Victor Hugo
Notre Dame, Teil 2
Victor Hugo

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V.

Laßt alle Hoffnung hinter euch.

Wenn im Mittelalter ein Gebäude vollständig war, befand sich fast eben so viel Mauerwerk unter der Erde, als über derselben. Ein Palast, eine Burg, eine Kirche hatten immer einen doppelten Grund. Eine Cathedrale hatte gewissermaßen eine andere unterirdische, niedere, finstere, geheimnißvolle Kirche unter sich, blind und stumm unter der oberen Kirche, in der das Licht glänzte und Tag und Nacht Orgeln und Glocken ertönten. Manchmal war auch der unterirdische Theil der Kirche ein Grab. In den Palästen und Bastillen war der unterirdische Theil ein Kerker, bisweilen eine Gruft, manchmal beides zumal. Diese gewaltigen Gebäude hatten nicht bloß eine einfache Grundmauer, sondern eigentliche Wurzeln im Boden: Zimmer, Galerien, Treppen, wie im oberen Bauwerk. Im Justizpalast zu Paris bestand der unterirdische Theil des Gebäudes aus Gefängnissen. Diese Kerker gingen tief in den Boden hinab, einer über dem anderen. Einmal da unten, in der untersten Tiefe, begraben, gute Nacht Tag, Luft, Leben: Laßt alle Hoffnung hinter euch! Das elende Geschöpf, einmal da hinuntergestoßen, erblickte das Licht des Tages nur wieder, um von der Welt auf ewig Abschied zu nehmen. Glücklich noch, wenn das Schwert des Henkers oder die Flamme des Scheiterhaufens einen schnellen Ausgang aus dem Leben bereitete. Viele verfaulten im dumpfen Kerker bei lebendigem Leibe. Das war eine Begnadigung, und die Justiz nannte es: Vergessen.

In eine dieser unterirdischen Höhlen hatte man das arme schwache Zigeunermädchen gebracht. Hier lag sie von dichter Finsterniß umgeben, an die feuchte Mauer gekettet, lebendig begraben. Kalt wie die Nacht, kalt wie der Tod, von der Menschheit abgeschieden, kein Strahl des Tages mehr in ihre Augen fallend, ihre zarten Glieder in Eisen geschlagen, so saß sie da, neben einem Krug Wasser und einem Stück schwarzen Brodes, auf halbvermodertem Stroh, ein Bild des Jammers. Ihre Glieder lagen halb im Wasser, das von den feuchten Wänden trof und sich in einer Vertiefung neben ihr sammelte. Der Athem in ihrer Brust ging noch aus und ein, aber sie lebte nicht mehr. Phöbus, die Sonne, der helle Mittag, die frische Luft, die Straßen von Paris, die Tänze unter dem Beifall des Volks, dann der Priester, der Dolch, das Blut, Folter und Galgen: Alles das ging an ihrer erstarrten Seele vorüber, bald als ein lieblicher Traum, bald als ein mißgestalteter drückender Alp; es war aber nichts weiter mehr, als ein unbestimmter furchtbarer Kampf, der sich in der Nacht des Kerkers verlor, oder eine ferne Musik, die da oben auf der Erde spielte, und die man in der Tiefe nicht mehr hörte, in welcher das unglückliche Geschöpf schmachtete. Von solchem Unglück erdrückt, in der Nacht eines solchen Kerkers konnte sie Wachen vom Schlaf, den Traum von der Wirklichkeit, den Tag von der Nacht nimmer unterscheiden. Alle Bilder traten verwirrt und vermischt vor ihren zerrütteten Geist. Sie fühlte, sie dachte nicht mehr; höchstens träumte sie. Ihr Leben war geschlossen, noch ehe es unter der Hand des Nachrichters geendet.

So, auf dem feuchten Stroh liegend, gefroren, versteinert, hatte sie kaum zwei- oder dreimal das Geräusch eines Schubfensters gehört, das sich irgendwo über ihr öffnete, und durch das ihr eine unsichtbare Hand ein Stück schwarzen Brodes zuwarf. Dieser tägliche Besuch des Kerkermeisters war noch die einzige Verbindung, worin sie mit der Welt stand. Ein einziger Schall drang noch mechanisch zu ihrem Ohr: über ihrem Haupte tröpfelte die Feuchtigkeit durch die vermoderten Steine des Gewölbes, und in gleichen Zwischenräumen sonderte sich ein Tropfen Wasser davon ab. Sie horchte stumpfsinnig auf das Geräusch, das dieser Wassertropfen machte, indem er in die mit Wasser angefüllte Vertiefung neben ihr fiel.

Dieser Wassertropfen, in diese Vertiefung fallend, war noch die einzige Bewegung um sie her, die einzige Uhr, die ihr die Zeit anzeigte, das einzige Geräusch von allem Geräusch auf der weiten Oberfläche der Erde, das bis in ihren Kerker drang. Von Zeit zu Zeit fühlte sie etwas Kaltes, das da und dort über ihren Arm oder Fuß sprang. Es waren die nassen Bewohner dieser Höhle. Wie lange war sie schon in diesem Kerker? Sie wußte es nicht. So viel nur erinnerte sie sich, daß irgendwo ein Todesurtheil gegen irgend Jemand ausgesprochen worden sei, hierauf habe man sie, sie selbst, fortgetragen, und dann sei sie in der Nacht und in der Stille, von Kälte und Fieber geschüttelt, wieder aufgewacht. Sie sei auf den Händen fortgerutscht, da haben Ketten gerasselt, und der eiserne Ring an ihrem Fuße habe sie blutig gerissen. Sie habe mit den Händen um sich getappt, und überall nur die kalte Mauer um sich gefunden; dann habe sie sich auf das feuchte Stroh gesetzt, das neben ihr gelegen. Wie lange sie so da saß, wußte sie nicht, denn es gab für sie weder Zeit noch Stunde, weder Tag noch Nacht.

Eines Tages oder eines Nachts, denn Mittag und Mitternacht hatten die nämliche Farbe in diesem Grab, hörte sie über sich ein stärkeres Geräusch als gewöhnlich der Kerkermeister, wenn er ihr Brod und Wasser brachte, erregte. Sie hob das Haupt und sah einen röthlichen Strahl durch die Spalten der Thüre dringen. Zu gleicher Zeit klirrten die Riegel, die Pforte drehte sich in ihren verrosteten Angeln, und sie erblickte zwei Männer und ein Licht. Das Licht blendete sie, sie schloß die Augen.

Als sie die Augen wieder öffnete, war die Thüre geschlossen, das Licht stand auf einer Stufe der Treppe, und ein Mann stand allein vor ihr. Gesicht und Gestalt waren ganz in einen schwarzen Mantel verhüllt. Sie heftete fest ihre Augen auf dieses geisterhafte Wesen. Beide schwiegen. Endlich brach die Gefangene das Stillschweigen: »Wer bist Du?« fragte sie.

»Ein Priester.«

Das Wort, der Ton, der Klang der Stimme machten sie schaudern.

»Bist Du bereitet?« fragte mit dumpfer Stimme der Priester.

»Wozu?«

»Zum Tode.«

»Oh! doch bald?« sagte sie.

»Morgen.«

Ihr Haupt, das sie freudig erhoben hatte, fiel auf ihre Brust zurück.

»Das ist noch sehr lange!« seufzte sie, »könnte es nicht heute schon sein?«

»Du fühlst Dich also sehr unglücklich?« fragte der Priester nach einer Pause,

»Es friert mich sehr,« antwortete sie.

Der Priester warf seine Augen im Kerker umher: »Ohne Licht! Ohne Feuer! im Wasser! Das ist schrecklich.«

»Ja,« sagte sie, »der Tag gehört Jedermann, warum gibt man mir nur die Nacht?«

»Weißt Du,« fragte der Priester nach einer Pause, »warum Du hier bist?«

»Ich glaube, ich habe es gewußt,« erwiederte sie und brachte ihre abgemagerte Hand an ihre Stirne, gleichsam um ihrem Gedächtniß zu Hülfe zu kommen, »aber ich weiß es nicht mehr.«

Plötzlich fing sie an zu weinen wie ein Kind: »Ich möchte gerne fort von hier, lieber Herr! Es friert mich, ich fürchte mich, und es gibt hier Thiere, die mir über den Leib kriechen.«

»So folge mir.«

Der Priester nahm sie am Arm. Die Unglückliche war durch und durch gefroren. Gleichwohl fühlte sie beim Drucke dieser Hand eine Kälte.

»Oh,« sagte sie, »das ist die kalte Hand des Todes. Wer bist Du?«

Der Priester schlug die Kapuze seines Mantels zurück, und sie sah das unheilbringende Gesicht, das sie schon so lange verfolgte, das Haupt jenes Teufels, der ihr, den Dolch in der Hand, über dem geliebten Haupte ihres Pböbus erschienen war.

Diese, für sie immer so unheilverkündende Erscheinung, die sie, von einem Elend in's andere, bis zum Fuße des Galgens gestoßen hatte, weckte sie auf einmal aus ihrem dumpfen Hinbrüten. Der Flor, der ihr Denkvermögen umhüllt hatte, zerriß plötzlich. Alle Einzelheiten ihrer unseligen Geschichte, von der nächtlichen Scene bei der Falourdel an bis zur Verurtheilung im Justizpalast, traten zumal vor ihren Geist, nicht unbestimmt und verwirrt, wie bis jetzt, sondern bestimmt, deutlich, furchtbar, herzzerreißend. Alle Wunden ihres Herzens öffneten sich zumal und bluteten zugleich.

Sie zitterte an allen Gliedern, bedeckte ihre Augen mit den Händen und rief entsetzt: »Oh, das ist der Priester!«

Ihre Arme fielen schlaff am Leibe herab, sie saß da mit gesenktem Haupt, den Blick der Erde zugekehrt, stumm und zitternd. Der Priester betrachtete sie schweigend.

Jetzt fing sie leise an zu murmeln: »Vollende! Vollende! Den letzten Streich!«

Sie ließ ihr Haupt auf die Brust herabfallen, gleichsam den tödtlichen Schlag erwartend.

»Ich flöße Dir also Abscheu ein?« fragte der Priester.

Sie antwortete nicht.

»Verabscheust Du mich?« wiederholte er.

Ihre Lippen verzogen sich zu einem krampfhaften Lächeln: »Ja,« sagte sie, »der Henker scherzt mit der Verdammten. Seit Monaten schon verfolgt er mich. Wie glücklich wäre ich ohne ihn! Er hat mich in dies Verderben gebracht! . . . Er hat meinen Phöbus ermordet!«

Sie brach in Thränen aus, hob ihre Augen zu dem Priester und sprach: »Elender, wer bist Du? Was habe ich Dir gethan? Warum hassest Du mich?«

»Ich liebe Dich!« rief der Priester aus.

Ihre Thränen hörten auf zu fließen, sie warf einen Blick stumpfsinnigen Staunens auf ihn.

Der Priester fiel zu ihren Füßen nieder, betrachtete sie mit flammenden Augen und rief: »Ich liebe Dich! Hörst Du das?«

»Welche Liebe!« sagte die Unglückliche schaudernd.

»Die Liebe eines Verdammten.«

Beide schwiegen einige Minuten; sie erlagen unter dem Gewicht ihrer Gemüthsbewegungen: er wahnsinnig, sie stumpfsinnig.

»Höre,« sagte endlich der Priester ruhig und kalt, »ich will Dir mein ganzes Herz öffnen, ich will Dir sagen, was ich bis jetzt mir selbst kaum gestanden habe. Höre, junges Mädchen! Ehe ich Dich kannte, war ich glücklich.«

»Und ich!« seufzte sie mit schwacher Stimme.

»Höre mich! Ja, ich war glücklich, ich glaubte es wenigstens zu sein. Ich war rein, meine Seele voll Klarheit. Kein Haupt erhob sich stolzer und strahlender, als das meinige. Priester fragten mich um Rath über die Keuschheit, Gelehrte über die Gelehrsamkeit. Die Wissenschaft war mir Alles, sie war meine Schwester, und eine Schwester genügte mir. Nicht daß ich nie in Versuchung gerathen wäre, mein Fleisch empörte sich mehr als einmal gegen die Strenge des Gesetzes, die den Priester an den kalten Stein des Altars fesselt. Aber Nachtwachen, Studien, Fasten und Beten gaben der Seele die Herrschaft über den Körper zurück. Ich floh die Weiber und mied ihren Umgang. Wenn mich der Satan mit unreinen Händen versuchte, warf ich mich in die Arme der Wissenschaft; ich schwang mich in höhere Regionen empor, wo die ewige Wahrheit thront, und ließ den Schmutz der Erde tief unter mir. So lange der höllische Dämon nur unbestimmte Weiberschatten, die einzeln in der Kirche, auf der Straße an mir vorüberschwebten, aussandte, mich zu versuchen, behielt ich den Sieg. Ist er mir nicht geblieben, so ist Gott Schuld, der dem Teufel Macht über die Menschen gegeben hat. Höre! eines Tages . . .«

Hier hielt der Priester inne, und ein tiefer, schwerer Seufzer stieg mühsam aus seiner Brust empor. »Eines Tages,« fuhr er fort, »stand ich am Fenster meiner Zelle. Ich las ein Buch, ich weiß nicht mehr welches, denn Alles schwimmt wie ein Nebel vor meiner Erinnerung. Ich las. Ich hörte den Schall eines Tambourins. Ich ärgerte mich, in meinen Betrachtungen auf solche Art unterbrochen zu werden. Ich sah auf den Platz hinab. Es war Mittag, die Sonne strahlte in ihrem hellsten Glanze, ein Wesen tanzte auf dem Platze, ein Wesen, so schön, daß Gott es der heiligen Jungfrau vorgezogen und zu seiner Mutter gewählt haben würde, wenn es gelebt hätte, als er Mensch ward. Dieses Wesen tanzte im Strahl der Sonne, strahlender als sie. Sein Anblick bezauberte mich, ich konnte die Augen nicht wegwenden, ich fühlte, daß ein Zauber mich fesselte. Du, Mädchen, Du warst dieses Wesen.«

Der Priester athmete aus tiefer Brust und schwieg eine Weile. Dann fuhr er fort: »Ich war geblendet, ich wollte meine Augen wegwenden und vermochte es nicht. Ich rief mir die Fallstricke in's Gedächtniß zurück, die mir der Satan schon früher gelegt hatte. Vergebens, der Zauber war unbezwinglich. Das Wesen, das in meine Augen strahlte, besaß jene übernatürliche Schönheit, die nur vom Himmel oder von der Hölle kommen kann. Das war kein gemeines Wesen, aus ein wenig Erde zusammengeknetet und im Innern nur sparsam erhellt durch das flackernde Licht einer Weiberseele. Es war ein Engel, aber ein Engel der Finsterniß; ein Engel der Flamme, nicht des Lichts. So dachte ich; da erblickte ich neben Dir eine Ziege, ein Thier des höllischen Sabbaths; sie betrachtete mich mit höhnischen Blicken. Die Mittagssonne hatte ihr feurige Hörner gegeben. Jetzt zweifelte ich nicht mehr an den Fallstricken des Satans, er hatte Dich aus der Hölle gesandt, mich zu verderben. Ich glaubte es.«

Der Priester warf einen durchdringenden Blick auf die Gefangene und fügte kalt hinzu: »Ich glaube es noch. Der Zauber aber hatte bereits gewirkt. Dein Tanz hatte meine Sinne verwirrt, das Werk der Finsterniß vollendete sich in mir, ich fühlte es. Die himmlischen Hüter meiner Seele waren eingeschlafen, und ich gab mich mit Lust dem geheimnißvollen Zauber hin. Jetzt fingst Du an zu singen. Dein Gesang war noch bezaubernder als Dein Tanz. Fliehe, Elender, fliehe! Ich war an den Boden gefesselt. Meine Füße waren versteinert, wie der Boden, der sie trug. Der Zauber war stärker als ich. Er fesselte meine Augen, mein ganzes Wesen, bis Du aufhörtest zu singen und zu tanzen. Du warst verschwunden und noch verblendete der Zauber meine Augen, ich sah Deine verführerischen Tänze, ich hörte die schmeichelnden Töne Deines Gesangs. Halb sinnlos fiel ich in die Fenstervertiefung zurück. Die Vesperglocke weckte mich aus meinen Träumen. Ich erhob mich, ein anderer Mensch. Der Zauber der Hölle hatte mich ergriffen und mein Innerstes durchdrungen. Mein guter Geist war von mir gewichen. Die Hölle umgab mich mit ihren tausend Lockungen, ich konnte, ich wollte nicht fliehen.«

Der Priester hielt abermals inne und fuhr dann fort: »Von diesem Tage an war ein fremder, unsauberer Geist in mich eingezogen. Ich versuchte alle Mittel, ihn auszutreiben: Gebet, Kasteiung, Arbeit. Alles vergebens! Die Wissenschaft gewährte mir keinen Trost mehr, sie kämpfte umsonst gegen ein mit Leidenschaften erfülltes Gemüth. Nahm ich ein Buch zur Hand, so schwebte zwischen mir und ihm der Schatten der Tänzerin, das reizende Bild der Sängerin.

»Der Zauber verfolgte mich auf jedem Schritt, immer wiedertönte Dein Gesang in meinen Ohren, immer sah ich Deine Füße in der Luft schweben. Da beschloß ich Dich aufzusuchen, Dich noch einmal zu sehen, das Ideal mit der Wirklichkeit zu vergleichen, Fleisch und Bein zu berühren, und so vielleicht den höllischen Zauber zu zerstören. Ich sah Dich wieder. Unglückseliger! Nachdem ich Dich zweimal gesehen, wollte ich Dich tausendmal sehen, Dich für immer besitzen. Jetzt war kein Halt mehr auf dem abschüssigen Pfad, der zur Hölle führt. Die Flügel meines Geistes waren mit Stricken der Hölle gefesselt. Ich irrte unstet herum, gleich Dir. Ich wartete auf Dich unter den Hallen, ich suchte Dich in den Straßen, ich schaute nach Dir von der Höhe meines Thurmes. Jeden Abend kehrte ich bezauberter, verzweifelter, verlorener in meine Zelle zurück.

»Ich wußte jetzt, wer Du warst: Aegypterin, Zigeunerin, Zitterspielerin. Wie konnte ich noch an Zauberei zweifeln? Höre! Ich hoffte durch einen Prozeß den Zauber zu lösen. Eine Hexe hatte Bruno d'Ast bezaubert, er ließ sie verbrennen und war geheilt. Das wußte ich und wollte das nämliche Mittel versuchen.

»Ich wollte Dich aufheben und dem heiligen Amte übergeben. Ich versuchte es in einer finstern Nacht. Wir waren unser Zwei. Wir hielten Dich bereits fest, da kam jener elende Soldat und befreite Dich. Hier fing Dein und mein Unglück an, ebenso auch das seinige.

»Jetzt gab ich Dich beim heiligen Officium als Zauberin an, und hoffte dadurch den Zauber zu bannen, wie Bruno d'Ast. Auch schwebte mir verwirrt der Gedanke vor, daß Dein Prozeß Dich in meine Hände geben, daß die Mauern eines Kerkers Dich mir überliefern würden, daß Du da gebannt seiest und mir nicht entgehen könnest. War ich so lange Zeit von Dir besessen, so wollte ich Dich jetzt besitzen. Wer Böses thut, der thue es ganz. Ein Schwächling, der auf halbem Wege stehen bleibt! Ein vollendetes Verbrechen ist berauschend. Ha! ein Priester und eine Hexe im Kerker auf einem Bund Stroh, im Taumel der Wollust!

»Ich gab Dich dem heiligen Officium an. Doch hielt ich den Sturm noch zurück. Mein Plan hatte so furchtbare Seiten, daß sie mich selbst mit Schrecken erfüllten. Vielleicht hätte ich ihm entsagt, vielleicht hätte der schreckliche Gedanke keine Frucht getragen. Es lag ja in meiner Macht, dem Prozeß Folge zu geben, oder ihn abzubrechen. So glaubte ich. Doch böse Gedanken werden zur bösen That. Das Schicksal ist stärker, als der menschliche Wille. Das allgewaltige Fatum hat Dich und mich erfaßt. Was ich im Finsteren schmiedete, ist zur offenen That geworden. Höre mich! Ich bin am Ende.

»Eines Tages geht ein Mensch an mir vorüber, er nennt Deinen Namen, er lacht mit verbuhlten Blicken. Himmel und Hölle! Ich folge ihm. Das Uebrige weißt Du.«

Der Priester schwieg. Das Mädchen konnte nur das einzige Wort finden: »Phöbus!«

»Nenne diesen Namen nicht!« rief der Priester heftig aus und faßte sie gewaltsam am Arm. »Nicht diesen Namen! Er zerreißt meine Ohren. Durch ihn sind wir beide elend. Bist Du nicht leidend? Frierst Du nicht? Umhüllt Dich nicht die Nacht des Kerkers? – Und doch bist Du noch glücklich, wäre es auch nur durch Deine kindische Liebe zu diesem hohlen Kopfe, der mit Deinem Herzen spielte! Mein Kerker wohnt in mir selbst, in meinem Innern ist es Winter, Eis, Verzweiflung. Ich trage die Nacht in meiner Seele. Du begreifst nicht, was ich leide. Ich habe Deinem Prozesse angewohnt. Ich saß auf der Bank des heiligen Officiums. Unter meinem Priesterrock litt ich die Qualen eines Verdammten. Als man Dich hereinführte, saß ich da; als man Dich verhörte, saß ich da. Oh! des Himmels Fluch über diese Tigerhöhle! Es war mein Verbrechen, es war mein Galgen, den ich langsam auf Deiner Stirne aufrichten sah. Bei jedem Zeugen, bei jedem neuen Beweise saß ich da, ich konnte jeden Schritt in Deiner Schmerzensbahn zählen. Und die Folter! Ich war da, als jenes Scheusal in Menschengestalt . . . Ich sah Dich entkleiden und von den rohen Händen der Henkersknechte anfassen, ich sah Deinen Fuß in den Block spannen . . . Da faßte ich den Dolch, den ich unter meinem Priesterrocke trug, und grub ihn tief in mein Fleisch. Sieh her, noch blutet meine Brust.«

Der Priester öffnete sein Kleid, und noch floß das Blut aus einer weiten Wunde. Die Gefangene schauderte zurück.

»Mädchen,« fuhr der Priester fort, »habe Erbarmen mit einem Elenden! Du hältst Dich für unglücklich; Du weißt nicht, was Unglück ist. Ein Weib lieben, Priester sein, gehaßt werden! Dieses Weib lieben, mit der ganzen Kraft seiner Seele, für ein Lächeln ihres Mundes sein Blut, sein Eingeweide, seinen Ruf, dieses und jenes Leben, Seele und Seligkeit hingeben, bedauern, daß man nicht König, Kaiser, Erzengel, Gott ist, um einen mächtigeren Sklaven zu ihren Füßen zu legen, Tag und Nacht wachend und träumend an sie denken, und nun die Qual, die Höllenpein zu sehen, daß sie ihre göttliche Liebe an die Livrée eines Soldaten wegwirft! Und ich! was habe ich ihr zu bieten? Meinen schmutzigen Priesterrock, der sie mit Furcht und Ekel erfüllt! Zusehen müssen, mit eigenen Augen, die nagende Eifersucht im Herzen, wie sie an einen jämmerlichen Wicht Schätze der Liebe und Schönheit verschwendet, diese himmlische Gestalt in den Armen eines Andern! Das ist mehr, als das glühende Eisen des Henkers! Man zersäge meinen Leib zwischen zwei Brettern, man lasse mich durch wilde Rosse in vier Stücke zerreißen! Ich habe mehr als dieses erduldet!«

Der Priester stieß verzweiflungsvoll seinen Kopf gegen die Mauern des Kerkers; er wälzte sich wie ein Wahnsinniger auf dem feuchten Boden. Als er, erschöpft und athemlos, schwieg, wiederholte das Mädchen mit lispelnder Stimme: »Phöbus!«

»Nicht diesen Namen!« rief der Priester mit furchtbarer Stimme. »Dieses Wort aus Deinem Munde durchdringt alle Fasern meines Herzens. Höre mich! Bist Du aus der Hölle, ich folge Dir dahin. Mein Paradies ist, wo ich Dich erblicke. Dich will ich anschauen, nicht Gott in seiner Herrlichkeit! Nein, es ist nicht möglich, ein Weib kann eine solche Liebe nicht von sich stoßen! Leichter wäre es, Berge zu versetzen. Du liebst mich, Du mußt mich lieben! Fort von hier, laß uns fliehen, in ferne Lande, unter den südlichen Himmel, wo die Natur ewig jung und grün ist. Dort wollen wir uns lieben, dort wollen wir Herz und Seele tauschen,«

Das Mädchen, wie aus einem Stumpfsinn erwachend, lachte laut und schrecklich auf: »Seht doch her, ehrwürdiger Vater! Ihr habt Blut an den Händen.«

Der Priester stand eine Weile wie versteinert, das Auge auf die Hand geheftet. Dann sagte er mit sanfter Stimme: »Recht so, beleidige mich, höhne mich; aber komm, Eile thut noth. Morgen, morgen, sage ich Dir! Du kennst den Galgen auf dem Grèveplatz? Er steht immer furchtbar bereit. Ich sehe Dich die Stufen hinaufsteigen. Gnade! Gnade! Fort, fort von hier! Erst will ich Dich retten, dann sollst Du mich lieben lernen. Hasse mich, so lange Du willst. Aber fort! Morgen! der Galgen! Rette Dich und mich!«

Der Priester faßte sie am Arme, heftete Blicke des Wahnsinns auf sie, wollte sie fortreißen.

Sie starrte ihn halb bewußtlos an: »Was ist aus meinem Phöbus geworden?«

»Ah!« rief der Priester aus und ließ ihren Arm los, »Du kennst kein Erbarmen!«

»Was ist aus meinem Phöbus geworden?« wiederholte sie eintönig.

»Er ist todt!« schrie der Priester.

»Todt! warum sollte ich dann leben?«

»Ja,« sprach der Priester, wie in Gedanken verloren, »er muß todt sein. Ich habe den Dolch tief in seine Brust gedrückt. Seine Spitze drang bis zu seinem Herzen, ich lebte in dem kalten Eisen!«

Die Augen des Mädchens warfen plötzlich Flammen aus, sie stürzte sich mit übernatürlicher Kraft auf den Priester und stieß ihn nieder auf den kalten Stein,

»Fort, Ungeheuer! Fort, Meuchelmörder!« rief sie wüthend. »Laß mich hier allein sterben! Nicht im Himmel, nicht in der Hölle will ich mit Dir sein! Hebe Dich weg von mir, Verfluchter!«

Der Priester blieb einen Augenblick am Boden sitzen, dann stand er langsam, schweigend auf, nahm seine Laterne und stieg die Stufen der Treppe hinan. Unter der Thüre wendete er das Haupt und rief mit hohler Grabesstimme in den Kerker hinab: »Ja, ich sage Dir, er ist todt!«

Das Mädchen fiel mit dem Gesicht zur Erde nieder, und jetzt hörte man in dem dunkeln Kerker kein anderes Geräusch mehr, als den Wassertropfen, der in abgemessenen Zwischenräumen in die Vertiefung fiel.


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