Victor Hugo
Notre Dame, Teil 2
Victor Hugo

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III.

Der Knecht Ruprecht.

Die berühmte Kneipe zum Paradiesapfel lag in der Universitätsstadt. Es war ein Saal zu ebener Erde, ziemlich groß und sehr nieder, in der Mitte von einem hölzernen Pfeiler getragen: eine Tafel an der andern, alle mit Trinkern besetzt, gutwillige Dirnen in Menge, ein einziges Fenster auf die Straße, ein verrosteter Schild, ein Weib mit einem Apfel in der Hand vorstellend; dies war das Weinhaus zum Paradiesapfel.

Die Nacht war finster, die Lichter aus dem Paradiesapfel leuchteten in weiter Ferne; man hörte das Geräusch der Gläser, Flüche, Zank und Streit. Durch das Fenster sah man im Innern hundert verwirrte Figuren wimmeln, und hörte mit lautem Lachen vermischtes Geräusch.

Ein Mann ging auf und ab vor der rauschenden Kneipe; man hätte ihn für eine Schildwache halten können, die ihren Posten nicht verlassen darf. Er trug einen Mantel, der sein Gesicht bis zu den Augen bedeckte. Diesen Mantel hatte er bei einem benachbarten Trödler gekauft, entweder um sich gegen die Kälte zu schützen, oder um sich unkenntlich zu machen. Bisweilen stand er stille vor dem Fenster, horchte, schaute, stampfte vor Ungeduld mit dem Fuße.

Endlich öffnete sich die Thüre des Weinhauses. Darauf schien er gewartet zu haben. Zwei Trinker traten heraus. Der Lichtstrahl, der aus der Thüre kam, beleuchtete einen Augenblick ihre rothen strahlenden Gesichter. Der Mann im Mantel verbarg sich unter einer Halle auf der andern Seite der Straße.

»Hölle und Teufel!« sagte einer der Trinker. »Es wird bald sieben Uhr schlagen. Das ist die Stunde meines Rendezvous.«

»Ich sage Euch ja,« sprach sein Kamerad mit schwerer Zunge, »und sage Euch noch einmal, daß ich nicht in der Straße Mauvaiseś-Paroles wohne, indignus qui inter mala verba habitat. Nein, und abermals nein, ich wohne in der Straße Jean-Pain-Mollet, in vico Joannis-pain-mollet. Und ich sage Euch, daß Ihr dummer als dumm seid, wenn Ihr das Gegentheil behauptet. Und ich sage Euch, wer einmal auf einem Bären geritten ist, der fürchtet sich vor Niemand, und fürchtet sich vor dem lebendigen Teufel nicht. Hört Ihrs, auf daß Ihrs wißt!«

»Johannes, mein Freund, Du bist betrunken,« sagte der Andere.

Der Mühlenhans taumelte von einer Seite der Straße zur anderen und rief mit stammelnder Zunge: »Ihr mögt sagen, was Ihr wollt, ich bleibe doch auf meiner Behauptung, daß Plato das Profil eines Jagdhundes hat.«

Der Hauptmann Phöbus, der ein geübter Trinker und seiner Sinne noch mächtig war, nahm den Studenten am Arm und führte ihn weiter. Der Mann im Mantel folgte ihnen unverdrossen in dem Zickzack, das sie machten. Er hörte folgende Unterredung mit an:

»Höllenteufel! Herr Baccalaureus, so geht doch in Gottes Jesu Namen aufrecht, wenn Ihr könnt. Ihr wißt ja, daß ich Euch verlassen muß. Es schlägt schon sieben Uhr und ich habe eine Weibsperson bestellt.«

»So laßt mich doch, Ihr! Ich sehe Sterne am Himmel glänzen und feurige Lanzen. Ihr seid wie das Schloß von Dammartin, das vor Lachen berstet.«

»Bei den Runzeln meiner Großmutter, Johann, sprecht doch nicht so gar dumm. Daß ichs nicht vergesse, hast Du kein Geld mehr?«

»Herr Rektor, was macht Ihr denn da für ein Leben aus der kleinen Rauferei!«

»Johann, mein Freund Johann, Du weißt, daß ich die Kleine, die Du kennst, auf die St. Michelsbrücke bestellt habe, daß ich sie nur zu der alten Falourdel führen kann, und daß ich das Zimmer bezahlen muß. Das alte Luder mit ihrem weißen Schnurrbart borgt mir aber keinen rothen Heller. Johann, ich bitte Dich, haben wir denn alles Geld des Pfaffen vertrunken? Ist denn kein blutiger Heller mehr übrig?«

»Das Bewußtsein, seine Zeit wohl angewendet zu haben, ist die Würze jedes Vergnügens,« sprach der Student in docirendem Tone.

»Beim Bauche des heiligen Vaters, sage mir doch, Johann, Du Satan, hast Du denn gar kein Geld mehr? Gib her, oder ich suche Deine Taschen aus, und wenn Du so aussätzig wärest wie Hiob, und so grindig wie Cäsar.«

»Mein Herr, die Straße Galiache ist eine Straße, die auf der einen Seite in der Straße Verrerie und auf der andern in der Straße Tiranderie endet.«

»Wohl, ganz gut, mein lieber Freund Johann, mein armer Kamerad, die Straße Galiache, das ist schon recht, ganz recht! Aber in Gottes Jesu Namen, faßt Euch doch, ich brauche nur einen Sou, daß ich das Zimmer bezahlen kann, und es ist schon sieben Uhr.«

»Stille doch, die Stunde kommt, und hört, was ich singen will!« rief der Student.

»Ins Teufels Namen denn, Du Schüler des Antichrists, ich möchte Dich an den Kaldaunen Deiner Mutter aufknüpfen,« schrie Phöbus wild und gab dem betrunkenen Studenten einen Stoß, daß er auf den Boden fiel. Aus einem Ueberrest brüderlichen Mitleids, welches das Herz eines Trinkers niemals verläßt, rollte er ihn auf die Seite und legte sein Haupt auf einen Kehrichthaufen. Der Student fing sogleich an zu schnarchen, der Kriegsmann ließ ihn liegen und ging weiter.

Der Mann im Mantel, der ihnen immer gefolgt war, blieb einen Augenblick vor dem schlafenden Studenten stehen, unschlüssig, wie es schien, was er zu thun habe. Dann stieß er einen tiefen Seufzer aus und eilte dem Hauptmann nach.

In der Straße St. André bemerkte der Kapitän, daß ihm Jemand folgte. Er erblickte, als er zufällig die Augen zurückwandte, eine Art Schatten, der die Mauern entlang hinter ihm her schlich. Er blieb stehen, der Schatten auch; er ging weiter, der Schatten auch. Er machte sich nicht viel daraus: »Bah!« sagte er: »ich habe keinen Heller Geld.«

Vor der Fassade des Collegiums von Autun blieb er stehen. In diesem Collegium hatte er, was man so nennt, seine Studien gemacht, und aus alter Gewohnheit eines erbosten Schülers ging er niemals an der Fassade vorüber, ohne der Bildsäule des Kardinals Peter Bertrand jene Schmach anzuthun, worüber sich Priapus in der Horazischen Satire so bitter beklagt. Er hatte hierin einen solchen Eifer bewiesen, daß die Inschrift Eduensis episcopus fast gänzlich verlöscht war. Er blieb auch diesmal wie gewöhnlich vor der Bildsäule stehen. Die Straße war ganz öde und verlassen. Als er eben seinen Hosenbund wieder knüpfte, sah er langsam den Schatten auf sich zukommen, so langsam, daß er alle Zeit hatte, zu bemerken, daß dieser Schatten einen Mantel und einen Hut trug. In seiner Nähe hielt der Schatten und stand so unbeweglich, als die Bildsäule des Kardinals. Seine Augen, strahlend wie die einer Katze bei Nacht, waren fest auf Phöbus geheftet. Der Kapitän war ein tapferer Soldat und hätte sich wenig darum bekümmert, wenn ein Räuber mit dem Schwert in der Hand ihm zu Leibe gegangen wäre. Aber diese wandelnde Bildsäule, dieser versteinerte Mensch, erfüllte ihn mit Schrecken. Es gingen damals allerlei Sagen von einem Knecht Ruprecht, der nächtlicher Weile durch die Straßen von Paris schweife, und diese Sagen stiegen jetzt verwirrt in seinem Gedächtnisse auf. Er blieb einige Minuten wie versteinert stehen, endlich erzwang er ein gewaltsames Lachen und sagte: »Herr, wenn Ihr ein Räuber seid, wie ich hoffe, so bekümmere ich mich so wenig um Euch, als eine Nußschale um einen Fischreiher. Lieber Freund, ich bin der Sohn einer ruinirten Familie. Wenn Ihr aber etwas sucht, so werdet Ihr hieneben in der Kapelle des Collegiums Gold und Silber genug finden.«

Der Schatten zog seine Hand unter dem Mantel hervor und faßte den Arm des Hauptmanns wie mit einer Adlerklaue. Zu gleicher Zeit öffnete sich sein Mund und sprach: »Hauptmann Phöbus de Chateaupers!«

»Was Teufels! Ihr wißt meinen Namen!«

»Nicht nur Deinen Namen weiß ich,« antwortete der Schatten mit seiner Grabesstimme, »sondern ich weiß auch, daß Du diesen Abend ein Rendezvous hast.«

»Wahrhaftig ja!« erwiederte Phöbus bestürzt.

»Um die siebente Stunde.«

»Richtig, beim wahrhaftigen Gott!«

»Bei der alten Falourdel.«

»Ganz richtig.«

»Gottloser!« murmelte das Gespenst, »mit einem Weibe kommst Du zusammen?«

»Confiteor.»

»Sie heißt . . .«

»Die Smeralda,« antwortete rasch Phöbus, der allmählig seine ganze Unbefangenheit wieder erlangt hatte.

Als er diesen Namen aussprach, drückte der Schatten krampfhaft seinen Arm zusammen: »Hauptmann Phöbus de Chateaupers, Du lügst!«

Das Gesicht des Ritters wurde flammroth; er trat einen Schritt zurück und legte mit stolzer Miene die Hand an den Griff seines Schwertes. Der Schatten stand unbeweglich wie zuvor, ruhig und fest, seine glühenden Blicke auf ihn heftend. Dieser Auftritt glich so ziemlich dem Zweikampfe zwischen Don Juan und der steinernen Bildsäule.

»Christ und Satan!« schrie der Kapitän. »Ich höre da ein Wort, das selten zu den Ohren eines Chateaupers dringt! Wenn Du es zu wiederholen wagst . . .«

»Du lügst,« sagte kalt und ruhig der Schatten.

Der Hauptmann knirschte mit den Zähnen. Knecht Ruprecht, Gespenst, Aberglaube, Alles war plötzlich vergessen. Er sah nur noch einen Menschen vor sich, der ihn beleidigt hatte.

»Ah! So ist es recht!« stammelte er mit einer von Wuth erstickten Stimme und zog sein Schwert. »Hier! Gleich auf der Stelle! Ziehe! Schwert heraus! Schwert heraus! Blut auf diesem Pflaster!«.

Der Schatten rührte sich nicht. »Hauptmann Phöbus,« sagte er bitter, aber ruhig, »Du hast Dein Rendezvous vergessen.«

Der Zorn, der Leute vom Schlage unseres Phöbus ist eine Milchsuppe, deren Aufwallung ein einziger Tropfen kalten Wassers niederschlägt. Das einfache Wort, welches der Schatten sprach, senkte das Schwert, das in des Hauptmanns Hand blitzte.

»Morgen,« fuhr der Schatten fort, »übermorgen, in einem Monat, in zehn Jahren, Du sollst mich stets bereit finden, Dir den Hals zu brechen. Jetzt aber geh zu Deinem Rendezvous.«

»In der That,« sagte Phöbus, als ob er mit sich selbst zu kapituliren suchte, »es sind zwei herrliche Dinge, die man in einem Rendezvous findet: einen Degen und ein Mädchen; ich sehe aber nicht ein, warum ich eines für das andere aufgeben sollte, wenn ich beide haben kann.«

Hiemit steckte er sein Schwert in die Scheide.

»Geh zu Deinem Rendezvous,« wiederholte eintönig der Schatten.

»Herr,« antwortete Phöbus etwas verlegen, »schönen Dank für Eure Höflichkeit. Ihr habt Recht in der Hauptsache, es ist morgen immer noch Zeit, uns den Wanst des Vaters Adam aufzuhauen. Es ist schön von Euch, daß Ihr mir noch ein paar angenehme Stunden gönnen wollt. Ich hoffte zwar wohl, Euch auf dem Pflaster zu betten und noch zeitlich genug zu meiner Schönen zu kommen, denn man muß ohnedies in solchen Fällen die Weibspersonen etwas auf sich warten lassen. Aber Ihr scheint mir ein kecker Degen zu sein, und so ist es doch sicherer, wenn wir die Partie auf morgen verschieben. Ich gehe also zu meinem Rendezvous, das um sieben Uhr ist, wie Ihr wißt.«

Als Phöbus diese Worte sprach, kratzte er sich plötzlich hinter den Ohren: »Höllenelement! Ich habe vergessen, daß ich nicht einen Heller habe, um das Zimmer zu bezahlen, und die alte Schachtel will immer ihr Geld voraus haben, weil sie mir nicht traut.«

»Hier ist Geld.«

Phöbus fühlte die kalte Hand des Schattens, der ein großes Silberstück in die seinige gleiten ließ. Er nahm das Geld und drückte die kalte Hand: »Beim wahrhaftigen Gott!« rief er aus. »Ihr seid ein guter Kerl.«

»Eine Bedingung nur,« sagte der Schatten. »Beweise mir, daß ich Unrecht hatte, und daß Du wahr geredet hast. Verbirg mich in irgend einem Winkel, aus dem ich sehen kann, ob dieses Weib wirklich dasselbe ist, dessen Namen Du genannt hast.«

»Mit Vergnügen zu Euern Diensten,« erwiederte der Hauptmann, »Wir nehmen die Kammer zur heiligen Martha; dort könnt Ihr aus dem Hundestall, der daneben ist, Alles bequem mit ansehen.«

»So komm!« sagte der Schatten.

»Zu Diensten!« erwiederte der Kapitän, »Ich weiß zwar nicht, ob Ihr nicht der Teufel in eigener Person seid, aber diesen Abend wollen wir gute Freunde sein, und morgen will ich bezahlen, was ich Euch an Geld und Säbelhieben schuldig bin.«

Sie gingen schnell vorwärts. Nach einigen Minuten kündigte das Rauschen des Wassers an, daß sie sich auf der St. Michelsbrücke befanden, welche damals mit Häusern besetzt war.

»Ich will Euch zuerst einführen,« sprach Phöbus zu seinem Gefährten, »und dann meine Schöne abholen, die am kleinen Chatelet auf mich wartet.« Der Mann im Mantel antwortete nichts; seit sie mit einander gingen, hatte er kein Wort gesprochen. Phöbus blieb vor einer niederen Thüre stehen und pochte mit Geräusch an. Ein Licht leuchtete durch die Spalten der Thüre und ein zahnloser Mund rief: »Wer ist da?«

»Höllenelement! Höllenelement! Donnerwetter! Kreuzsakrament!« antwortete der Hauptmann,

»Ah! Ihr seid es, Hauptmann Phöbus de Chateaupers!« rief die Stimme, und die Thüre öffnete sich. Unter ihr erschien, ein Licht in der Hand, ein altes, in Lumpen gekleidetes Weib. Im Zimmer standen alte gebrechliche Tische und Bänke umher; ein schmutziges Kind saß in der Asche des Kamins; im Hintergrund stand eine Leiter, die in den obern Stock führte. Als der geheimnißvolle Gefährte des Hauptmanns in diese Höhle trat, zog er seinen Mantel bis über die Augen herauf. Phöbus fuhr fort zu fluchen wie ein Heide, drückte der alten Vettel seinen glänzenden Thaler in die Hand und sagte mit dem Uebermuth eines Crösus: »Die Kammer zur Sct. Martha.«

Die Alte nannte ihn gnädigster Herr, und schob den Thaler in eine Schublade. Während sie den Rücken wandte, näherte sich der schmutzige Knabe, der in der Asche spielte, leise der Schublade, nahm sachte den Thaler heraus und legte an seine Stelle ein dürres Laub, das er aus einem Reisbüschel abgebrochen hatte.

Die Alte gab den beiden gnädigen Herrn, wie sie sie nannte, ein Zeichen, ihr zu folgen, und stieg vor ihnen die Leiter hinauf. In dem oberen Zimmer setzte sie die Lampe auf eine Kiste, und Phöbus, in dem Hause wohl bekannt, öffnete eine Thüre, die in einen finsteren Verschlag führte, welcher einem Hundestall ziemlich ähnlich war.

»Nur da hinein, lieber Freund!« sagte er seinem Gefährten.

Der Schatten gehorchte, ohne ein Wort zu erwiedern. Die Thüre fiel hinter ihm zu, er hörte den Hauptmann mit der Alten die Leiter hinabsteigen. Das Licht war verschwunden.

Der Archidiakonus Claude Frollo, den der Leser in dem Schwarzmantel leicht erkannt haben wird, tappte in dem finstern Loche herum, in das ihn der Hauptmann geführt hatte. Die Decke war so nieder, daß man sich nicht aufrecht halten konnte. Der Priester setzte sich auf den Boden und nahm seinen heißen Kopf in beide Hände. Er war in einem Zustande, der an Irrsinn gränzte. Esmeralda, Phöbus, Jakob Charmolue, sein Bruder Johann, den er im Straßenkoth zurückgelassen hatte, sein Priesterrock unter einem schwarzen Mantel in einem Hurenhause – alle diese Bilder gingen verwirrt durch seine Seele.

Er wartete eine Viertelstunde, es schien ihm, daß er um ein Jahrhundert älter geworden sei. Plötzlich hörte er die Sparren der hölzernen Leiter krachen, es stieg Jemand herauf. Ein Licht erschien im Zimmer; er sah durch eine breite Spalte seines Loches heraus und konnte Alles wahrnehmen, was in dem Zimmer vorging.

Zuerst erschien die alte Vettel mit der Lampe in der Hand, dann Phöbus, behaglich seinen Schnurrbart zurückstreichend, zuletzt die grazienhafte Gestalt Esmeraldas. Sie zeigte sich vor den Augen des Priesters wie eine leuchtende Erscheinung, die aus der Erde heraufsteigt. Er zitterte, sein Auge bedeckte sich mit Nacht, sein Blut rollte wild durch die Adern, Alles wirbelte und drehte sich um ihn her, er sah und hörte nichts mehr.

Als er wieder zu sich kam, waren Phöbus und Esmeralda allein. Sie saßen zusammen auf der hölzernen Kiste, und die Lampe stand neben ihnen.

Das junge Mädchen war hochroth, verlegen, zitternd. Ihre langen, niedergeschlagenen Augenlider beschatteten ihre purpurnen Wangen. Phöbus, auf den sie das Auge nicht zu erheben wagte, war strahlend vor Freude. Mechanisch und mit einem allerliebsten linkischen Wesen, zeichnete Esmeralda mit der Spitze des Fingers unzusammenhängende Linien auf ihre Hand und betrachtete dann ihren Finger. Ihr kleiner Fuß war nicht sichtbar, die weiße Ziege hatte sich darauf gelegt.

»Oh!« sagte das Mädchen, ohne ihre Augen zu erheben, »gnädiger Herr Phöbus, verachtet mich doch nicht. Ich fühle selbst, daß ich nicht recht gethan habe, hieher zu kommen.«

»Dich verachten, schönes Kind!« antwortete der Offizier mit einem Ansehen überlegener Galanterie, »Dich verachten! Beim hölzernen Herrgott! Warum denn?«

»Weil ich Euch hieher gefolgt bin.«

«Was diesen Punkt anbelangt, mein schönes Kind, so sind wir nicht einig. Ich sollte Dich nicht verachten, sondern hassen.«

Das junge Mädchen blickte ihn schreckenvoll an: »Mich hassen! Was habe ich denn gethan?«

»Weil Du Dich so lange bitten ließest.«

»Mein Gott!« erwiederte sie, »das geschah darum, weil ich ein Gelübde breche . . . ich werde meine Eltern nicht wieder finden . . . das Zaubergehänge wird seine Kraft verlieren! Aber was liegt daran? Ich brauche jetzt weder Vater noch Mutter mehr.« Bei diesen Worten heftete sie ihre großen schwarzen Augen, strahlend von Freude und Zärtlichkeit, auf den Hauptmann.

»Hol mich der Teufel, wenn ich Dich verstehe!« rief Phöbus aus.

Esmeralda schwieg einen Augenblick, dann trat eine Thräne in ihr Auge, ein Seufzer entfloh ihren Lippen, und sie sprach: »Oh, gnädiger Herr! Ich liebe Euch!«

Das junge Mädchen war von einem solchen Zauber von Keuschheit und Tugend umgeben, daß Phöbus sich nicht ganz behaglich bei ihr fühlte. Dieses Wort ermuthigte ihn.

»Du liebst mich!« rief er entzückt aus und umfaßte das Mädchen. Er hatte nur auf eine solche Gelegenheit gewartet.

Als der Priester dieses sah, griff er unwillkürlich nach dem Griff des Dolches, den er auf der Brust versteck trug.

»Phöbus,« fuhr Esmeralda fort, indem sie sich sanft von ihm losmachte, »Ihr seid gut, Ihr seid edelmüthig, Ihr seid schön, Ihr habt mich gerettet, mich armes Zigeunerkind. Schon lange her träume ich von einem ritterlichen Helden, der mir das Leben rettet. Von Euch habe ich geträumt, mein Phöbus, ehe ich Euch noch kannte. Mein Traumbild trug eine Rüstung wie Ihr, war schön von Angesicht wie Ihr, führte ein glänzendes Schwert an der Seite wie Ihr; Ihr nennt Euch Phöbus, das ist ein schöner Name, ich liebe Euren Namen, ich liebe Euer Schwert. Zieht doch Euer Schwert, Phöbus, daß ich es sehe.«

»Einfältiges Kind!« sagte der Hauptmann und zog lächelnd seine Klinge.

Das Mädchen betrachtete den Griff, die Klinge, senkte das Schwert und sagte:

»Ich liebe Dich, mein Ritter!«

Phöbus benützte abermals diese Gelegenheit, einen brennenden Kuß auf ihren schönen Hals zu drücken. Das Mädchen wurde flammroth und fuhr zurück.

»Phöbus,« fuhr sie fort, »geht doch ein wenig auf und ab, daß ich Euch in Eurer ganzen Höhe sehe und den Klang Eurer Sporen höre. Wie schön seid Ihr!«

Der Hauptmann erhob sich mit einem selbstgefälligen Lächeln, obgleich er sie schalt: »Wie kindisch bist Du doch! Ei, meine Schöne! Hast Du mich schon in der Staatsuniform gesehen?«

»Leider nein!«

»Das ist erst schön!«

Phöbus setzte sich wieder neben sie, aber viel näher als zuvor.

»Hör einmal, mein schönes Kind . . .«

Esmeralda gab ihm mit ihrer niedlichen Hand etliche leichte Schläge auf den Mund, mit einer Kindlichkeit voll Grazie und munterer Laune.

»Nein, nein, ich will Euch nicht hören. Liebt Ihr mich? Ihr sollt mir sagen, daß Ihr mich liebt.«

»Ob ich Dich liebe, Herzensengel, Seelenkind!« rief der Hauptmann und kniete halb vor ihr nieder. »Leib und Blut, Körper und Seele gehören Dein. Ich liebe Dich und habe nie eine Andere geliebt.«

Unser Phöbus hatte schon so oft bei mancherlei Gelegenheiten diese Redensart wiederholt, daß er sie ganz geläufig ohne einen Gedächtnißfehler vorbrachte. Bei dieser leidenschaftlichen Liebeserklärung hob Esmeralda ihre Augen an die schmutzige Decke des Zimmers, da hier vom Himmel nicht viel zu sehen war, und sagte mit wonnetrunkenem Blicke: »Das ist ein Augenblick, wo man sterben sollte!«

Phöbus fand den Augenblick günstig, ihr einen neuen Kuß zu rauben, der dem Priester in seinem Versteck das Herz durchschnitt.

»Sterben!« rief der verliebte Hauptmann aus, »Was fällt Dir ein, mein schöner Engel? Jetzt will ich leben, und Jupiter ist nur ein Hundsfott gegen mich! Jetzt sterben, wo das Leben erst anfängt! Donnerwetter! Das wäre dumm! Hör einmal, meine liebe Similar . . . Esmenarda . . . Ich kann Deinen verfluchten heidnischen Namen nicht behalten.«

»Mein Gott!« sagte das arme Kind, »ich hielt ihn für schön, weil er so selten ist. Da er Euch aber mißfällt, so wollte ich lieber Bärbchen oder Gretchen heißen.«

»Betrübe Dich nicht um eine solche Kleinigkeit, mein Engel! Das ist ein Name, an den man sich gewöhnen muß, und wenn ich ihn erst einmal auswendig weiß, so wird es schon gehen. Höre also, meine liebe Similar . . . ich liebe Dich zum Rasendwerden; ich liebe Dich so, daß ich mich selbst darüber verwundern muß. Ich kenne eine Gewisse, die vor Neid darüber bersten würde . . .«

»Wer denn?« fragte schnell das eifersüchtige Zigeunermädchen.

»Was liegt uns daran? Liebst Du mich?«

»Oh!« sagte sie.

»Nun, was braucht es also weiter! Du sollst sehen, wie ich Dich liebe, und der große Teufel Neptun soll mich an seine Gabel spießen, wenn ich Dich nicht zum glücklichsten Geschöpf auf Gottes Erdboden mache. Wir werden irgendwo ein kleines, niedliches Zimmerchen haben, und meine Bogenschützen sollen vor Deinen Fenstern paradiren. Sie sind alle zu Pferde, und ganz andere Kerls, als die Compagnie des Hauptmanns Mignon.«

Das junge Mädchen, in Gedanken verloren, horchte dem Ton seiner Stimme, ohne auf seine Worte zu achten.

»Ja, Du sollst glücklich sein!« fuhr der Hauptmann fort, und löste ihr sachte den Gürtel.

»Was ist das?« fuhr sie, aus ihren Träumen geweckt, lebhaft auf.

»Nichts,« antwortete Phöbus, »ich sagte bloß, daß Du diese närrische Straßentoilette ablegen mußt, wenn Du bei mir sein wirst.«

»Wenn ich bei Dir sein werde, mein Phöbus,« sagte das Mädchen zärtlich. Sie wurde wieder nachdenklich und schweigsam.

Der Hauptmann, durch ihre Sanftheit ermuthigt, umfaßte sie, und sie ließ es geschehen. Hierauf schnürte er sachte den Schnürleib des armen Kindes auf, und der Priester in seinem Versteck erblickte mit zitterndem Verlangen die schöne, nackte, runde Schulter des Mädchens.

Esmeralda schien nicht darauf zu achten; sie ließ ihn machen. Das Auge des kecken Liebhabers funkelte.

Plötzlich wandte sie sich gegen ihn und sagte mit unaussprechlichem Liebreiz: »Phöbus, unterrichte mich in Deiner Religion.«

»Meine Religion,« schrie der Hauptmann und schüttete sich vor Lachen aus. »Ich soll Dich in meiner Religion unterrichten? Donnerwetter! Was willst Du mit meiner Religion machen?«

»Damit wir uns heirathen können,« antwortete sie.

Das Gesicht des Hauptmanns nahm eine Mischung von Staunen, Verachtung und sorgloser Liederlichkeit an: »Bah!« sagte er, »wer wird sich denn heirathen!«

Esmeralda erblaßte und ließ traurig ihr Haupt auf ihre Brust fallen.

»Schönes Kind,« fuhr Phöbus zärtlich fort, »das sind Narrheiten! Was heirathen! Liebt man sich darum weniger, wenn Einem der Pfaff keine lateinischen Brocken in's Gesicht gespieen hat?«

Während er so mit sanfter Stimme sprach, umschlang er das Mädchen aufs Neue, sein Auge wurde immer flammender, und Alles schien die Stunde anzukündigen, in welcher Jupiter selbst so viele Thorheiten begeht, daß der gute Homer genöthigt ist, eine Wolke zu Hülfe zu rufen.

Der Archidiakonus sah Alles mit an. Der kräftige Priester, im besten Mannesalter, bis jetzt zur strengen Keuschheit des Klosters verdammt, fühlte sein Blut wallen bei dieser nächtlichen Scene der Liebe und Wollust. Sein brennendes Auge blickte eifersüchtig auf das liebende Paar. Wer es in der Dunkelheit leuchten sah, konnte ihn für einen Tiger halten, der aus seinem Käfig einen Schakal erblickt, welcher ein Reh verzehrt.

Jetzt nahm plötzlich Phöbus dem Mädchen das Busentuch weg. Sie erwachte aus ihren Träumereien und sprang rasch in die Höhe. Einen Blick warf sie auf Phöbus, den andern auf ihren bloßen Busen und ihre nackten Schultern. Hochroth, verwirrt, sprachlos vor Scham, kreuzte sie ihre beiden Arme über die Brust, um sie zu verstecken. Wäre die flammende Röthe auf ihren Wangen nicht gewesen, so konnte man sie, unbeweglich und schweigend, mit niedergeschlagenen Augen, wie sie da stand, für eine Bildsäule der Scham halten.

Da das Busentuch weggenommen war, so sah man jetzt das geheimnißvolle Zaubergehänge an ihrem Halse hängen.

»Was ist das?« fragte Phöbus, diesen Vorwand ergreifend, sich ihr zu nähern.

»Rührt es nicht an,« rief sie lebhaft, »das ist meine Hüterin, durch sie werde ich eines Tages meine Familie wieder finden, wenn ich ihrer würdig bleibe. Oh! laßt mich! Meine arme Mutter! Wo bist du? Komm mir zu Hülfe! Gebt mir um Gotteswillen mein Busentuch wieder!«

Phöbus trat einen Schritt zurück und sagte: »Ah! Ich sehe wohl, daß Du mich nicht liebst!«

»Ich Dich nicht lieben!« rief das arme Kind schmerzlich aus und fiel ihm trostlos um den Hals. »Ich Dich nicht lieben! Willst Du mein Herz zerreißen? Ich bin ganz Dein! Fort mit diesem Zaubergehänge! Was geht mich meine Mutter an! Du bist mir mehr als Vater und Mutter, denn ich liebe Dich! Blicke mich an, mein geliebter Phöbus! Mein Leben, mein Körper, meine Seele gehören Dir. Ich will Dich nicht heirathen, ich bin ja nur ein armes Zigeunermädchen und Du ein Edelmann. Ich will Deine Geliebte sein, Dein Spielzeug, ich lebe nur für Dich. Und wenn ich alt und häßlich bin, so will ich Dir als Magd dienen. Liebe mich nur, mein Phöbus, verstoße mich nicht!«

Sie warf sich an seinen Hals und zerfloß in Thränen. Phöbus umfaßte sie und bedeckte ihren bloßen Hals mit Küssen. Sie sank zitternd zurück.

Da erblickte sie plötzlich über Phöbus Kopf ein anderes Haupt, blaß, krampfhaft verzerrt, mit dem Blicke eines Verdammten. Neben diesem Haupt erhob sich eine Hand mit einem blitzenden Dolch. Sie erstarrte vor Schrecken und konnte keinen Laut von sich geben. Der Dolch senkte sich und kam rauchend zurück aus Phöbus Brust.

»Verflucht seist Du!« seufzte er und sank zu Boden. Das Mädchen fiel in Ohnmacht. Als ihre Augen sich schlossen, glaubte sie auf ihren Lippen eine feurige Berührung zu fühlen, einen Kuß, brennender als das glühende Eisen des Henkers.

Als sie wieder zu sich kam, war sie von Soldaten umringt. Man trug den Hauptmann fort, der in seinem Blute schwamm. Der Priester war verschwunden. Sie hörte um sich her sagen: »Es ist eine Zauberin, die einen Offizier ermordet hat.«


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