier runter in den Keller gejeut hat ...«

Damit blieb Dr. Splittericht vor einer Nische am Kellerrande, in der Nähe des gutbesetzten Büfetts flehen, winkte hinein und rief:

»Ah, die Gnädigste der Gnädigen! ... Schon da und wie immer von Jugend und Schönheit umgeben!«

»Prost! Doktorchen!« bekam er zur Antwort von einer Matrone im bordeauxroten Seidenkleid mit einem reizenden Blumenhut auf der grauen Frisur ... »Hier, kommen Sie 'n bißchen her zu uns! ... Und wen bringen Sie da?«

»Mein Freund, Graf Y.,« stellte der Kommissar vor. »Der Herr möchte sich ein bißchen mit den Mysterien der Weltstadt vertraut machen ...«


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