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15. Kapitel.

Hempel lag noch im Bett, als am anderen Morgen Gabler ohne Anmeldung bei ihm eintrat. Er sah matt und abgehetzt aus.

Hempel richtete sich bestürzt auf.

»Wie – ist es denn schon so spät? Sollte ich verschlafen haben?«

»Nein, es ist erst 6 Uhr. Aber ich hatte keine Ruhe mehr, ehe ich nicht Ihre Meinung weiß und Gewißheit habe –«

»Gewißheit? Worüber?«

»Ob Albert Storch noch in Monplaisir weilt oder nicht!«

Jetzt war Hempel mit einem Satz aus dem Bett und fragte, während er sich in fliegender Hast anzukleiden begann: »Was soll das heißen? Sie glauben doch nicht, daß er sich …«

»Davongemacht hat? Hm, ich fürchte es beinahe nach dem, was die rote Poldi nicht – merken lassen wollte.«

»Was ist dies? Haben Sie etwas Belastendes gefunden bei der Hausdurchsuchung?«

»Nicht das Mindeste. Das hieß nichts, das die Wampl belasten könnte, und doch etwas, das für uns von großer Wichtigkeit sein kann. Mitten in dem armseligen Kram ihrer Habe fand ich nämlich einen Papierstreifen, auf dem groß und deutlich geschrieben stand: »F. N. Whitechapel, Road 27, London«. Als ich Poldi um dessen Bedeutung fragte, wurde sie sehr verlegen. Es sei die Adresse einer Freundin, mit der sie einmal gedient habe und die später mit ihrer Herrschaft nach London übersiedelte. Fanny Nowak heiße sie … Aber als ich den Zettel umdrehte, ergab sich, daß er von einer Zeitung abgerissen war, wo noch die Hälfte des Datums darauf gedruckt war. 8. Juni 19.., also eine Zeitung von gestern! Wenn ich dazu an Poldis Tränen gestern Nacht denke, kann ich mich des Gedankens nicht entschlagen, daß Nebe sich mit Reisegedanken trägt und seine Geliebte mit diesem Zettel verständigte.«

Hempel war mit seiner Toilette fertig und läutete Sturm. Gellend klang die Klingel durch das Haus, aber niemand erschien.

»Kommen Sie, Gabler, wir wollen uns sofort Gewißheit verschaffen.«

Im Flur stand ein fremder Diener in dunkler Livree und putzte an der Silbertablette herum, worauf den Damen täglich das Frühstück serviert wurde.

»Sie sind vermutlich der Diener der Frau Hofrätin? Wissen Sie nicht, wo der Kammerdiener Friedrich ist?«

Der Bedienstete schüttelte erstaunt den Kopf.

»Ich kam erst gestern abend hierher und habe seitdem noch keinen Diener im Hause gesehen. Wünscht der gnädige Herr etwas?«

»Nein, danke.«

Hempel gab Gabler einen Wink und beide stiegen unruhig die Treppe zur Mansarde hinauf. Mit Zentnerschwere legte sich die Erinnerung an der Hofrätin Worte: »Wir haben Friedrich den ganzen Nachmittag nicht zu Gesicht bekommen« auf Hempels Brust.

Warum hatte er dieser Bemerkung keine Aufmerksamkeit geschenkt!

Friedrichs Tür war verschlossen. Auf Gablers Klopfen erfolgte keine Antwort, worauf der Detektiv kurz entschlossen einen Sperrhaken herauszog und das Schloß öffnete.

Das Zimmer war leer.

»Wie ich mir dachte! Der saubere Vogel merkte, daß man ihm nachspürte, und flog in aller Stille davon,« brummte Gabler. »Vermutlich ist er schon morgen in London, bringt seinem Auftraggeber, Tiersteiner, den Stern Nr. 300 und holt sich seinen Lohn … es ist zum Närrischwerden!«

»Ja,« entgegnete Silas, zerstreut im Zimmer herumgehend und alles genau betrachtend, es ist sehr fatal. Besonders, da wir ihn noch hätten erwischen können, wenn ich nur etwas weniger unaufmerksam gewesen wäre!«

Gabler war neben dem Tisch stehen geblieben und wies mit bitterem Lächeln auf eine dort liegende Nummer des Wiener Extrablattes, von deren oberen Rand ein Streifen abgerissen war.

»Da ist die Zeitung, von der er den Zettel abriß für die der Poldi zurückgelassene Adresse!«

Hempel kam plötzlich ein Gedanke.

»Folgen Sie mir in den Park, Gabler. Wir wollen noch einmal beide genau die Zeugkammer untersuchen, in der er damals verschwand, um mich nachher so zu düpieren. Ich bin überzeugt, er hatte dort etwas versteckt, das er holen wollte, als mein Dazwischenkommen ihn störte. Möglich, daß wir einen Anhaltspunkt finden.«

Sie begaben sich in den Park und durchforschten zunächst das Gebüsch, in dem sich die Wassertonne befand. Es ergab sich nichts Verdächtiges, wohl aber fiel Silas auf, daß man von hier aus nicht nur die Zeugkammer, sondern die ganze Rückfront des Hauses samt den Stallungen, Glashäusern und dem dazwischen liegenden Kiesplatz prächtig übersehen konnte.

»Aha – er hat also von hier aus, durch die Büsche gedeckt, den Moment abgewartet, wo er unbemerkt zur Zeugkammer hinüber schleichen konnte! Sehen wir weiter!«

In der Zeugkammer konnte Hempel genau wie das erste Mal anfangs nichts Verdächtiges bemerken. Gartengeräte, Werkzeuge, Gerümpel, ein alter wurmstichiger Tisch und ein leeres Faß bildeten den Inhalt.

Schon wollten sie sich entfernen, da kam Hempel noch der Gedanke, das leere Faß zur Seite zu rücken. Der sonst überall harte Lehmboden war hier etwas angefeuchtet und offenbar erst vor kurzer Zeit glatt gestampft worden.

»Halloh! – Hier hat jemand gegraben!«

Gabler kniete schon am Boden und wühlte diesen mit einem Pflanzenstecher auf. Es bedurfte keiner besonderen Mühe. Eine ganz dünne Schicht Lehmerde, dann kam der Deckel einer Blechkassette zum Vorschein, welche offenbar als Depot für verschiedene Dinge gedient haben mochte, denn es fanden sich am Boden derselben verstreut zwei Zigaretten feinster Sorte, eine echte Havanna, Briefmarken und einige Scheidemünzen vor. Obenauf aber lag, sorgfältig in Seidenpapier gehüllt, ein länglicher Gegenstand.

Hempel griff hastig danach. Im nächsten Moment starrten er und Gabler einander sprachlos an.

In dem Seidenpapier lag ein Revolver aus Marzipanmasse, um welchen ein Zettel gebunden war. Darauf stand: »Dies die Mordwaffe, mit der ich den Obersten erschossen habe. Wer sie findet, möge sie samt dem Zettel an Silas Hempel, Privatdetektiv, Bernardgasse 7, abgeben. Desgleichen die Reste meiner Vorräte, die ich hier abzulagern pflegte, da der Oberst sehr mißtrauisch war und man daher nicht gut im Wohnhause selbst das aufbewahren konnte, was er nach meiner Ansicht zu viel besaß. Das Depot ist trocken, ich hoffe also, daß die Havanna nicht gelitten hat und Herrn Hempels Neugierde nun – gestillt ist. Wenn nicht, so stehe ich ihm in Amerika weiter zu Diensten, vorausgesetzt, daß er das gleiche Verlangen nach einer Seereise empfindet wie ich momentan.«

»Das ist denn doch eine beispiellose Frechheit!« stieß Gabler endlich blaß vor Wut heraus. »Er wagt es noch, sich über uns lustig zu machen! Aber warte nur, mein Bursche, du bist noch nicht in Amerika!« Er sah Hempel an. »Sie sind doch einverstanden damit, daß ich den ersten Expreßzug benutze, um ihm nachzureisen?«

»Wenn Sie wissen, wo er ist, gewiß!« gab Silas trocken zurück.

»Nun ich denke, das wissen wir – Whitechapel Road –«

»O, Sie trauen diesem geriebenen Menschen doch nicht im Ernste die Unvorsichtigkeit zu, uns seine wahre Adresse so sorglos zurückzulassen!«

»Sie meinen –«

»Daß Leopoldine Wampl tausend Briefe nach Whitechapel Road schreiben kann, ohne daß ein einziger den Adressaten erreichen würde. Er wußte ganz gut, daß man sich zuerst an seine Geliebte halten wird, darum eben ließ er jene Adresse absichtlich dort. Er unterschätzt uns aber doch ein wenig.«

»So glauben Sie, daß er gar nicht nach Amerika will?«

»Natürlich nicht. Was sollte er auch dort. In Amerika gibt es genug Gauner, die viel smarter sind als er und das Publikum ist entschieden mehr auf seiner Hut vor Betrügern als anderswo. Außerdem sind die Landungsvorschriften sehr streng. Man verlangt da eine Menge Dinge zu wissen, die Herrn Nebe sehr unangenehm wären. Nein – Amerika ist längst nicht mehr ›Mode‹ unter seinesgleichen. Man geht jetzt nach dem Orient, nach Afrika – wenn man viel Geld hat, nach Australien oder Polynesien, wo man sehr bequem verschwinden kann … wenn man es nicht überhaupt vorzieht, ruhig daheim zu bleiben.«

»Ich halte es mindestens nicht für ausgeschlossen. Zwischen zwei Millionen Menschen kann man sich immerhin mit einiger Geschicklichkeit verborgen halten, besonders wenn man sich auf Grund einer falschen Fluchtadresse einbildet, die ganze Behörde sei auf den Beinen, einen in London oder Amerika zu suchen.«

»Und was sollen wir jetzt tun?«

»Nichts! Den Haftbefehl hübsch bei der Hand halten und warten. Frank Tiersteiner muß doch eines Tages nach Wien zurückkehren und die Engländerin ist allem Anschein nach auch noch hier. Ist unsere Voraussetzung richtig, so müssen diese drei Verbündeten sich irgendwie miteinander in Verbindung setzen. Lassen wir den Kammerdiener also vorläufig beiseite und suchen wir die geheimnisvolle Engländerin.«

»Was ist's mit London? Soll ich nicht doch hin, um zu ermitteln, ob Frank Tiersteiner zur Zeit des Mordes wirklich in England war?«

»Nein. Ich habe mir die Sache überlegt und bereits gestern abend ein Telegramm aufgesetzt, das ich diesbezüglich an einen Londoner Kollegen absenden will. Ich glaube übrigens nicht, daß der alte Tiersteiner den Mord selbst begangen hat.«

»Wenn man nur wüßte, welche Rollen seinen Verbündeten zugewiesen waren? Ist die Frau die Mörderin und fungierte Nebe nur als Helfer und Aufpasser oder – umgekehrt?«

Ein seltsames Lächeln huschte über Hempels Gesicht.

»Ich habe einen Plan, von dem ich hoffe, daß er uns darüber Gewißheit verschaffen wird,« sagte er geheimnisvoll. »Aber nun, lieber Gabler, will ich Ihnen vor allem das Telegramm für London übergeben, damit Sie es sogleich expedieren lassen. Ich selbst will mich zu den Damen des Hauses begeben, um ihnen das Verschwinden Nebes zu melden. Selbstverständlich lassen wir alle Welt bei dem Glauben, Herr Friedrich sei lediglich wie die anderen Dienstboten aus – Gespensterfurcht entflohen.«

An diesem Tage erschien Silas Hempel plötzlich wieder einmal in seiner Privatwohnung. Kata, die sich heimlich immer in Angst verzehrte um ihn, wenn er tagelang abwesend war, ohne daß sie wußte, wo er sich befand, stieß einen lauten Freudenschrei bei seinem Anblick aus.

Denn so kratzborstig die Alte im täglichen Verkehr auch ihrem Herrn gegenüber war – sie keifte und brummte meist den lieben langen Tag – im Grunde war sie doch eine gute Seele, die mit wahrhaft hündischer Treue an ihm hing.

Hempel wußte ganz gut, daß sie keine ruhige Stunde hatte, wenn er fort war. Sie putzte und scheuerte dann mürrisch in der Wohnung herum, stillte ihren Hunger mit einem Stück trockenen Brote und träumte unausgesetzt von Dieben und Mördern, die ihrem Herrn nach dem Leben trachteten, weil er so scharf hinter ihnen her war.

Kehrte er dann unversehrt zurück, so wußte sie ihre überschwängliche Freude nicht anders auszudrücken, als daß sie ihm eine ganze Stufenleiter seiner Lieblingsgerichte kochte, die genügt hätte, zehn Personen tagelang vor dem Hungertod zu bewahren.

So machte sie es heute.

»Na, nichts neues, Kata?« fragte Hempel.

»Nichts. Doch! Die jungen Schwarzblättchen sind ausgekrochen!«

»Ah, wirklich? Da muß ich doch gleich mal nachsehen! War jemand hier in meiner Abwesenheit?«

Auf diese Frage erhielt Silas keine Antwort mehr. Als er sich umwandte, war Kata verschwunden, während draußen in der Küche ein großes Rumoren begann.

Töpfe und Kasserollen klapperten, die Herdringe flogen klirrend über die Platte, gleich darauf knatterte und prasselte Feuer in der Esse.

Hempel aber schritt lächelnd in den Salon, aus dem ihm munteres Zwitschern und Tirilieren entgegenklang.

Wer Silas nun so mit warm leuchtenden Augen, ein zärtliches Lächeln um die schmalen Lippen, von Käfig zu Käfig schreiten sah, Mehlwürmer, Ameiseneier und Pignolen an seine Lieblinge verteilend, der hätte in ihm weder den scharfen Denker noch den unerbittlichen Verfolger jeglichen Unrechts wiedererkannt.

Eine halbe Stunde gab er sich ganz dem Zauber dieser harmlosen Beschäftigung hin, dann begrüßte er Murx, der wie gewöhnlich schnurrend am Sofa im Schlafzimmer lag und erstaunt blinzelnd den Störer seiner Ruhe maß.

Zuletzt verschloß er sorgsam beide Türen und begann ein geheimnisvolles Treiben, das Murx derart beunruhigte, daß er schließlich mit einem Satz unter dem Sofa verschwand.

Kata stand indessen mit hochroten Backen und funkelnden Augen vor ihrem Küchenherd. Überall darauf brodelte, zischte und briet es, den Raum mit verheißungsvollen Düften erfüllend.

Plötzlich fuhr sie erschrocken zusammen. Specksalat aß er ja so gerne! Aber sie hatte unglücklicherweise – obwohl sie sonst stets wohlversorgt im Eisschrank und Speisekammer Vorräte bereit hielt für derartiges plötzliches Heimkehren ihres Herrn – heute keinen Salat zu Hause!

Indessen der Grünzeughändler wohnte nebenan! Wie der Blitz flog Kata die Treppe hinab, um fünf Minuten später mit zwei prächtigen Salatstauden wiederzukehren.

Bei dieser Rückkehr rannte sie an einen ältlichen Herrn mit grauem Vollbart an, der unstäte Blicke um sich warf und trotz seiner netten Kleidung gar nicht sehr vertrauenerweckend aussah.

»Alter Esel!« stieß Kata unwirsch heraus, denn er hätte ihr den Salat beinahe zerdrückt.

»Entschuldigen Sie, Madame,« begann der Herr erschrocken mit dünner ängstlicher Stimme. »Ich kann wirklich nicht dafür …«

Kata hörte gar nicht weiter hin. Es war ihr eingefallen, daß die junge Ente schleunigst begossen werden mußte, wenn sie nichts an ihrer Knusprigkeit einbüßen sollte. Und knusprig allein liebe sie Hempel –

Sie wurde denn auch zuletzt knusprig wie Glas und Kata lächelte wohlgefällig auf ihr Werk nieder.

Mit einer Geschwindigkeit, die man ihren alten Knochen gar nicht zugetraut hätte, stellte sie alles zum Tischdecken Nötige auf ein Tablett zusammen und eilte damit in Hempels Schlafzimmer.

Aber wie angewurzelt blieb sie neben dem Tische stehen – wo war denn der Herr? Die Tür zum Nebenzimmer stand offen, beide Räume waren leer. Hut, Stock und Handschuhe, mit denen er gekommen war, lagen auf einem Stuhl – Hempel selbst fehlte.

Kata begann verzweifelt jeden Raum der kleinen Wohnung zu durchsuchen, sie blickte sogar unter die Möbelstücke – Silas Hempel blieb spurlos verschwunden!

Endlich begriff sie: Er war offenbar, ganz beherrscht von einer Idee, die ihn gerade beschäftigte, wieder fortgegangen, ohne an Kata oder deren kulinarische Kunstwerke auch nur zu denken!

Nicht zum erstenmal führte er diesen Streich auf!

Kata ballte zornig die Hände, dann fing sie wie wütend zu heulen an. In diesem Augenblick haßte sie Hempel beinahe …

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