Victor Hugo
Notre Dame, Teil 2
Victor Hugo

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I.

Die beiden Schwarzröcke.

Der Mann, welcher eintrat, trug einen schwarzen Rock und war von finsterem Ansehen. Unser Freund Johannes, der, wie man sich denken kann, sich in seinem Winkel so eingerichtet hatte, daß er Alles hören und sehen konnte, wunderte sich ausnehmend über den Grundton von Traurigkeit, der in der ganzen Kleidung und dem Gesichte des Ankömmlings lag. Es war gleichwohl auf demselben Gesichte eine gewisse Milde verbreitet; aber nur die Sanftheit einer Katze oder eines Richters, eine süßliche Süßigkeit. Der Mann war ganz grau, runzlig, nahe an sechzig Jahre alt, weiße Augbraunen, schielend, herabhängende Unterlippe und plumpe Hände. Als der Mühlenhans sah, daß es nichts weiter war als das, nämlich ein Arzt oder eine Gerichtsperson, und daß des Mannes Nase sehr weit vom Munde abstand, was ein Zeichen von Dummheit ist, drückte er sich in seine Ecke und machte sich gefaßt, eine unbestimmte Zeit in übler Stellung und schlechter Gesellschaft zuzubringen.

Der Archidiakonus hatte beim Erscheinen dieser Person sich nicht einmal von seinem Sitze erhoben. Er gab ihm bloß ein Zeichen, sich auf einem Schemel niederzulassen, der nahe an der Thüre stand, und nach einigen Augenblicken, in welchen er einen früher gefaßten Gedanken zu verfolgen schien, sagte er mit einer Protektorsmiene zu ihm: »Guten Morgen, Meister Jakob!«

»Ich grüße Euch, Meister,« antwortete der Schwarzrock.

Es lag in den beiden Arten, womit einerseits dieses Meister Jakob, andererseits dieses einfache Meister ausgesprochen wurde, der Unterschied zwischen gnädigster Herr und Herr. Es war augenscheinlich eine Begrüßung zwischen dem Lehrer und dem Schüler.

»Nun,« fuhr nach einem neuen Stillschweigen der Archidiakonus fort, »kommt Ihr zu Stande?«

»He, mein Meister!« erwiederte der Andere mit einem traurigen Lächeln, »ich schüre immer das Feuer. Asche genug, aber nicht ein Stäubchen Gold.«

»Ich rede jetzt nicht davon, Meister Jakob Charmolue,« sagte der Archidiakonus mit einer Geberde der Ungeduld, »sondern von dem Prozeß Eures Hexenmeisters. Heißt er nicht Marc Cenaine? Ist es nicht der Schaffner des Rechenhofes? Gesteht er seine Zauberei? Hat die peinliche Frage Wirkung gethan?«

»Leider nein!« antwortete Meister Jakob mit dem nämlichen traurigen Lächeln, »wir haben diese Consolation noch nicht erlangen können. Dieser Mensch ist ein Kieselstein, wir könnten ihn in Oel sieden, ohne daß er etwas gestände. Gleichwohl sparen wir nichts, um die Wahrheit zu erfahren. Alle seine Glieder sind auseinander gerissen, wir haben bereits alle Grade der Folter angewendet. Alles vergebens. Das ist ein schrecklicher Mensch.«

»Habt Ihr nichts Neues in seinem Hause gefunden?«

»O ja,« antwortete Meister Jakob und griff in seine Tasche, »dieses Pergament. Es stehen Worte darauf, die wir nicht verstehen, obgleich der Advokat des Criminalgerichts ein wenig Hebräisch weiß, das er im Prozeß der Juden der Straße Kantersten zu Brüssel gelernt hat.«

Bei diesen Worten rollte Meister Jakob ein Pergament auf. »Gebt her!« sagte der Archidiakonus. »Reine Magie! Meister Jakob! Emen-Hetan! das ist der Ruf der Vampyrn, wenn sie zum Sabbath kommen. Per ipsum, et cum ipso, et in ipso! das ist das Machtwort, das den Teufel in der Hölle fesselt: Hax, Pax, Max, das ist medicinisch, eine Formel gegen den Biß wüthender Hunde. Meister Jakob! Ihr seid Prokurator des Königs in Sachen der Kirche, Das ist ein abscheuliches Pergament.«

»Wir werden den Mann abermals auf die Folter bringen. Hier ist etwas, was wir noch weiter gefunden haben.«

Es war ein Brennkolben der nämlichen Art, wie diejenigen, die auf dem Ofen des Archidiakonus standen.

»Aha!« sagte er, »ein alchymistischer Destillirkolben.«

»Ich muß gestehen,« fuhr Meister Jakob mit seinem furchtsamen und linkischen Lächeln fort, »daß ich in meinem Ofen einen Versuch damit gemacht habe, der aber nicht besser gelungen ist, als mit dem meinigen.«

Der Archidiakonus untersuchte das Gefäß. »Was hat er da eingegraben? Och! Och! das Wort, womit man die Flöhe vertreibt! Dieser Marc Cenaine ist ein Ignorant! Ich glaube wohl, daß Ihr damit kein Gold zu Stande bringt!«

»Weil wir im Kapitel der Irrthümer sind,« fagte Meister Jakob; »ich habe so eben, ehe ich heraufstieg, das untere Portal studirt. Seid Ihr gewiß, hochwürdiger Meister, daß der Eingang des Werkes über Physik darin abgebildet ist, und daß unter den sieben nackten Figuren, die an den Füßen unserer lieben Frau stehen, diejenige, welche Flügel an den Sohlen hat, Merkurius ist?«

»Ja,« erwiederte der Priester, »Augustin Nipho schreibt es, jener italienische Doktor, der einen bärtigen dienstbaren Geist hatte, von dem er Alles erfuhr. Im Uebrigen will ich Euch das aus dem Texte erklären, wenn wir hinunter gehen.«

»Ich danke Euch, mein Meister,« sagte Jakob Charmolue und bückte sich bis zur Erde nieder. »Fast hätte ich vergessen,« fügte er hinzu, »wann soll ich denn die kleine Zauberin fassen lassen?«

»Welche Zauberin?«

»Die Zigeunerin, die Ihr wohl kennt, und die alle Tage, trotz des Verbots des Officials, ihre Künste in den Straßen von Paris treibt. Sie hat eine vom Teufel besessene Ziege, die liest, schreibt und Mathematik versteht, und die allein genügte, um die ganze Zigeunerwelt hängen zu lassen. Es ist Alles vorbereitet zum Prozesse. Ein niedliches Geschöpf, diese Tänzerin, bei meiner armen Seele! Die schönsten schwarzen Augen, die man sich denken kann! Wann sollen wir mit dem Prozeß anfangen?«

Der Priester war ganz blaß geworden.

»Ich werde Euch das sagen,« stotterte er in kaum vernehmbarem Tone. Dann nahm er sich zusammen und sagte: »Für jetzt befördert den Prozeß von Marc Cenaine.«

»Seid ruhig deßhalb,« sagte Meister Jakob lächelnd, »ich werde ihn, sobald ich zurückkomme, auf das lederne Brett bringen lassen. Er ist aber ein Teufelskerl, der selbst Pierrat Torterue müde macht. Die peinliche Frage im Haspel! Das ist das Beste, was wir haben. Er soll sie erstehen.«

Der Archidiakonus war in tiefe Gedanken versunken. Er kehrte sich gegen Jakob Charmolue; »Meister Pierrat . . . Meister Jakob, wollte ich sagen, für jetzt den Prozeß von Marc Cenaine!«

»Wohl, mein Meister! Er wird etwas durchzumachen haben! Warum geht er auch auf den Sabbath? Ein Schaffner des Rechenhofes, der den Text Karls des Großen kennen sollte: Striga vel masca! Was die Kleine betrifft, Smeralda, wie man sie heißt, so werde ich darüber Eure Befehle erwarten. Wenn wir durch das Portal gehen, könnt Ihr mir auch erklären, wer der Gärtner ist, der sich am Eingang der Kirche befindet. Es wird wohl der Sämann im Evangelium sein. An was denkt Ihr denn, Meister?«

Der Priester, in sich selbst vertieft, hörte nicht auf ihn. Meister Jakob folgte der Richtung seines Blickes und sah, daß er ihn auf ein großes Spinnengewebe heftete, das in der obern Ecke der Fensteröffnung war. In diesem Augenblicke fing sich eine Mücke, welche der von außen hereinleuchtenden Sonne zuflog, in dem Gewebe. Sowie das Gewebe sich bewegte, fuhr die ungeheure Spinne aus ihrem Gehäuse heraus und faßte die Fliege mit ihren Zangen.

»Arme Mücke!« sagte Meister Jakob und streckte den Arm aus, sie zu retten.

Jetzt plötzlich erwachte der Archidiakonus aus seinen Träumen und faßte convulsivisch seinen Arm.

»Weg, Meister Jakob!« rief er aus, »laßt sie machen, das ist das Verhängniß.«

Meister Jakob wendete sich erschrocken um, denn er glaubte nicht anders, als daß eine eiserne Zange seinen Arm gefaßt habe. Das Auge des Priesters war verstört, flammend, fest auf die kleine furchtbare Gruppe der Fliege und der Spinne gerichtet.

»O,« sagte er mit einer Stimme, die aus der innersten Tiefe seiner Seele zu kommen schien, »hier ist das Symbol von Allem. Sie fliegt dahin in Lust und Freude, sie sucht den Frühling, die frische Luft, die Freiheit! da fällt sie in das ausgebreitete Netz, die scheußliche Spinne stürzt hervor. Arme Tänzerin! Arme Fliege! Das Schicksal geht seinen unerbittlichen Gang fort. Laßt sie machen, Meister Jakob! Es ist das Verhängniß! Claudius, du bist die Spinne, du bist auch die Fliege! Du flogst der Wissenschaft, dem Licht, der Sonne zu, du suchtest die ewige Wahrheit, aber als du dich auf die strahlende Oeffnung stürztest, auf das Fenster der andern Welt, wo Klarheit und Anschauen ist, erblicktest du, eine blinde Mücke, nicht jenes feine Spinnengewebe, welches das Schicksal zwischen dich und das Licht gehängt hat; Thor, der du bist, du flogst mit allen Flügeln dahin, und jetzt hängst du in den eisernen Netzen des Verhängnisses! Meister Jakob, Meister Jakob, laßt die Spinne machen!«

»Ich versichere Euch,« sagte Jakob Charmolue, der von allem Dem nichts verstand, »daß ich sie nicht berühren will; aber Iaßt doch um Gotteswillen meinen Arm los, Meister, Ihr habt eine eiserne Faust!«

Der Priester achtete nicht auf ihn, heftete fest den Blick auf das Fenster und fuhr in seinen Betrachtungen fort: »Wahnsinniger, der du bist! Hättest du auch mit deinen ärmlichen Mückenflügeln das furchtbare Gewebe durchbrochen, doch würdest du das Licht nicht erreicht haben! Zwischen dir und dem Lichte lag, weiter entfernt, jenes Fenster, jenes durchsichtige Hinderniß, jene Mauer von Krystall, härter als Erz, welche alle Philosophien von der Wahrheit trennt! O Eitelkeit der Wissenschaft! Von weiter Ferne kommen die Weisen gezogen, sich die Stirne an diesem Fenster zu zerbrechen! Ein System nach dem andern zerschellt an diesem durchsichtigen Schleier, der die ewige Wahrheit ewig bedeckt!«

Der Priester schwieg. Diese letzteren Gedanken, die ihn allmählig von sich selbst zur Wissenschaft zurückgeführt, schienen ihn beruhigt zu haben. Meister Jakob brachte ihn durch folgende Frage ganz zum Gefühl der Wirklichkeit zurück: »Nun, Meister, wann werdet Ihr mir einmal helfen Gold machen? Es währt mir fast zu lange, bis es glückt.«

Der Archidiakonus schüttelte das Haupt mit bitterem Lächeln: »Meister Jakob, lest Michael Psellus: Dialogus de energia et operatione Daemonum. Was wir da treiben, ist nicht ganz unschuldig.«

»Leise, Meister! Ich habe es selbst gedacht. Aber man muß schon ein wenig Hermetik treiben, wenn man nur Prokurator des Königs in Sachen der Kirche ist, und nicht mehr als dreißig Thaler jährliches Einkommen hat. Nur muß freilich Alles in der Stille geschehen.«

In diesem Augenblicke vernahm Meister Jakob ein Geräusch von Kinnbacken, die etwas kauen. Dieses Geräusch kam unter dem Ofen hervor.

»Was ist das?« fragte er bestürzt.

Es war Johannes Frollo, der in seinem Versteck eine alte Brodrinde und ein halbverschimmeltes Stück Käse aufgefunden hatte und dieselben mit großem Geräusch der Kinnbacken verzehrte.

»Es ist meine Katze,« antwortete der Archidiakonus schnell, »die da unten eine Maus gefangen hat und verzehrt.«

Durch diese Antwort fand sich Meister Jakob vollkommen befriedigt. »In der That, Meister,« sagte er mit respektvollem Lächeln, »alle großen Philosophen haben ihr Hausthier gehabt. Ihr wißt, was Servius sagt: Nullus enim locus sine genio est.«

Der Archidiakonus, der einen neuen Streich des Studenten fürchtete, führte nun den Meister Jakob aus der Zelle, um, wie er sagte, einige Figuren des Portals mit seinem würdigen Schüler gemeinschaftlich zu studiren.


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