Victor Hugo
Notre Dame, Teil 2
Victor Hugo

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XIV.

Es lebe die Freude.

Am Abend des folgenden Tages, zur Zeit da die Nachtglocke läutete, war großer Aufruhr im Königreich Kauderwelsch. Die Kneipe, worin sich die Unterthanen des Königs Clopin Trouillefou zu versammeln pflegten, war voller als gewöhnlich; man trank mehr als sonst und fluchte noch ärger. Außen auf dem Platze waren zahlreiche Gruppen versammelt, in welchen leise geflüstert wurde, wie man zu thun pflegt, wenn sich ein großes Unternehmen in der Stille vorbereitet. Da und dort wurden verrostete Degenklingen an den Steinen gewetzt. In der Schenke floß der Wein in Strömen, und die Unterhaltung war äußerst lebhaft. Die Gäste waren mit Waffen aller Art versehen, wie Jeder sie gerade zur Hand bekommen konnte. Der große runde Saal war gedrängt voll. Man erblickte in demselben bei näherer Betrachtung drei Hauptgruppen, welche sich um drei Personen drängten, die der Leser bereits kennt. Die erste dieser Personen, in seltsam orientalischem Geschmacke gekleidet, war Matthias Hungadi Spiccali, Herzog von Aegyptenland. Der Gaunerfürst saß mit gekreuzten Beinen auf einem Tische, hielt den Zeigefinger aufgehoben, und unterrichtete mit lauter Stimme in der weißen und schwarzen Zauberkunst.

Eine andere Gruppe drängte sich um unsern alten Freund, den tapfern König von Kauderwelsch, der bis an die Zähne bewaffnet war. Clopin Trouillefou hatte eine Kiste vor sich stehen, die mit Waffen aller Art gefüllt war, er theilte aus derselben Degen, Aexte, Lanzen, Sicheln, Dolche etc. aus; Alles griff zu, selbst die Kinder und Krüppelhaften.

Die dritte Gruppe endlich, die geräuschvollste, munterste und zahlreichste von allen, war um einen vollständig gerüsteten Menschen versammelt, der von einem Tische herab eine Standrede hielt. Dieses Individuum war so mit Waffen überladen, daß sein Körper ganz unter seiner Rüstung verschwand, und daß man von ihm nur eine rothe Nase, einen Busch blonder Haare, einen rosenrothen Mund und kecke Augen sah. Sein Gürtel steckte voll von Dolchen, er führte einen großen Haudegen an der Seite und trug in der linken Hand eine verrostete Armbrust. Vor ihm stand ein ungeheurer Weinkrug, und zu seiner rechten Seite saß ein dickes Freudenmädchen. Alles um ihn her lachte, trank und fluchte.

Neben diesen Hauptgruppen erblickte man noch mehrere kleine und viele einzelne Personen. Im Hintergrunde des Saales, die Füße in der Asche des Kamins, saß ein Philosoph, in Nachdenken versunken.

»Schnell, macht Euch fertig! Bewaffnet Euch! In einer Stunde marschiren wir!« sprach König Clopin Trouillefou zu seinen Unterthanen.

»Meine Söhne und Töchter,« sagte der Herzog von Aegypten zu seinen Zuhörern, »die Hexen von Frankreich besuchen den Sabbath, ohne den Besen zu schmieren, bloß mittelst einiger magischen Worte. Die Hexen von Italien reiten immer auf einem Bocke dahin. Beide aber müssen durch das Kamin ausfahren.«

Die kreischende Stimme des Geharnischten auf dem Tische übertönte den allgemeinen Lärm: »Hurrah! Hurrah!« schrie er. »Heute ist meine Waffenprobe! Gauner! Gauner bin ich, bei den Kaldaunen des heiligen Christ, gebt mir zu trinken! Meine lieben Freunde und Brüder, ich heiße Johannes Frollo der Mühlenhans, und bin ein Edelmann. Ich glaube und bin der Meinung, wenn Gott ein Gendarme wäre, würde er plündern wie ein Soldat. Meine Brüder, wir ziehen heute zu einem glänzenden Unternehmen aus. Wir sind die Tapfern der Tapfern. Die Liebfrauenkirche belagern, die Thüren einbrechen, die schöne Tochter Aegyptenlands aus der Hand der Richter und der Priester reißen, das Kloster plündern, den Bischof verbrennen, das wird Alles schneller geschehen sein, als ein Bürgermeister einen Löffel voll Suppe zum Munde bringt. Unsere Sache ist gerecht und wir plündern das Kloster zu unserer lieben Frau. Wir knüpfen Quasimodo den Glöckner auf. Kennt ihr Quasimodo, meine Damen? Habt Ihr ihn an einem Pfingsttage auf der großen Glocke der Liebfrauenkirche reiten sehen? Das ist sehr schön! Meine lieben Freunde und Brüder, hört mich an, ich bin ein Gauner von Grund aus, ein Unterthan des Königreichs Kauderwelsch von ganzer Seele. Ich bin aus einer filzigen Familie, ich war sehr reich, und habe all' mein Geld und Gut vergeudet. Mein Vater wollte mich zum Offizier, meine Mutter zum Unterdiakonus, meine Tante zum Rath, und meine Großmutter zum Schatzmeister des Königs machen, ich aber, ich habe mich zum Gauner gemacht. Vater und Mutter haben mir ihren Fluch gegeben, aber es lebe die Freude! Meine gute Frau Wirthin, einen frischen Krug Wein!«

Die Zuhörer klatschten ihm stürmischen Beifall; als er sah, daß die Munterkeit und das Gelächter um ihn her zunahm, schrie er wie besessen: »Welcher himmlische, ohrenergötzende Lärm! Populi debachantis populosa debachatio!«

Hierauf fing er an im Tone eines Kanonicus zu singen, der die Vesper anstimmt: »Quae cantica! quae organa! quae cantilenae! quae melodiae hic sine fine decantantur! Sonant melliflua hymnorum organa, suavissima angelorum melodia, cantica canticorum mira! . . .« Er hielt inne und rief: »Wirthin, Du alte Vettel, gib mir zu essen!«

Es trat eine Art Stille ein, während welcher man die heisere Stimme des Herzogs von Aegypten vernahm, der seinen Zuhörern nekromantische Vorlesungen hielt: »Das Wiesel heißt Lochschlupfer; der Fuchs Waldläufer; der Bär Altvater . . . Die Mütze eines Gnomen macht unsichtbar, und man sieht alle unsichtbaren Dinge . . . Jede Kröte, die man tauft, muß in rothen oder schwarzen Sammt gekleidet sein, eine Glocke am Hals und eine Glocke an den Füßen haben. Der Pathe hebt sie am Kopf, die Pathin am Hintertheil . . . Der Geist Sidragasum hat die Macht, die Mädchen ganz nackt tanzen zu lassen.«

»Bei der heiligen Messe!« unterbrach ihn der Mühlenhans, »ich möchte der Geist Sidragasum sein.«

Inzwischen theilte am anderen Ende des Saals der König Clopin Trouillefou immer noch Waffen an seine Unterthanen aus.

Mittlerweile hatte man dem Mühlenhans sein Essen gebracht. Er aß und plauderte bunt durcheinander: »Beim heil. Lukas, ich bin ein glücklicher Mensch. Ich habe da einen Dummkopf vor mir, der mich so stierartig betrachtet, wie ein Erzherzog; und der links drüben hat so lange Zähne, daß man sein Kinn nicht sieht . . . Mahomet und Christus! Guter Freund! Du siehst aus wie ein Lumpenkrämer, und wagst Dich neben mich zu setzen! Ich bin von Adel, mußt Du wissen, und der Adel verträgt sich nicht mit dem Handel. Packe Dich also zum Teufel! . . . Was prügelt Ihr denn dort einander? Du, Vogelpeter, Du hast eine so schöne Nase und willst sie an die plumpen Fäuste dieses Lümmels wagen! Non cuiquam datum est habere nasum. Du, Zwiebelliese, Du wärest göttlich schön, wenn Du Haare auf dem Kopfe hättest! . . . Holla! Heda! Ich heiße Johannes Frollo, auf daß Ihr's wißt, und mein Bruder ist Archidiakonus. Der Teufel kann ihn holen! Alles, was ich Euch da sage, ist die reine Wahrheit. Als ich ein Gauner wurde, habe ich mit Freuden auf die Hälfte eines Hauses verzichtet, das im Paradiese liegt und das mir mein Bruder versprochen hatte. Dimidiam domum in paradiso. Ich führe den Text selbst an. Ich habe ein Lehen in der Straße Tirechappe, und alle Mägde in der Nachbarschaft sind verliebt in mich.«

Inzwischen hatte Clopin Trouillefou alle Waffen ausgetheilt. Er trat zu Peter Gringoire, der noch immer in tiefen Gedanken da saß.

»Zum Teufel, an was denkst Du, Freund Peter?« fragte der König der Beutelschneider.

Der Philosoph wendete sich zu ihm mit einem melancholischen Lächeln: »Sire! Ich liebe das Feuer. Nicht aus dem gemeinen Grunde, weil das Feuer unsere Füße wärmt und unser Fleisch kocht, sondern weil es Funken hat. Bisweilen sehe ich stundenlang zu, wie die Funken fliegen. Alle diese Funken sind Welten.«

»Hol mich der Teufel, wenn ich Dich verstehe! Sage mir lieber, wie viel Uhr es ist.«

»Ich weiß es nicht,« antwortete der Dichter.

Clopin Trouillefou wendete sich zu dem Herzog von Aegypten: »Bruder Matthias, wir haben die Zeit schlecht gewählt. Es heißt, König Ludwig XI. sei zu Paris.«

»So haben wir einen Grund weiter, ihm unsere Schwester aus den Zähnen zu reißen,« antwortete der alte Zigeuner.

»Du sprichst wie ein Mann, Bruder Matthias. Im Uebrigen werden wir keine Zeit verlieren. In der Kirche haben wir keinen Widerstand zu fürchten, die Mönche sind Hasenfüße. Die Parlamentsboten werden sich morgen wundern, wenn der Vogel ausgeflogen ist. Man soll dieses gute Kind nicht hängen, so wahr ich Clopin Trouillefou heiße und König von Kauderwelsch bin.«

Während der König den Saal verließ, um außen auf dem Platze seine Armee zu mustern, schrie der Mühlenhans: »Ich esse, ich trinke, ich bin betrunken, ich bin ein Gott!«

Peter Gringoire, durch den Lärm aus seinen Betrachtungen geweckt, murmelte zwischen den Zähnen: Luxuriosa res vinum et tumultuosa ebrietas. Ich habe eher Recht und handle eines Weisen würdig, daß ich nicht trinke.

Bald darauf trat Clopin Trouillefou wieder in den Saal und schrie mit einer Donnerstimme: »Zwölf Uhr!«

Auf dieses Wort stürzten Alle, Männer, Weiber und Kinder, mit großem Waffengeräusch aus dem Hause. Der Mond war mit Wolken bedeckt und der Hof der Wunder ganz finster. Alle Lichter waren ausgelöscht. Man konnte in der Dunkelheit nur eine große Menschenmasse unterscheiden; man hörte ein dumpfes Gemurmel und sah in der Finsterniß Waffen aller Art leuchten.

Der König Clopin Trouillefou stieg auf einen großen Stein und schrie: »Zu Euren Fahnen, Kauderwelsch! Zu Euren Fahnen, Aegyptenland! Zu Euren Fahnen, Galiläa!«

Auf dieses Commando setzte sich die Masse in Bewegung und bildete Colonnen.

Nach einigen Minuten schrie der König von Kauderwelsch abermals mit lauter Stimme: »Jetzt in aller Stille durch Paris marschirt! Das Losungswort ist: Blendlaterne! Erst bei der Liebfrauenkirche werden die Fackeln angezündet! Vorwärts, Marsch!«

Zehn Minuten darauf flohen die Reiter der Nachtwache bestürzt vor einer langen Colonne Bewaffneter, die in tiefer Stille und nächtlicher Dunkelheit durch die engen Straßen des Quartiers der Halle zogen.


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