Victor Hugo
Notre Dame, Teil 2
Victor Hugo

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XVI.

Ludwig XI. in der Bastille.

Der Leser wird sich erinnern, daß Quasimodo von seinem Thurme herab, ehe der Angriff auf die Liebfrauenkirche begann, in ganz Paris nur noch ein einziges Licht erblickt hatte. Dieses Licht brannte in der Bastille, und zwar in Ludwigs XI. Zimmer.

Der König war seit zwei Tagen in Paris; am dritten Tage wollte er die Hauptstadt wieder verlassen, worin er nur auf kurze Zeit zu erscheinen und schnell wieder zu verschwinden pflegte.

An diesem Tage hatte er sich in die Bastille begeben, um dort die Nacht zuzubringen. Die großen Zimmer im Louvre behagten diesem bürgerlichen König nicht; es war ihm wohler in einem runden Thurmzimmer und in einem kleinen Schlafgemach der Bastille. Zudem war die Bastille fester als der Louvre.

Dieses Zimmer, das sich der König in dem berüchtigten Staatsgefängniß vorbehalten hatte, war gleichwohl noch groß genug und nahm den ganzen obersten Stock eines Thurmes ein. Es hatte nur ein einziges großes Bogenfenster und nur einen Eingang.

Im ganzen Zimmer war nur ein einziger Stuhl, zum Zeichen, daß nur Eine Person das Vorrecht habe, hier zu sitzen. Neben diesem Stuhl, ganz nahe am Fenster, stand ein mit einem Teppich behängter Tisch. Auf dem Tische war ein Dintenfaß, etliche Pergamente, etliche Federn und ein silberner Humpen. Etwas weiter entfernt stand ein Betschemel. Im Hintergrund des Zimmers stand ein einfaches Bett von gelbem Damast.

Das Zimmer war ziemlich dunkel und nur von einem einzigen Wachslicht beleuchtet, das auf der Tafel stand. Beim flackernden Scheine desselben erblickte man fünf Personen.

Die eine dieser Personen war ein reich in rothen Sammt mit Silberstoff gekleideter Herr. Er trug im Gürtel einen kostbaren Dolch, auf dem eine Grafenkrone war. Er hatte bösartige Züge und eine stolze Miene. Hochmuth mit List gepaart, ließ sich auf den ersten Blick in seinem Gesichte erkennen.

Dieser Herr stand mit entblößtem Haupte, einen langen Zettel in der Hand, aufrecht hinter dem Stuhl, auf dem ein magerer, ärmlich gekleideter Mann saß, der einen alten, schmutzigen, rundum mit bleiernen Figuren besetzten Hut von grobem schwarzem Tuch auf dem Kopfe hatte. Sein Haupt war so tief auf die Brust herabgebeugt, daß man nichts von seinem Gesichte sah, als den Zipfel einer langen Nase. Die Magerkeit seiner runzligen Hand deutete auf ein vorgerücktes Alter. Dieser Mann war Ludwig XI.

In einiger Entfernung hinter ihnen flüsterten miteinander zwei Männer in flämischer Kleidung, in denen Jeder, welcher der Vorstellung des Mysteriums im Justizpalaste angewohnt hatte, leichtlich Wilhelm Rym, den klugen Rathsherrn, und Jakob Coppenole, den populären Strumpfweber, wieder erkennen konnte. Diese beiden Männer waren, wie wir schon wissen, in die geheimnißvolle Politik Ludwigs XI. eingeweiht.

Ganz im Hintergrunde, nahe an der Thüre, im Halbdunkel, stand, aufrecht und unbeweglich, gleich einer Bildsäule, ein Mann von kräftigem Gliederbau in kriegerischer Rüstung. Sein gemeines, plumpes Gesicht war eine Mischung von Hund und Tiger.

Alle standen mit entblößtem Haupt, nur der König saß und war bedeckt. Der Herr, der hinter seinem Stuhle stand, las ihm aus dem langen Zettel vor, den er in seiner Hand hielt, und der König schien ihm aufmerksam zuzuhören. Die beiden Flamänder flüsterten miteinander.

»Beim heiligen Kreuz!« brummte Jakob Coppenole, »ich bin es müde, so dazustehen; gibt es denn keinen Sessel hier?«

Wilhelm Rym antwortete mit einem verneinenden Zeichen.

»Donnerwetter!« fuhr Jakob Coppenole fort, indem er mit Mühe seine Stimme dämpfte, »ich habe Lust, mich auf den Boden niederzusetzen, mit gekreuzten Beinen, wie ich, als ein guter Strumpfweber, in meiner Werkstätte thue.«

»Das geht nicht an, Meister Jakob!«

»Höllenteufel, Meister Wilhelm! Muß man denn hier immer auf seinen Füßen stehen?«

»Auf den Füßen oder auf den Knieen,« erwiederte Wilhelm Rym trocken.

In diesem Augenblicke ließ sich die Stimme des Königs hören, und sie schwiegen.

»Fünfzig Sous,« sagte der König, »die Röcke unserer Lakaien, 12 Livres die Mäntel unserer Hofkaplane! So ist es recht! Werft das Geld zum Fenster hinaus! Bist Du verrückt, Olivier?«

Mit diesen Worten erhob der alte Mann sein Haupt. Das Licht beleuchtete ein wenig sein mageres, mürrisches Gesicht. Er riß dem Andern das Papier aus der Hand.

»Will man Uns zu Grunde richten?« rief er und ließ seine hohlen Augen auf dem Zettel hin und her laufen. »Was zum Teufel! brauchen Wir das Alles? Wozu bedürfen Wir eines so kostbaren Hofstaates? Zwei Kaplane mit zehn Livres monatlich ein jeder, und ein Kirchendiener mit fünf Livres! Ein Kammerdiener mit 80 Livres jährlich! Vier Mundköche mit 120 Livres ein jeder! Dazu noch all das unnütze Küchengeschmeise! Ein Hofjäger und seine beiden Gehülfen, mit 24 Livres monatlich. Unser Hofintendant zwölfhundert Livres im Jahre! und sein Controleur fünfhundert! Das ist gar zu toll! Unser Volk kann am Ende die Besoldungen Unserer Dienerschaft nicht mehr aufbringen! Wir werden zuletzt noch unser Silbergeschirr verkaufen müssen, um alle diese Leute zu bezahlen, und im nächsten Jahre, wenn Gott und unsere liebe Frau (hier rückte er den Hut) Uns das Leben schenken, werden Wir Unsern Kräutertrank aus einem kupfernen Topfe trinken müssen!« Bei diesen Worten warf er einen Blick auf den silbernen Humpen, der vom Tische leuchtete. Dann hustete er und fuhr fort: »Meister Olivier, die Fürsten, die als Kaiser und Könige über große Reiche herrschen, dürfen die Verschwendung in ihren Hofhaltungen nicht aufkommen lassen, denn von den Häusern der Könige geht sie in die Provinzen und in die Wohnungen der Unterthanen über. Darum, Meister Olivier, laß Dir ein für allemal das gesagt sein: Unser Aufwand steigt mit jedem Jahre, und das gefällt Uns nicht. Bis zum Jahre 1479 überstieg er nicht 36,000 Livres, im Jahre 1480 betrug er bereits 43,619 Livres. Ich weiß alles das auswendig; im Jahre 1481 erreichte er schon 66,680 Livres, und in diesem Jahre wird er gar nahe auf 80,000 kommen! Vervierfacht in vier Jahren! Das ist abscheulich!«

Der König schwieg ganz erschöpft, dann fuhr er grämlich fort: »Ich habe lauter Leute um mich, die sich von meiner Magerkeit mästen! Ihr saugt mir aus jedem Schweißloch einen Thaler!«

Alle schwiegen. Das war so ein königlicher Zorn, den man austoben läßt.

Der König fuhr fort: »Das ist, wie dieses lateinische Requisitorium des französischen Adels, daß Wir wiederherstellen, was sie die großen Obliegenheiten der Krone nennen; Obliegenheiten in der That! Obliegenheiten, unter denen Wir erliegen! Ah! Ihr Herrn! Ihr sagt, daß Wir nicht ein König seien, um zu regieren, dapifero nullo, buticulario nullo! Wir werden euch zeigen, ob Wir nicht ein König sind!«

Hier lächelte der König im Gefühle seiner Macht. Seine üble Laune milderte sich, er wendete sich den Flamändern zu und sagte: »Seht einmal, Gevatter Wilhelm, der Oberstkammerherr, der Oberstmundschenk, der Oberstjägermeister, der Oberintendant des königlichen Schatzes, sind nicht so viel werth, als der geringste Diener meines Haushalts. Merkt es wohl, Gevatter Coppenole. Sie taugen zu nichts, zu gar nichts. Wenn ich sie so unnütz um den König stehen sehe, so kommen sie mir vor, wie die vier Evangelisten auf dem großen Glockenthurm des Palastes. Die sind vergoldet, aber sie zeigen die Stunde nicht an. Fahre fort, Olivier!«

Die Person, die er mit diesem Namen benannte, nahm den Zettel wieder zur Hand und las mit lauter Stimme:

»An Adam Tenon, Commis am Siegelamt zu Paris: Für den Stich, das Silber und die Façon der gedachten Siegel, welche neu gefertigt worden, weil die anderen Alters halber nicht mehr wohl zu gebrauchen waren: 12 Livres Pariser Währung.

»An Guillaume Frere, die Summe von vier Livres, vier Sous, für Gehalt und Mühwaltung, wegen Ernährung und Verpflegung der Tauben in den beiden Taubenschlägen des Palastes Tournelles.

»An einen Franziskaner-Mönch, der einen Verbrecher Beichte gehört: 4 Sous Pariser Währung.«

Der König hörte stillschweigend zu. Von Zeit zu Zeit hustete er, dann brachte er den silbernen Humpen an seine Lippen und nahm einen Schluck, indem er das Gesicht verzog.

»In diesem Jahre sind auf gerichtliche Anordnungen sechsundfünfzig Ausrufe unter Trompetenschall auf den Straßen und öffentlichen Plätzen von Paris geschehen, worüber noch Rechnung zu legen.

»Um an gewissen Orten, sowohl zu Paris als anderwärts, Nachforschungen und Nachgrabungen nach angeblich daselbst verborgenem Gelde anzustellen, wobei aber nichts gefunden worden: 45 Livres Pariser Währung.«

»Da wirft man eine Speckseite nach der Wurst, und gibt einen Thaler aus, um einen Sou zu bekommen!« sagte der König.

»Für zwei neue Aermel an den alten Ueberrock des Königs: 20 Sous,

»Für eine Schmeerbüchse, die Stiefel des Königs zu schmieren: 15 Heller.

»Einen neuen Stall für die schwarzen Schweine des Königs: 30 Livres.

»Einen Käfig für die königlichen Löwen: 22 Livres.«

»Diese Thiere kommen verdammt hoch zu stehen,« sagte der König. »Aber gleichviel, es gehört zum königlichen Staat, und ich liebe diesen großen gelben Löwen. Habt Ihr ihn gesehen, Meister Wilhelm? Könige müssen solche wilde Thiere haben. Unsere Hunde müssen Löwen und unsere Katzen Tiger sein. Das Große steht der Krone wohl an. Wenn zur Heidenzeit das Volk dem Jupiter hundert Ochsen und hundert Schafe darbrachte, opferten die Kaiser hundert Löwen und hundert Adler. Das war gräulich schön. Die Könige von Frankreich hatten immer solche wilde Thiere, die um ihren Thron heulten. Gleichwohl wird man mir die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß ich hierin weniger Geld vergeude als meine Vorgänger, und daß ich in dem Artikel Löwen, Bären, Elephanten, Leoparden etc. bescheidener bin als sie. Was spitzst Du da die Ohren, Freund Olivier? Wir sagen das Unsern Gevattern aus Flandern, damit sie es wissen.«

Wilhelm Rym machte eine tiefe Verbeugung, während Jakob Coppenole nicht übel einem der Bären glich, von denen eben die Majestät sprach. Der König schien nicht darauf zu achten. Er brachte den silbernen Humpen an die Lippen, nahm einen Schluck, spie ihn wieder aus und sagte: »Pfui! der verfluchte Kräutertrank!«

Der Vorleser fuhr fort:

»Für Speisung eines Räubers auf sechs Monate, der im Gefängniß sitzt, bis sein Loos entschieden wird: 6 Livres 4 Sous.«

»Was soll das heißen?« unterbrach ihn der König. »Warum speisen und ernähren, was dem Galgen verfallen ist? Ich will nicht, daß man einen Heller weiter dafür ausgebe. Hörst Du, Meister Olivier, der Bursche soll gleich am morgenden Tage gehängt werden. Wir brauchen keine solche unnützen Kostgänger.«

Meister Olivier machte sich ein Merkzeichen mit dem Daumen zur Erinnerung an diesen königlichen Befehl und fuhr dann fort:

»An Henri Cousin, königlichen Scharfrichter zu Paris, die Summe von 60 Sous Pariser Währung; für ein großes neues Richtschwert zur Vollziehung des Urtheils an denjenigen Personen, die um ihrer Vergehen und Verbrechen willen enthauptet werden, sowie für die Scheide und Alles, was dazu gehört; imgleichen zur Wiederherstellung des alten Richtschwerts, das bei der Enthauptung des Herrn Ludwig von Luxemburg schadhaft geworden ist und Noth gelitten hat, wie des Weiteren erhellt.«

Der König unterbrach den Vorleser. »Schon gut! Diese Summe ist von Grund meines Herzens bewilligt. Das sind Ausgaben, bei denen ich nicht so genau hinsehe. Geld, das auf so zweckmäßige Art verwendet wird, geht mir nicht vom Herzen. Fahre fort!«

»Einen großen Käfig neu zu bauen . . .«

»Ah!« sagte der König, »jetzt fällt mir auf einmal bei, daß ich nicht ohne einen guten Grund in diese Bastille gekommen bin. Warte, Meister Olivier. Ich will diesen Käfig selbst sehen. Du kannst mir dann, während ich davon Einsicht nehme, den Kostenzettel vorlesen. Kommt doch, Ihr Herren Flamänder, da gibt es etwas zu sehen, was der Mühe werth ist.«

Mit diesen Worten erhob sich der König, stützte sich auf den Arm seines Vorlesers, gab dem Schweigsamen, der an der Thüre stand, ein Zeichen, ihm voranzugehen, winkte den Flamändern, ihm zu folgen, und verließ das Zimmer.

Außen an der Thüre vermehrte sich das königliche Gefolge durch vollständig bewaffnete Kriegsmänner und winzige Pagen, die Fackeln in ihren Händen trugen. Der Zug ging eine Zeitlang im Innern des düsteren Gebäudes fort, das bis in die dichtesten Mauern von Gängen durchbrochen war. Der Befehlshaber der Bastille ging voran und ließ die Gefängnisse vor dem alten, kranken, grämlichen, hinfälligen Könige öffnen, der hustend durch die finsteren Hallen ging.

Unter jeder Kerkerthüre mußten sich Alle bücken, nur der alte König nicht, dessen Rücken das Alter gekrümmt hatte. »Hm!« murmelte er zwischen dem Zahnfleisch, denn er hatte keine Zähne mehr: »Wir sind schon fertig zur Pforte des Grabes. Zu niederer Thüre geht man gebückt ein.«

Endlich kamen sie an einen Kerker, dessen Thüre mit Schlössern und Riegeln so wohl verwahrt war, daß man lange Zeit brauchte, sie zu öffnen. Sie traten in einen weiten, bogenförmig gewölbten Saal, in dessen Mitte man beim Scheine der Fackeln einen großen festen Käfig von Mauerwerk, Eisen und Holz erblickte. Das Innere des Käfigs war hohl. Dies war einer jener berüchtigten Käfige, worin Ludwig XI. seine Staatsgefangenen aufbewahrte. An den Wänden desselben waren zwei bis drei kleine Fenster angebracht, die man aber so dicht mit Eisen vergittert hatte, daß man das Glas nicht sah. Die Thüre bestand aus einem einzigen großen gehauenen Steine, der einem Grabsteine glich. Man ging zu dieser Pforte ein, niemals wieder heraus. Hier war man lebendig todt.

Der König ging langsam um diesen Käfig herum und beaugenscheinigte ihn mit der Aufmerksamkeit eines Baumeisters. Meister Olivier folgte ihm und las mit lauter Stimme aus seinem Kostenzettel:

»Einen großen hölzernen Käfig von dickem Balkenwerk neu zu bauen, neun Schuh in der Länge, acht in der Breite und sieben in der Höhe haltend, mit Mauerwerk und eisernen Stangen versehen, welcher Käfig sich in einer der Kammern der Thürme der Sanct-Antons-Bastei befindet, und in welchem Käfig auf Befehl des Königs, unseres Herrn, ein Gefangener festgesetzt ist, der zuvor einen alten baufälligen Käfig bewohnt hat, und sind zu diesem Käfig verwendet worden: 96 liegende und 52 aufrecht stehende Balken.«

»Das ist verflucht viel Holz,« sagte der König und klopfte mit gekrümmtem Finger an den Käfig.

». . . Zu diesem Käfig sind ferner verwendet worden 220 Eisenbarren, im Ganzen 3735 Pfund im Gewicht haltend . . .«

»Das ist verflucht viel Eisen,« sagte der König.

» . . Der ganze Kostenbetrag dieses Käfigs beläuft sich auf 317 Livres 5 Sous.«

»Pasque-Dieu!« rief der König aus.

Bei diesem Lieblingsschwur des Königs hörte man im Innern des Käfigs Ketten klirren, und eine schwache Stimme, wie aus dem Grabe kommend, rief: »Gnade! Sire! Gnade!«

Man hörte die Stimme, aber den Mann konnte man nicht sehen.

»Dreihundert und siebzehn Livres fünf Sous!« wiederholte der König.

Die jammervolle Stimme, die aus dem Käfig ertönte, hatte alle Umstehenden, selbst Meister Olivier, mit Schauder erfüllt. Der König allein that, als ob er sie nicht gehört hätte. Auf seinen Befehl fuhr Meister Olivier in der Vorlesung fort, während die Majestät kaltblütig um den Käfig herumging, ihn zu beschauen.

». . . Ferner bezahlt an einen Maurer, der die Löcher gemacht hat, um die Fenstergitter einzusetzen, sowie den Fußboden des Zimmers ausgemauert, worin der Käfig befindlich, weil der Fußboden dasselbe seiner Schwere halber nicht hätte tragen können: 27 Livres 14 Sous Pariser Währung . . .«

Die nämliche klägliche Stimme aus dem Käfig begann wieder zu seufzen: »Gnade! Sire! Gnade! Ich schwöre Euch bei Gottes Wunden, daß der Kardinal von Angers der Verräther ist, und nicht ich.«

»Dieser Maurer ist sehr theuer!« sagte der König, »Fahre fort, Olivier!«

»Dem Schreiner für Fenster, Thürschwellen u.s.w.: 20 Livres 2 Sous . . .«

Die Stimme aus dem Käfig fuhr fort: »Barmherzigkeit, Sire! Hört mich um Gotteswillen! Ich schwöre bei meiner armen Seele, daß der Kardinal Balue die Sache an den Herzog von Guyenne geschrieben hat, und nicht ich!«

»Der Schreiner ist theuer,« sagte der König. »Ist das Alles?«

»Nein, Sire!«

»Einem Glaser, für die Fenster des gedachten Käfigs 46 Sous 3 Pfennige Pariser Währung,«

Die Stimme ertönte abermals kläglich: »Gnade! Sire! Gnade! Ist es denn nicht genug, daß man mir Hab und Gut genommen hat? Ich bin unschuldig und seufze jetzt vierzehn Jahre in diesem eisernen Käfig. Seid barmherzig, Sire! Der Himmel wird es Euch vergelten.«

»Meister Olivier,« sagte der König, »nun die Hauptsumme?«

»367 Livres 8 Sous 3 Pfennige.«

»Bei unserer lieben Frau!« rief der König aus, »Dieser Käfig kommt Uns hoch zu stehen.«

Mit diesen Worten riß er Meister Olivier das Papier aus der Hand und begann an den Fingern zu rechnen, indem er bald auf den Zettel sah, bald das Bauwesen damit verglich.

Der Unsichtbare im Käfig schluchzte laut und fuhr mit kläglicher Stimme fort: »Vierzehn Jahre, mein Herr und König! Vierzehn lange Jahre! Seit dem Monat April 1469. Bei der heiligen Mutter Gottes, hört mich an und habt Erbarmen! Ihr seid diese ganze Zeit über im Strahl der Sonne gewandelt. Ich habe kein Tageslicht erblickt. Soll ich denn nie die Sonne wieder sehen? Seid barmherzig, Sire! Barmherzigkeit ist eine königliche Tugend. Denkt an Eure letzte Stunde, und wie Ihr ruhig hinscheiden werdet, mit dem Bewußtsein, Euern Feinden vergeben zu haben! Und ich war nicht Euer Feind, ich habe Euch nicht verrathen. Und ich habe eine so schwere Kette am Fuß, an der eine große eiserne Kugel hängt; seid barmherzig, mein Herr und König! Erbarmt Euch eines Elenden!«

Der König schüttelte den Kopf und sprach: »Meister Olivier, ich finde, daß man Mir die Fuhre Gyps zu zwanzig Sous anrechnet, während sie nur zwölf kostet. Das ist in dem Kostenzettel abzuändern,«

Mit diesen Worten wendete der König dem eisernen Käfig den Rücken, um das Zimmer zu verlassen. An den Tritten der Weggehenden und der Entfernung der Fackeln merkte der unglückliche Gefangene, daß der König das Zimmer verließ, und schrie ihm verzweifelnd nach: »Sire! Sire!« – Die Pforte schloß sich.

Der König ging schweigend nach seinem Zimmer zurück. Seine Gefährten folgten ihm, noch versteinert von dem letzten verzweiflungsvollen Ausruf des Lebendigbegrabenen.

Plötzlich wendete sich der König zu dem Befehlshaber der Bastille: »Ei da!« fragte er, »es scheint mir, daß Jemand in dem Käfig war?«

»Bei Gott! ja, Sire,« antwortete der Befehlshaber, ganz verwundert über diese Frage,

»Und wer denn?«

»Der Bischof von Verdun.«

Der König wußte dies besser, als irgend Jemand; aber er pflegte so sein Spiel mit dem menschlichen Elend zu treiben.

»Ah!« sagte er und gab sich das Ansehen, zum erstenmale daranzudenken, »ah! Wilhelm von Harancourt, der Freund des Herrn Kardinals Balue! Ein armer Teufel von Bischof!«

Als sie in das Zimmer zurückkamen, fand der König einige Depeschen, die man in seiner Abwesenheit gebracht hatte. Er öffnete sie, durchlas eine nach der andern und winkte dann Meister Olivier, Dieser nahm eine Feder zur Hand, kniete vor der Tafel nieder und schickte sich zum Schreiben an. Der König diktirte ihm halblaut. Wilhelm Rym strengte seine Ohren an, um etwas aufzuschnappen, er konnte aber nur einzelne Phrasen auffangen, wie z. B. »Die fruchtbaren Gegenden durch den Handel, die unfruchtbaren durch Manufakturen aufrecht erhalten . . . Den englischen Herren unsere vier großen Mörser zeigen . . . Seit es Geschütze gibt, muß der Krieg mit mehr Verstand geführt werden . . . Ohne Steuern kann man keine Armee erhalten . . .« u.s.w.

Einmal erhob er die Stimme: »Bei unserer lieben Frau! Der Herr König von Sicilien siegelte seine Briefe mit gelbem Wachs, wie ein König von Frankreich. Wir thun vielleicht unrecht, ihm solches zu gestatten. Große Häuser müssen auf ihre Vorrechte halten. Notire das, Gevatter Olivier!«

Ein andermal rief er: »Oh! Oh! Das dicke Paket! Was will denn Unser Bruder, der Kaiser, von Uns? Freilich!« fuhr er fort, indem er die Depesche mit den Augen überlief. »Freilich! Dieses Deutschland ist so groß und mächtig, daß es kaum glaublich ist. Jedoch wollen Wir des alten Sprüchworts nicht vergessen: Die schönste Grafschaft ist Flandern, das schönste Herzogthum Mailand, und das schönste Königreich Frankreich. Nicht wahr, Ihr Herren von Brabant?«

Diesmal verbeugte sich Jakob Coppenole so tief, als Wilhelm Rym, denn der König hatte seinem flandrischen Patriotismus geschmeichelt.

Als der König die letzte Depesche las, runzelte er die Stirne, »Was ist das?« rief er aus. »Klagen und Beschwerden über Unsere Garnisonen in der Picardie? Olivier, schreibe flugs an Unsern Marschall de Roualt: daß die Mannszucht nachlasse, daß der Soldat Unsern getreuen Unterthanen vielfachen Schaden zufüge, daß er sie mißhandle, daß er sich nicht mit dem begnüge, was der Bauer im Hause hat, sondern ihn durch Schläge zwinge, Wein, Fische, Gewürz und andere übertriebene Dinge in der Stadt zu holen, daß der König solches wisse, daß der König sein Volk gegen alle ungerechten Forderungen und Mißhandlungen schützen wolle, und daß das Unser fester Wille sei, so wahr Wir König sind. Bei unserer lieben Frau! Diese Kriegsleute kleiden sich in Sammt und Seide, und treiben Eitelkeiten aller Art, die Gott mißfällig sind, während Wir, ein Edelmann und König, Uns mit grobem Tuch, zu sechzehn Sous die Elle, begnügen. Schreibe das dem Marschall, Gevatter Olivier, und thue ihm meinen ernstlichen Willen kund!«

In diesem Augenblicke ging die Thüre auf, ein Mann stürzte herein und schrie mit lauter Stimme: »Sire! Sire! Es ist ein Volksaufstand in Paris.«

Das ernste Gesicht Ludwigs XI. verzog sich, aber die Bewegung seiner Seele war nur einen Augenblick in seinen Zügen sichtbar. Er bezwang sich und sagte mit ernster Ruhe: »Gevatter Jakob, Ihr kommt da sehr barsch in's Zimmer!«

»Sire! Sire! Ein Aufstand!« fuhr Gevatter Jakob athemlos fort.

Der König, der aufgestanden war, faßte ihn rauh am Arme an und sagte ihm, indem er einen Seitenblick auf die Flamänder warf und seinen Zorn zurückhielt, in's Ohr: »Schweig oder rede leise!«

Jakob Coictier begriff schnell und erstattete leise seinen Bericht, den der König ruhig anhörte. Kaum hatte er ihn vernommen, so rief er mit lautem Gelächter: »Wirklich! Rede laut, Gevatter Jakob, was thust Du da so heimlich! Unsere liebe Frau weiß, daß Wir vor Unsern guten Freunden aus Flandern nichts zu verbergen haben.«

»Aber, Sire!«

»Rede laut, sage ich.«

Der Gevatter Jakob verstummte vor Erstaunen.

»So rede doch,« fuhr der König fort: »Also ein Aufstand von Insassen Unserer guten Stadt Paris?«

»Ja, Sire!«

»Und der, wie Du sagst, gegen den Amtmann des Justizpalastes gerichtet ist?«

»So scheint es,« stotterte der Doktor verlegen und noch ganz verwundert über den unbegreiflichen Wechsel, der in den Gedanken des Königs vorgegangen war.

Der König fuhr fort: »Wo ist die Nachtwache den Meuterern begegnet?«

»In der Nähe der Wechselbrücke. Ich bin selbst auf den aufrührerischen Haufen gestoßen, als ich auf Euer Majestät Befehl hieher kam. Ich hörte einige von ihnen rufen: Nieder mit dem Amtmann des Justizpalastes!«

»Und welche Beschwerde führen sie gegen ihn?«

»Ach!« antwortete Gevatter Jakob, »daß er ihr Gerichtsherr ist.«

»Wirklich!«

»Ja, Sire! Es sind die Gauner aus dem Hofe der Wunder. Schon lange beklagten sie sich über den Amtmann, dessen Vasallen sie sind: sie wollen seine Gerichtsbarkeit nicht anerkennen.«

»Ei da!« sagte der König mit einem zufriedenen Lächeln, das er vergebens zu verbergen strebte.

»In allen ihren Eingaben an das Parlament behaupten sie, nur zwei Herren zu haben: Euer Majestät und ihren Gott, der, glaube ich, der Teufel ist.«

»Ei! Ei!« sagte der König und rieb sich die Hände. Er konnte seine innere Freude nicht verbergen, so viele Mühe er sich auch gab, ruhig zu bleiben. Niemand begriff ihn, selbst Meister Olivier nicht.

Der König schwieg einen Augenblick, sein Gesicht war nachdenklich, aber zufrieden. »Sind sie stark?« fragte er plötzlich.

»Gewiß, Sire!« antwortete Gevatter Jakob.

»Wie stark?«

»Wenigstens sechstausend Mann.«

»Gut!« sagte der König. »Sind sie bewaffnet?«

»Mit Waffen aller Art.«

Der König schien vollkommen ruhig. Gevatter Jakob glaubte seinem Berichte beifügen zu müssen: »Wenn Euer Majestät dem Amtmann des Justizpalastes nicht schleunige Hülfe schicken, so ist er verloren.«

»Wir werden ihm Unseren Beistand leisten,« erwiederte der König mit phlegmatischem Wesen. »Allerdings werden Wir ihm beistehen. Der Herr Amtmann ist Unser Freund. Sechstausend! das sind verdammt verwegene Bursche. Das ist eine Keckheit ohne Gleichen, und Wir sind sehr erzürnt darüber. Allein Wir haben in dieser Nacht wenige Mannschaft um Unsere Person. Morgen wird es wohl auch noch Zeit sein.«

Gevatter Jakob entgegnete mit großer Hast: »Wenn nicht sogleich Hülfe geleistet wird, so werden sie zehnmal Zeit haben, den Justizpalast zu verwüsten und den Gerichtsherrn zu hängen. Um Gotteswillen, Sire, sendet doch diese Nacht noch Hülfe!«

»Morgen, habe ich Euch schon gesagt,« erwiederte der König mit einem jener Blicke, die Schweigen gebieten.

Nach einigem Stillschweigen fragte der König: »Mein lieber Gevatter Jakob, Ihr müßt das wissen, welches war . . . welches ist . . . wollte ich sagen . . . die lehensherrliche Gerichtsbarkeit des Bailli?«

»Sire, der Amtmann des Justizpalastes hat die hohe und niedere Gerichtsbarkeit von der Straße Calandre bis zur Straße Herberie, den Sankt Michelsplatz, den Hof der Wunder, dann die ganze Chaussée, die an dem Landbezirk Maladerie beginnt und am Sanct Jakobsthore endet.«

»Ei da!« sagte der König und kratzte sich das rechte Ohr mit der linken Hand, das ist ein ordentlicher Schnipsel meiner guten Stadt Paris. Ah! Der Herr Amtmann war König von diesem ganzen Bezirke. Sehr schön, guter Herr Amtmann!« fuhr er wie in Gedanken mit sich selbst redend fort. »Ihr hattet da ein großes Stück Unserer Hauptstadt zwischen den Zähnen.«

Plötzlich brach er vollends los: »Pasque-Dieu! Was wollen diese Leute heißen, die sich die hohe und niedere Gerichtsbarkeit in Unserem Reiche anmaßen, diese Leute, die jede Ackerslänge ihren Galgen aufgepflanzt haben! Diese Leute, die auf jedem Tritt und Schritt unter Unserem Volke, mit dem Henker hinter sich, ihre Gerichtsbarkeit üben! Wie die Griechen so viele Götter hatten, als Quellen in ihrem Lande waren, so haben die Franzosen so viele Könige, als Galgen in Frankreich sind. Das ist ein übles Ding und mißfällt mir. Was braucht es in dieser Hauptstadt einen andern Gerichtsherrn, als den König, eine andere Rechtspflege, als Unser Parlament, einen andern Gebieter in diesem Reiche, als Uns! Bei meiner armen Seele! Der Tag muß kommen, wo es in Frankreich nur Einen König, nur Einen Richter gibt, wie im Himmel nur Ein Gott ist!«

Der König rückte seinen Hut auf dem Haupte und fuhr im Tone eines Jägers, der seine Meute hetzt, fort: »Gut, mein Volk! Wohlgethan! Zertrümmere deine Ketten! Vernichte diese falschen Gerichtsherren! Schaffe dir selbst Recht, knüpfe sie auf! Ah! Ihr wollt Könige sein, ihr Edelherren! Vorwärts, gutes Volk! Mach ihnen den Garaus!«

Jetzt hielt er plötzlich inne, biß sich in die Lippen, als ob er den ihm entwischten Gedanken wieder zurückrufen wollte, heftete sein durchdringendes Auge auf Einen nach dem Andern, nahm dann seinen Hut ab und sagte: »Wenn du wüßtest, was in meinem Kopfe vorgeht, so würde ich dich heute noch verbrennen.«

Hierauf blickte er um sich, wie ein alter Fuchs, der den Kopf aus der Höhle streckt, und fuhr fort: »Aber gleichviel! Wir werden Unserem Amtmann zu Hülfe kommen. Leider aber haben Wir in diesem Augenblicke nur wenige Truppen um Unsere Person, und der Meuterer sind viele. Man muß warten bis morgen. Dann treibt man den Volkshaufen auseinander und knüpft Alle auf, die eingefangen werden.«

»Fast hätte ich in der Angst vergessen,« sagte Gevatter Jakob, »daß die Nachtwache zwei Nachzügler der Bande aufgefangen hat. Wenn Euer Majestät diese Leute sehen wollen, sie sind da.«

»Ob ich sie sehen will!« rief der König. »Pasque-Dieu! So etwas hast Du vergessen! Lauf geschwind, Du Olivier, und hole sie!«

Meister Olivier kam bald mit den beiden Gefangenen zurück, die von Bogenschützen umgeben in das Zimmer traten. Der erste derselben hatte ein dummdreistes Gesicht und war betrunken; die Lumpen hingen ihm am Leibe herab und er hinkte an einem Fuße. Der zweite Gefangene hatte eine offene, stets lächelnde Miene, die der Leser bereits kennt.

Der König betrachtete sie einen Augenblick schweigend, dann fragte er barsch den ersten »Wie heißest Du?«

»Gieffroy Pincebuerde.«

»Dein Gewerbe?«

»Landstreicher.«

»Was hattest Du mit diesem verfluchten Aufstande zu schaffen?«

Der Landstreicher betrachtete den König mit einem jener Gesichter, in denen so wenig Einsicht zu lesen ist, als man das Licht unter dem Scheffel sieht: »Ich weiß nicht,« antwortete er, »es ging Alles, da ging ich auch mit.«

»Wolltet Ihr nicht das Haus Eures Gerichtsherrn, des Amtmanns im Justizpalast, plündern?«

»Ich weiß nichts, als daß man irgendwo etwas nehmen wollte.«

Ein Soldat zeigte dem König eine Happe, die man bei dem Landstreicher gefunden hatte.

»Hast Du diese Waffe bei Dir getragen?« fragte der König.

»Ja, es ist meine Happe, ich bin ein Weingärtner.«

»Und erkennst Du diesen Menschen da als Deinen Gefährten?« fügte der König hinzu und deutete auf den andern Gefangenen.

»Nein, ich kenne ihn nicht.«

»Gut,« sagte der König.

Hierauf winkte er der schweigsamen Person, die unbeweglich an der Thüre stand, mit dem Finger: »Gevatter Tristan, da ist ein Mann für Dich!«

Tristan verbeugte sich tief, dann ertheilte er Befehl an zwei Bogenschützen, die den Gefangenen wegführten.

Jetzt näherte sich der König dem andern Gefangenen, der große Tropfen schwitzte.

»Dein Name?«

»Sire, ich heiße Peter Gringoire.«

»Dein Gewerbe?«

»Philosoph, Euer Majestät zu dienen.«

»Wie kommst Du dazu, Du Schuft, gegen Unsern Freund, den Amtmann des Justizpalastes, auszuziehen, und was weißt Du von diesem Aufstand zu sagen?«

»Sire, ich war nicht dabei.«

»Mache mir nichts weis, die Nachtwache hat Dich ja in dieser schlechten Gesellschaft aufgefangen.«

»Nein, Sire, hier ist ein Mißverständniß, ein unglücklicher Zufall. Ich bin ein Tragödiendichter. Geruhen Euer Majestät mich anzuhören. Wie gesagt, ich bin Dichter, und Ihr wißt, daß es in der Art der Dichter liegt, bei Nacht umherzustreifen. Ich ging nun so durch die Straßen in meinen dichterischen Träumen. Der Zufall führte mich der Nachtwache in den Weg, und so bin ich verhaftet worden. Von dem ganzen Aufstand weiß ich nichts. Euer Majestät haben selbst gesehen, daß dieser Landstreicher mich nicht kannte. Ich beschwöre demnach Euer Majestät . . .«

»Halt's Maul!« sagte der König, »Du räderst mir den Kopf.««

Tristan trat vor, deutete mit dem Finger auf Peter Gringoire und fragte: »Soll man diesen auch aufknüpfen?«

Dies war das erste Wort, das aus dem Munde des Anführers der königlichen Prevotalwache kam.

»Hm!« antwortete der König nachlässig, »ich sehe kein Hinderniß dabei.«

»Aber ich sehr viele,« rief Peter Gringoire aus.

Unser Philosoph erkannte an der kalten und gleichgültigen Miene des Königs, daß ihm kein anderes Mittel übrig blieb, sein Leben zu retten, als etwas in hohem Maße Pathetisches. Er warf sich daher zu den Füßen Ludwigs XI. und schrie mit der Stimme und den Geberden eines Verzweifelnden: »Sire, geruhen Euer Majestät, mich anzuhören. Sire! Laßt den Blitz Eurer allmächtigen Hand auf kein so winziges Ding fallen, wie ich bin. Gottes Ungewitter zersplittert Eichen, aber keinen Salatkopf. Sire! Ihr seid ein erhabener, mächtiger Monarch, habt Mitleid mit einem armen ehrlichen Manne, der eben so wenig einen Aufstand anzufeuern vermöchte, als ein Stück Eis Feuerfunken von sich gibt! Allergnädigster Herr, Löwen und Könige sind großmüthig. Ach! Strenge verwildert nur die Geister; so lange der Sturmwind heult, behält man den Mantel an, wenn die Sonne scheint, kann man in Hemdärmeln gehen. Sire, Ihr seid die Sonne. Mein gnädigster Herr und König, ich gehöre nicht zu dieser Bande von Landstreichern und Dieben, ganz gewiß nicht. Dichter sind keine Gauner, und Apoll hat nichts mit den Dieben zu schaffen. Ich bin ein getreuer Unterthan unseres Herrn, des Königs. Ich bete Tag und Nacht zu Gott, daß er den Ruhm Eurer Krone erhöhen und das Volk mit Liebe für Euer Majestät erfüllen möge. Dies sind meine Gesinnungen, und haltet mich nicht für einen Aufrührer und Dieb, mein königlicher Herr, weil ich einen abgeschabten Rock trage. Wenn Ihr mir Gnade schenkt, so werde ich Tag und Nacht Gott für Euer Wohlergehen anflehen. Ich bin ein armer Teufel, aber dabei ein guter Tropf. Jedermann weiß, daß Gelehrte nicht reich werden, und daß die Gelehrtesten bisweilen im Winter kein Holz im Ofen haben. Es gibt vierzig vortreffliche Sprüchwörter über den durchlöcherten Mantel des Philosophen. Sire! Die Gnade ist das einzige Licht, welches das Innere einer großen Seele erleuchten kann. Gnade ist die Fackel aller andern Tugenden. Ohne sie sind wir nur Blinde, die nach dem Himmel tappen. Barmherzigkeit, welche gleich der Gnade ist, gewinnt die Herzen der Unterthanen und ist die sicherste Leibwache der Könige. Was liegt Eurer Majestät daran, die in den Wolken thront, ob ein armer Teufel mehr auf der Erde herumkriecht! Ich bin ein armer unschuldiger Philosoph, der sich mühsam durch die Welt schleppt, und dessen Bauch oft eben so leer ist, als sein Beutel. Ich bin ein Gelehrter, und die großen Könige sind die geborenen Beschützer der Wissenschaften. Es wäre aber eine schlechte Beschützung der Wissenschaften, wenn man die Gelehrten hängen ließe. Was hätte man von Alexander dem Großen gesagt, wenn er den Aristoteles hätte hängen lassen? Sire! Ich habe ein sehr schönes Schauspiel für die Prinzessin von Flandern und unsern gnädigsten Dauphin geschrieben, so schreibt keiner, der ein Aufrührer ist. Euer Majestät sieht, daß ich kein Schafskopf bin, sondern meine Studien gemacht habe, und viel natürliche Beredsamkeit besitze. Laßt mir Gnade widerfahren, Sire! Ihr werdet dadurch eine Gott und der heiligen Jungfrau wohlgefällige Handlung begehen, und ich schwöre Euch bei allen Heiligen, daß mir bei dem Gedanken, gehängt zu werden, gar nicht wohl zu Muthe ist.«

Indem unser trostloser Dichter diese bewegliche Standrede hielt, krümmte er sich zu den Füßen des Königs wie ein Wurm, und küßte seine Pantoffeln.

»Er thut wohl daran, sich auf der Erde zu krümmen. Die Könige sind wie der Jupiter auf Creta, sie haben ihre Ohren an den Füßen,« sagte Wilhelm Rym leise zu Jakob Coppenole.

Der Strumpfweber von Gent blickte auf Peter Gringoire und erwiederte mit einem schwerfälligen Lächeln: »Ich meine, ich höre den Kanzler Hugonet mich um sein Leben anflehen.«

Peter Gringoire erhob jetzt athemlos und zitternd sein Haupt zu dem König. Se. Majestät kratzte sich am linken Knie und nahm dann einen langsamen Schluck aus der silbernen Kanne.

Dieses unheilverkündende Schweigen spannte unsern Dichter auf die Folter. Endlich warf ihm der König einen Blick zu und sprach: »Das ist ein gewaltiger Schwätzer. Laß ihn laufen, Tristan!«

Peter Gringoire fiel vor freudiger Bestürzung hinten über und streckte seine langen Beine in die Höhe.

»Laufen lassen!« murrte Tristan. »Soll ich ihn nicht zum mindesten im Käfig behalten?«

»Gevatter, wo denkst Du hin?« erwiederte der König. »Meinst Du, daß Wir für solche Vögel Käfige bauen lassen, die Uns auf 367 Livres 8 Sous zu stehen kommen? Gib dem Hurensohn einen Tritt auf den Hintern und laß ihn laufen!«

»Uf!« schrie Peter Gringoire, »das nenne ich einen großen König!«

Aus Furcht vor einem Gegenbefehl stürzte unser Dichter alsbald der Thüre zu, die ihm Tristan mit sichtbarem Widerwillen öffnete. Soldaten von der Wache folgten ihm und stießen ihn mit den Fäusten vor sich her, was Peter Gringoire mit der Geduld eines stoischen Philosophen ertrug.

Seit man dem König die Nachricht von dem Aufstand gegen den Gerichtsherrn im Justizpalaste gebracht hatte, zeigte er seine gute Laune in allen Dingen. Diese ungewöhnliche Begnadigung war kein geringes Zeichen derselben. Tristan machte in seinem Winkel ein Gesicht wie ein Hund, dem man einen Knochen hinhält und wieder wegnimmt.

Ludwig XI. schlug mit den Fingern lustig einen Marsch auf der Lehne seines Stuhls. Dieser König wußte seine Sorgen viel besser zu verbergen, als seine Freude. Diese äußerlichen Kundgebungen innerer Freude bei guten Nachrichten gingen oft sehr weit. Als man ihm Karls des Kühnen Tod meldete, gelobte er dem heiligen Martin von Tours eine silberne Balustrade, und bei seiner Throngelangung vergaß er, das Leichenbegängniß seines verewigten Vaters anzuordnen.

»He! Sire!« sagte plötzlich Jakob Coictier, »wie steht es denn mit dem Stechen, wegen dessen mich Euer Majestät hat rufen lassen?«

»Oh!« erwiederte der König, »ich bin in der That sehr leidend, mein lieber Gevatter. Ich habe ein gewaltiges Stechen im Kopf und auf der Brust.«

Der Doktor ergriff die Hand des Königs und nahm eine tiefdenkende Miene an, während er ihm den Puls fühlte.

»Seht einmal, Coppenole,« sagte Wilhelm Rym leise, »da steht er zwischen Coictier und Tristan. Das ist sein ganzer Hof. Ein Arzt für ihn, ein Henker für die Andern.«

Der Doktor fühlte lange den Puls des Königs, und sein Gesicht wurde immer bedenklicher. Ludwig sah ihn mit einiger Aengstlichkeit an. Immer mehr Wolken zogen auf der Stirn des Doktors auf. Die schlechte Gesundheit des Königs war ein Feld, das der wackere Mann trefflich auszubeuten wußte.

»Oh! Oh!« murmelte er nach einer langen Pause, »das steht schlimm!«

»Nicht wahr?« sagte der König besorgt.

»Pulsus creber, anhelans, crepitans, irregularis,« fuhr der Arzt fort.

»Pasque-Dieu!«

»Ein Zustand, der seinen Mann wegnehmen kann, bevor drei Tage vergehen.«

»Gott und die liebe Frau sei Uns gnädig!« rief der König. »Und das Mittel dagegen, Gevatter?«

»Eben denke ich darüber nach.«

Der Arzt betrachtete die Zunge des Königs, schüttelte den Kopf und sagte: »Da fällt mir eben ein, Sire, daß eine Einnehmerstelle bei den königlichen Domänen vakant ist, und daß ich einen Neffen habe.«

»Ich gebe Deinem Neffen die Stelle, Gevatter Jakob, aber befreie meine Brust von diesem Feuer.«

»Da Ihr so gnädig seid, mein königlicher Herr,« fuhr der Arzt fort, »so werdet Ihr mir nicht abschlagen, mir in dem Bau meines neuen Hauses ein wenig unter die Arme zu greifen.«

»Hm!« sagte der König hustend.

»Mein Geld ist zu Ende,« fuhr der Doktor fort, »und es wäre wirklich Schade, wenn mein Haus nicht unter Dach käme. Es ist zwar nur ein einfaches bürgerliches Haus, aber es wäre doch Schade um die schönen Malereien von Johann Fourbault, die es zieren. Es ist da eine Diana, die in der Luft fliegt, so trefflich, mit so zartem Pinsel gemalt, von so weißem Fleisch, daß sie diejenigen in Versuchung führt, welche sie zu nahe betrachten. Er hat auch eine Ceres gemalt, die zwischen Fruchtgarben sitzt und einen Blumenkranz auf dem Haupt trägt. Sie ist göttlich schön und leistet Alles, was der Pinsel hervorzubringen vermag.«

»Schindersknecht,« murmelte der König, »wo willst Du hinaus?«

»Es fehlt mir an einem Dach über diese Gemälde, und obgleich die Sache nur von geringem Belange ist, so habe ich doch kein Geld mehr.«

»Wie viel brauchst Du zu Deinem Dache?«

»Hm! Ein kupfernes Dach mit Vergoldung . . . höchstens zweitausend Livres.«

»Ah! Der Meuchelmörder!« rief der König. »Er zieht mir keinen Zahn aus, der nicht für ihn ein Diamant wäre.«

»Bekomme ich mein Dach?« fragte der Arzt.

»Zum Teufel! ja! Aber mache mich gesund.«

Der Doktor verbeugte sich tief und sprach: »Sire, ein zurücktreibendes Mittel wird Euch retten. Ihr braucht dabei Euern Kräutertrank fort, und wir stehen für Euer Majestät Leben.«

Ein brennendes Licht zieht nicht bloß einen Nachtvogel herbei. Als Meister Olivier den König zu solcher Freigebigkeit aufgelegt sah, hielt er den Augenblick für günstig und näherte sich ihm. »Sire . . .«

»Was gibt es da wieder?« fragte der König.

»Sire, Euer Majestät weiß, daß Meister Simon Radin todt ist.«

»Nun?«

»Derselbe war königlicher Rath bei der Schatzkammer.«

»Nun?«

»Sire, der Platz ist erledigt.«

Indem Meister Olivier also sprach, vertauschte er den Hochmuth in seinem Gesichte mit der Hundedemuth. Das sind die zwei einzigen Gestalten, unter denen sich das Gesicht eines Höflings zeigt. Der König sah ihm starr ins Gesicht und sagte trocken: »Ich verstehe.«

Nach einer Pause fuhr der König fort: »Meister Olivier, der Marschall Boucicaut sagt: Bei Königen und im Meere ist gut Perlen fischen. Ich sehe, daß Du auch dieser Meinung bist. Jetzt aber höre, was ich Dir sagen will. Ich habe ein gutes Gedächtniß. Im Jahre 1468 habe ich Dich zu meinem Kammerdiener gemacht, im Jahre 1469 zum Castellan im Schlosse von Saint-Cloud, im November 1473 zum Aufseher im Gehölze von Vincennes, im Jahre 1475 zum Waldmeister in Rouvray, im Jahre 1479 zum Commandanten im Schlosse von Loches, dann zum Gouverneur von Saint-Quentin, dann zum Commandanten von Meulan, wovon Du den Grafentitel führst. Von den fünf Sous Strafe, die jeder Barbier Unseres Reiches bezahlt, der an einem Festtage rasirt, beziehst Du drei Sous, und ich, der König, nur zwei. Ich habe Deinen Namen Olivier der Teufel, der Deiner Miene ganz gut entspricht, in einen andern verwandelt. Ich habe, zum großen Mißvergnügen Unseres Adels, Dir ein buntes Wappen gegeben, mit dem Du stolzirst wie ein Pfau. Pasque-Dieu! Bist Du noch nicht übervoll? Hast Du noch nicht genug gefischt? Hüte Dich, daß Dein Schiff nicht umschlägt, wenn Du zu starke Ladung nimmst! Der Hochmuth hat schon mehr als Einem – Verderben gebracht. Bedenke das, Gevatter! Hochmuth kommt vor dem Falle, – ist ein altes Sprüchwort. Jetzt sei weise und schweig!«

Als der Barbier des Königs diese rauhen Worte vernahm, kehrte die Unverschämtheit auf sein Gesicht zurück. »Man sieht wohl,« murmelte er laut genug, »daß der König heute krank ist, der Arzt bekommt Alles.«

Statt sich über diese Unverschämtheit zu ärgern, fuhr Ludwig etwas weniger streng fort: »Fast hätte ich vergessen, daß ich Dich auch zu meinem Gesandten bei der Prinzessin Marie in Gent gemacht habe.«

»Ja, Ihr Herren,« fuhr er, zu den beiden Flamändern gewendet, fort: »dieser Mensch da ist ein Gesandter gewesen.«

»Nun, nun, Gevatter,« sagte er nach einer Pause zu Meister Olivier, »wir sind alte Freunde, und wollen uns nicht zanken. Es ist schon spät. Wir haben Unsere Arbeiten beendigt. Rasire mich.«

Der Leser hat ohne Zweifel bereits in Meister Olivier jenen furchtbaren Figaro erkannt, welchen die Vorsehung, diese große Tragödienschreiberin, der langen und blutigen Comödie Ludwigs XI. so kunstgerecht beigefügt hat. Dieser Barbier des Königs hatte drei Namen: Am Hofe nannte man ihn höflich: Olivier-le-Dain; unter dem Volke: Olivier-le-Diable. Sein wahrer Name war: Olivier-le-Mauvais.

Olivier blieb unbeweglich stehen, trutzte dem König und sah den Arzt mit scheelen Blicken an. »Ja, ja! Dieser Doktor da!« murmelte er zwischen den Zähnen.

»Freilich! Dieser Doktor,« entgegnete ihm der König mit gutmüthigem Spott, »dieser Doktor vermag freilich mehr, als der Barbier, und das ist ganz einfach, denn er hat Unsern ganzen Körper in der Hand, und Du nur das Kinn. Geh also, mein guter Gevatter Bartkratzer, hole Dein Handwerkszeug und rasire mich.«

Als Meister Olivier sah, daß sich der König nur über ihn lustig machte, und daß man ihn nicht einmal erzürnen konnte, verlieh er brummend das Zimmer, um seine Befehle zu vollziehen.

Der König erhob sich und trat an das Fenster. Plötzlich öffnete er es mit großer Bewegung, klopfte in die Hände und rief: »Oh! Da ist der Himmel in der Altstadt schon blutig roth! Der Gerichtsherr im Justizpalast brennt. Es kann nichts Anderes sein. Ah! Mein gutes Volk, hilfst Du mir endlich, diese Edelmanns-Herrschaften stürzen?«

»Ihr Herren,« sprach er jetzt, zu den Flamändern gewendet, »kommt her und seht! Ist das nicht ein Feuer, das lustig brennt?«

Die beiden Flamänder näherten sich.

»Ein großes Feuer!« sagte Wilhelm Rym.

»O!« fügte Jakob Coppenole mit leuchtenden Augen hinzu, »das erinnert mich daran, wie man das Haus des Herrn v. Hymbercourt verbrannte. Es muß dort ein gewaltiger Aufstand sein.«

»Glaubt Ihr, Meister Coppenole?« sagte der König, und sein Blick war fast so aufgeregt als der des Strumpfwebers. »Nicht wahr, es wird da schwer Widerstand zu leisten sein?«

»Beim heiligen Kreuz, Sire! Dazu wird es mehr als ein paar Compagnien guter Truppen brauchen.«

»Ah! Ich! Das ist ein Anderes,« erwiederte der König. »Wenn ich wollte . . .«

Der Strumpfweber versetzte keck: »Wenn dieser Aufstand das ist, wofür ich ihn halte, so würde Euer Wollen nicht viel helfen.«

»Gevatter!« sagte der König, »mit zwei Compagnien meiner Haustruppen und ein paar Feldschlangen hat man einen Haufen von Bürgern und Insassen bald ausgefegt.«

Der Strumpfweber schien trotz der Zeichen, die ihm Wilhelm Rym gab, entschlossen, dem König die Spitze zu bieten: »Sire, die Schweizer waren auch nur Bürger und Bauern. Der Herzog von Burgund war ein großer Fürst und verachtete dieses Bürgerpack. In der Schlacht von Granson schrie er: Artilleristen, gebt Feuer auf diese Hunde! Aber die Schweizer fielen mit ihren Schwertern und Morgensternen über ihn her, und die in Stahl gekleidete Armee der Burgunder zerstob vor den kräftigen Fäusten der Bauern, die ihr mit unbedeckter Brust entgegentraten. Da sind viele Ritter und Edelleute von gemeiner Hand erschlagen worden.«

»Freund,« entgegnete der König, »Ihr sprecht da von einer geordneten Feldschlacht. Hier aber handelt es sich um einen Aufstand, und wenn ich nur mit den Augen zucke, so muß er zu Ende sein.«

»Das ist möglich, Sire! Dann ist eben die Stunde des Volks noch nicht gekommen.«

Wilhelm Rym glaubte sich einmischen zu müssen: »Meister Coppenole, bedenkt, daß Ihr mit einem mächtigen König sprecht.«

»Das weiß ich,« antwortete ruhig der Strumpfweber.

»Laßt ihn doch reden, Herr Wilhelm Rym, mein Freund, ich liebe das freimüthige Wesen. Mein Vater, Carl VII., sagte, die Wahrheit sei krank; ich glaubte, sie sei todt und habe keinen Beichtvater gefunden. Meister Coppenole zeigt mir jetzt, daß ich mich irrte.«

Mit diesen Worten legte er vertraulich die Hand auf des Strumpfwebers Schulter: »Fahrt fort, Meister Jakob, was wolltet Ihr weiter sagen?«

»Ich sagte, Sire, Ihr mögt vielleicht Recht haben, daß bei Euch die Stunde des Volks noch nicht gekommen ist.«

Ludwig XI. sah ihn mit seinem durchdringenden Blicke an: »Und wann wird diese Stunde kommen?«

»Wenn man sie schlagen hört.«

»Auf welcher Uhr, wenn es Euch gefällig ist?«

Jakob Coppenole, mit seiner bürgerlichen Ruhe und Festigkeit, trat zum König an's Fenster und sagte: »Hört einmal, Sire! Es sind hier feste Mauern, ein Glockenthurm, Kanonen, Bürger, Soldaten. Wenn die Glocken stürmen, die Kanonen donnern, Bürger und Soldaten unter Wuthgeschrei sich niedermachen, wenn die Mauern stürzen werden, dann schlägt die Stunde.«

Das Gesicht des Königs wurde düster und träumend. Er schwieg einen Augenblick, dann klopfte er mit dem Finger an die dicke Mauer des Thurmes und sagte: »Oh, nein! Nicht wahr, du fällst nicht so leicht ein, meine gute Bastille?«

Hierauf wendete er sich gegen den kecken Flamänder: »Habt Ihr schon einen Aufstand gesehen, Meister Jakob?«

»Nicht nur gesehen, sondern selbst gemacht,« erwiederte der Strumpfweber.

»Wie greift Ihr es an, um einen Aufstand zu machen?« fragte der König.

»Hm!« antwortete der Strumpfweber, »das ist ziemlich leicht, und man kann es auf hunderterlei Art anfangen. Vor allen Dingen ist erforderlich, daß das Volk mißvergnügt sei. Das ist nichts Seltenes. Dann muß man auf den Charakter der Einwohner Rücksicht nehmen. Die Einwohner von Gent sind leicht zum Aufstand zu bringen. Sie lieben immer den Nachfolger des Fürsten, den Fürsten nie. Je nun, ich will annehmen, es kommen eines Morgens Leute in meine Werkstätte und sagen: Vater Coppenole, da und dort fehlt es, es wird schlecht regiert, die Minister thun was sie wollen, und von oben herab läßt man sie machen. Es muß anders werden, und so und so könnte man helfen. – Da lasse ich nun meine Arbeit liegen, gehe aus meinem Laden auf die Straße und rufe: Bürger heraus! Dann steige ich auf einen Tisch, auf einen Stuhl oder auf ein Faß, rede von der Leber weg und sage, was mir und den Anderen auf dem Herzen liegt. Das geht dann auch zu Herzen, und das Volk glaubt Einem der auch zum Volke gehört. Jetzt laufen immer mehr Leute zusammen, man schreit, läutet die Sturmglocke, die Marktleute schließen sich an den Haufen an, man stürzt auf die Soldaten und reißt ihnen die Waffen aus den Händen, dann ist es geschehen. Und so wird es immer sein, so lange es Edelleute in ihren Herrschaften, Bürger in den Städten und Bauern auf dem Lande gibt.«

»Und gegen wen empört Ihr Euch auf solche Art? Gegen Eure Edelleute und Gerichtsherren?«

»Bisweilen, wie es gerade kommt; manchmal auch gegen den Herzog selbst.«

Der König setzte sich und sagte lächelnd: »Ah! hier zu Lande sind sie erst an den Edelleuten!«

In diesem Augenblicke trat Meister Olivier in das Zimmer. Zwei Pagen mit der Toilette des Königs folgten ihm. Was aber den König in Verwunderung setzte, war, daß auch der Prevot von Paris und der Anführer der nächtlichen Runden eintraten, und daß diese Beiden sehr bestürzt schienen. Der giftige Barbier gab sich auch das Ansehen, als ob er bestürzt sei, aber er konnte seine innere Freude nicht ganz verbergen.

Meister Olivier nahm zuerst das Wort und sagte in heuchlerischem Tone: »Sire, ich bitte Euer Majestät um Verzeihung, daß ich der Ueberbringer einer so schlimmen Nachricht sein muß.«

Der König wendete sich schnell gegen ihn:

»Was will das heißen?«

»Sire,« fuhr Meister Olivier mit dem bösartigen Gesicht eines Menschen fort, der sich freut, eine üble Nachricht bringen zu können, »Sire, dieser Aufstand ist nicht gegen den Gerichtsherrn des Justizpalastes gerichtet.«

»Und gegen wen sonst?«

»Gegen Euch, Sire!«

Der alte König fuhr in die Höhe und stand gerade und aufrecht wie ein Jüngling: »Erkläre Dich, Olivier! Erkläre Dich näher! Und nimm Deinen Kopf wohl in Acht, Gevatter, denn ich schwöre Dir bei dem heiligen Kreuze von Saint-Lo, wenn Du zu dieser Stunde gelogen hast, so ist das Schwert, unter dem das Haupt des Herzogs von Luxemburg gefallen, noch scharf genug, Dir Deinen Kopf abzuschlagen!«

Das war ein furchtbarer Schwur, denn Ludwig XI. hatte nur zweimal in seinem Leben beim heiligen Kreuze von Saint-Lo geschworen. Meister Olivier öffnete den Mund, um zu antworten: »Sire . . .«

»Auf die Kniee nieder!« unterbrach ihn der König heftig, »Tristan! Habe ein Auge auf diesen Menschen.«

Der Barbier kniete nieder und sagte kalt: »Sire, eine Hexe ist durch Parlaments-Beschluß zum Tode verurtheilt worden. Sie hat sich in die Liebfrauenkirche geflüchtet. Das Volk will sie von dort mit Gewalt entführen! Hier stehen der Prevot und der Offizier der Nachtwache, die von dem Orte des Aufstandes kommen, und sie sollen mich Lügen strafen, wenn ich nicht die Wahrheit geredet habe. Die Liebfrauenkirche ist es, was das Volk belagert.«

»Ei da!« sagte der König, blaß und zitternd vor Zorn, mit gedämpfter Stimme. »Unsere liebe Frau! Sie belagern unsere liebe Frau, meine Fürbitterin bei Gott, in ihrer eigenen Kirche! Steh auf, Olivier! Du hast Recht. Du sollst die Stelle von Simon Radin haben. Du hast ganz Recht. Der Aufstand ist gegen mich gerichtet. Die Hexe ist unter dem Schutze der Kirche, die Kirche unter meinem Schutz. Der Aufstand ist nicht gegen den Amtmann des Justizpalastes gerichtet.«

Durch den Zorn verjüngt, ging er jetzt mit großen Schritten hastig auf und ab. Er lachte nicht mehr, er war furchtbar, ging und kam, der Fuchs hatte sich in einen Tiger verwandelt. Seine Lippen bewegten sich, aber die Stimme versagte ihm; er ballte die Fäuste. Plötzlich erhob er das Haupt, ein feuriger Blitz entströmte seinen hohlen Augen und er schrie mit donnernder Stimme: »Nieder mit ihnen, Tristan! Nieder mit diesen Schurken! Fort, Tristan! Spute Dich, haue Alles zusammen!«

Nachdem dieser erste Sturm vorüber war, setzte sich der König und sagte mit verbissener Wuth: »Hieher, Tristan! Tritt zu mir! Es sind hier in dieser Bastille um Unsere Person die fünfzig Lanzen des Vicomte von Gif; das macht im Ganzen dreihundert Pferde. Nimm sie! Es ist ferner hier die Compagnie der Bogenschützen des Herrn von Chateaupers. Nimm sie! Du bist Prevot der Marechaussée, nimm Deine Leute! Im Palast Saint-Pol wirst Du fünfzig Bogenschützen von der neuen Garde des Dauphin finden. Nimm sie! Wenn Du Alles beisammen hast, so stürze Dich auf den Volkshaufen, der die Liebfrauenkirche belagert. Ah! Ihr Herren Einwohner von Paris, ihr wagt es, gegen die Krone von Frankreich, gegen die Heiligkeit unserer lieben Frau und gegen den Frieden dieses Reichs aufzustehen! Nieder mit ihnen, Tristan! Nieder mit ihnen! Und daß Keiner von ihnen entkomme, hörst Du!«

Tristan verbeugte sich: »Ganz wohl, Sire!«

»Und was soll ich mit der Hexe machen?« fragte er nach einer Pause.

Diese Frage brachte den König zum Nachdenken: »Ah!« sagte er, »die Hexe!«

»Herr Prevot,« fragte er nach einer Pause, »was wollte denn das Volk mit ihr machen?«

»Sire,« antwortete der Prevot von Paris, »weil das Volk sie aus ihrem Asyl in der Liebfrauenkirche reißen will, so denke ich mir, daß es sich durch ihre Straflosigkeit verletzt fühlt, und sie aus eigener Gewalt aufknüpfen will.«

Der König dachte einen Augenblick nach, dann sprach er zu Tristan: »Je nun, Gevatter, haue das Volk zusammen und knüpfe die Hexe auf!«

»So ist es recht,« sagte Wilhelm Rym leise zu Jakob Coppenole, »das Volk strafen, weil es will, und dann thun, was es will!«

»Ganz wohl, Sire!« antwortete Tristan. »Wenn aber die Hexe noch in der Liebfrauenkirche ist, soll ich sie dann trotz des Asyls herausnehmen?«

»Pasque-Dieu! Das Asyl!« sagte der König und kratzte sich hinter den Ohren. »Und gleichwohl muß diese Hexe gehängt werden!«

Jetzt kniete er, wie von einem plötzlichen Gedanken ergriffen, vor seinem Sessel nieder, nahm den Hut ab und blickte inbrünstig auf eines der darauf befindlichen kleinen Heiligenbilder: »Oh!« sagte er mit gefalteten Händen, »unsere liebe Frau von Paris, meine gnadenreiche Beschützerin, verzeihe mir! Ich will es ja nur diesmal thun. Diese Verbrecherin muß ja bestraft werden. Ich betheure dir, heilige Mutter Gottes, daß sie eine Hexe und deines himmlischen Schutzes unwürdig ist. Du weißt ja selbst, heilige Jungfrau, daß viele sehr fromme Fürsten die Vorrechte der Kirche überschritten haben, so oft es zur Ehre Gottes und zum Wohle des Staats erforderlich war. Du wirst mir also für diesmal verzeihen, gebenedeite Jungfrau! Ich will es gewiß nicht wieder thun, und will in deine Kirche einen silbernen Heiland am Kreuz stiften. Amen! Also geschehe es!«

Der König machte ein Zeichen des Kreuzes, stand auf und bedeckte sich wieder. Hierauf sprach er zu Tristan: »Spute Dich, Gevatter! Nimm den Herrn von Chateaupers mit Dir. Laßt Sturm läuten, haut das Volk zusammen, hängt die Hexe. Jetzt hast Du Deinen Bescheid. Eile Dich und berichte mir, wenn meine Befehle vollzogen sind. Olivier, ich gehe diese Nacht nicht in's Bett, Du kannst mich jetzt rasiren.«

Tristan verbeugte sich und verließ das Zimmer. Der König gab den beiden Flamändern ein Zeichen des Abschieds und sagte: »Gott nehme Euch in seine heilige Obhut, ihr Herren und Freunde aus Flandern! Ihr werdet wohl der Ruhe bedürfen. Wir sind schon weit in der Nacht, und näher am Morgen als am Abend.«

Die Beiden entfernten sich, und als sie, von dem Befehlshaber der Bastille begleitet, in ihre Zimmer gingen, sagte Jakob Coppenole zu Wilhelm Rym: »Hm! Ich habe genug bekommen an diesem hustenden König! Ich habe Karl von Burgund betrunken gesehen, aber er war in seinem Rausche weniger bösartig, als dieser Ludwig in seiner Krankheit.«

»Meister Jakob,« erwiederte Wilhelm Rym, »das kommt daher, weil die Könige beim Weine weniger grausam sind als bei der Kräuterbrühe.«


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