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10. Kapitel.

Hempel kehrte von der Botschaft nicht gleich nach Monplaisir zurück, sondern setzte sich im Stadtpark an einen Tisch des Café »Kursalon« und ließ sich Zeitungen bringen.

Natürlich gab es überall spaltenlange Berichte über den in Dornbach an dem »englischen Obersten« verübten Mord.

Die unglaublichsten Vermutungen wurden angestellt. Vom höchsten Gipfel der Romantik bis herab zu den gemeinsten Motiven erörterten die Blätter den tragischen Tod des Obersten.

Und Hempel las alles mit unermüdlicher Geduld. Dazwischen nahm er, unbekümmert um die feine Gesellschaft ringsum, die ihn lächelnd oder naserümpfend betrachtete, eine Prise um die andere.

Während er den absurden Klatsch in den Zeitungen las, arbeitete sein Gehirn angestrengt. Mehr als einmal war ihm unter ähnlichen Umständen gerade durch das abenteuerliche, sensationslüsterne Gewäsch irgend eines Reporters eine Kombination eingefallen, welche sich später als richtig erwies.

Diesmal lagen allerdings die Tatsachen noch viel zu weit auseinander, um mit Glück ans Kombinieren gehen zu können.

Indessen sollte er, angeregt durch eine Notiz im »Wiener Extrablatt«, doch seine Zeit nicht ganz umsonst verloren haben.

Die Notiz lautete: »Ein ganz neues Licht auf die Ereignisse, welche der Ermordung Oberst Hendersons vorausgingen, wirft die Aussage einer Holzklauberin, die spät abends vom Galizienberg herabkam und folgendes bemerkt haben will: Unweit des Parktores der Villa Monplaisir stand ein geschlossener Wagen, dem sich eben, als die Frau vorüberging, ein junges Paar, zärtlich Arm in Arm gehend, näherte. Beide kamen aus dem Park von Monplaisir heraus, blickten sich ängstlich nach allen Seiten um und waren sichtlich bemüht, nicht gesehen zu werden. Obwohl die junge Dame bis zur Unkenntlichkeit verschleiert war, trat sie doch ganz in den Schatten der Bäume zurück, als die Holzklauberin vorüberging. Es wäre demnach nicht unmöglich, daß Richard Tiersteiner, der Fräulein Henderson bekanntlich liebte, eben im Begriff stand, die junge Dame zu entführen, dabei aber noch rechtzeitig von dem Obersten überrascht wurde. Die nun folgende Szene endete dann vermutlich mit der Ermordung des beleidigten Vaters …«

Hempel las die geistreichen Ausführungen nicht weiter. In seinen bis dahin gleichgültig dreinblickenden Augen aber zuckte plötzlich ein heller Strahl auf.

Daß er daran nicht früher gedacht hatte? Natürlich – Harriet hatte mit Tiersteiner bei jenem geheimnisvollen nächtlichen Ausflug doch sicher einen Wagen benutzt, und der Kutscher desselben mußte sich noch erinnern, wohin er das Paar gefahren hatte!

Sogleich setzte Hempel eine Notiz auf, worin der Kutscher, welcher am 30. Mai nachts einen Herrn zur Villa Monplaisir geführt und von dort eine Dame abgeholt hatte, aufgefordert wurde, sich zu melden. Die Verheißung eines reichlichen Trinkgeldes, sowie Hempels Privatadresse bildeten den Schluß der Notiz.

Er zahlte, winkte einen eben langsam vorüberfahrenden Einspänner heran und fuhr zuerst in die Redaktion des »Extrablattes«, da dieses in Kutscherkreisen vorwiegend gelesen wird. Aus Vorsicht inserierte er auch in der Kronen-Zeitung.

Nachdem die Notiz aufgegeben war, ließ sich Hempel in die Bernardgasse fahren, um Kata zu instruieren. Sie sollte den Mann, wenn er sich meldete, unverzüglich nach Dornbach schicken, ihm die Fahrt vergüten und auftragen, daß er nicht zur Villa fahren, sondern Hempel durch einen Boten zu dem nächsten Wirtshaus rufen lasse, wo er mit seinem Gefährt warten solle.

Bei dieser Gelegenheit packte Silas eine Anzahl Kleidungsstücke, Perücken und sonstige Toilettengegenstände, welche er brauchte, um sein Äußeres zu verändern, in einen Reisesack, den er mitnahm.

Es war sehr leicht möglich, daß er genötigt sein würde, Harriet unerkannt zu verfolgen.

Wenn sie, wie Hempel bestimmt annahm, in irgend einer Verbindung mit der rätselhaften Frau im sandfarbenen Kleid stand, so war zehn gegen eins zu wetten, daß sie nun, wo er deren Eindringen in den Park entdeckt hatte, die erste Gelegenheit benutzen würde, um sie zu warnen.

Hempel hatte darum auch, als er Monplaisir erließ, einen jungen Detektiv namens Gabler, von dessen Eifer und Intelligenz er sich mehrmals überzeugt hatte, mit diesbezüglichen Aufträgen an den Parkeingang geschickt.

Gabler hatte sein Fahrrad mit und den strengen Auftrag, Fräulein Henderson, wenn sie zu Fuß oder Wagen die Villa verlassen sollte, zu folgen.

Es war noch heller Tag, als Silas die Dornbacher Villa wieder erreichte. An einer der großen Kastanien, welche zu beiden Seiten der Straße den Gehweg beschatteten, lehnte auch wirklich Gabler mit seiner Maschine.

Er hatte seinen Standpunkt so gewählt, daß er das Portal wohl im Auge haben, von dort aus aber nicht bemerkt werden konnte.

»Nun – etwas Neues?« fragte Hempel, auf ihn zutretend.

»Nichts. Die Damen sind etwa eine halbe Stunde im Garten promeniert, gingen dann aber in das Haus zurück. Ausgegangen ist niemand. Wie lange soll ich auf dem Posten bleiben?«

»Sie können jetzt nach Hause gehen, Gabler. Ihre Maschine lassen Sie mir da. Ich werde sie mir irgendwo im Garten verstecken, um sie zur Hand zu haben. Morgen früh um acht Uhr finden Sie sich wieder ein und verständigen mich durch unser gewöhnliches Signal – einen Pfiff durch die Finger. Wenn ich auch nicht herabkomme, so weiß ich doch, daß Sie auf dem Posten sind.«

»Sehr wohl, Herr Hempel.«

»Noch eins. Haben Sie ein Auge auf den Kammerdiener des ermordeten Obersten, vielleicht gelingt es Ihnen, sich mit ihm bekannt zu machen.«

»Das wird wohl nicht schwer halten.«

»Nun, wer weiß? Der würdige Herr scheint mir sehr gerieben.«

Hempel erreichte sein Zimmer gerade, als man zum Diner läutete. Er warf rasch einen schwarzen Rock über, nahm einen frischen Kragen und ging in den Speisesaal hinüber, wo ihn Harriet und die Hofrätin bereits erwarteten.

Harriet war auch jetzt schweigsam und zerstreut. Dabei von einer undefinierbaren, mehr durch das Gefühl als durch die Sinne wahrnehmbaren Erkältung Hempel gegenüber.

Zuweilen kam es ihm vor, als ruhe ihr Blick verstohlen auf ihm in einem Gemisch von Furcht und Abneigung. Er konnte sich diesen sonderbaren Umschwung in Harriets Benehmen um so weniger erklären, als sie noch am Vormittag voll Vertrauen gegen ihn gewesen war.

Sollte sie ihm nachträglich zürnen, weil er ihr noch einmal Richard Tiersteiners bedrängte Lage nahegelegt und ihr das Gefährliche ihres beharrlichen Schweigens in Erinnerung gebracht hatte?

Oder fürchtete sie seine weiteren Nachforschungen in bezug auf die geheimnisvolle Frau, von der sie offenbar mehr wußte, als sie zugeben wollte?

Beim Dessert sagte Harriet plötzlich, die Hofrätin bittend ansehend: »Nun, Liebe, hast du dir die Sache mit Dalmatien überlegt? übermorgen früh geht ein Schnelldampfer von Triest ab. Wenn wir morgen abend nach meines Vaters Beerdigung abreisen, können wir ihn gerade noch erreichen.«

»Ja, mein Herz – aber ich gebe dir noch einmal zu bedenken, ob es korrekt ist, jetzt gerade abzureisen? Der arme Tiersteiner …? Die Hofrätin hatte zögernd gesprochen, als sei sie von diesem Reiseplan nicht sehr begeistert. Mit einem unschlüssigen Blick auf ihre junge Freundin brach sie ab.

Harriet spielte nervös mit einer Rose, die sie der auf der Tafel stehenden Jardiniere entnommen hatte.

»Ich habe mir das alles bereits selbst gesagt, liebe Alice. Aber wir können Richard doch nun einmal nicht helfen … seine Unschuld wird und muß an den Tag kommen! Indessen, dieses tatenlose Warten … die Neugier der Leute … der Aufenthalt in diesem schrecklichen Hause, das nur bittere Erinnerungen birgt, ist unerträglich!«

Hempel hatte zugehört wie aus den Wolken gefallen.

»Sie wollen wirklich fort – jetzt fort, Fräulein Henderson, wo man Ihr Zeugnis bei hundert Gelegenheiten brauchen wird, wo ich …«

Sie unterbrach ihn ungeduldig, indem sie ihm einen trotzigen Blick zuwarf.

»Sie werden Ihre Nachforschungen viel erfolgreicher führen können, wenn ich nicht mehr hier bin. Mein Zeugnis ist nirgends von Belang – alle Auskünfte, welche Sie brauchen, kann Ihnen die Dienerschaft ebensogut geben, und ich sehne mich so grenzenlos nach Ruhe! Ich – ich will all diesen peinlichen Dingen – – entrückt sein …«

Jetzt begriff er. Sie wollte nicht bloß lästigen Fragen entgehen, sondern auch jene Person, die sie und Tiersteiner offenbar durch ihr Schweigen deckten, allen Nachforschungen entziehen! Darum würden diese sich dann »erfolgreicher« gestalten.

Ganz genau las er in ihrem Blick, was sie heimlich dachte: du bist schlau und geschickt, du wirst das Geheimnis entdecken und Richard dadurch retten. Du mußt und sollst dies tun – ich aber muß ebenso gewiß dein Opfer inzwischen in Sicherheit bringen. Von Dalmatiens Küste aus gibt es zahlreiche Möglichkeiten, sich nach irgend einer Himmelsrichtung hin spurlos zu verlieren … Dann liegt mir nichts mehr an deinen Entdeckungen – –

Er richtete den Blick fest auf Harriet.

»Sie laden damit eine große Verantwortung auf sich,« sagte er langsam. »Sind Sie sich dessen bewußt?«

»Völlig« – sie erhob sich –, »aber ich halte es so nicht länger aus. Wollen Sie mich übrigens etwa hindern?«

»Nein. Dazu habe ich kein Recht.«

Sie reichte ihm mit plötzlich aufwallender Herzlichkeit die Hand.

»Ich danke Ihnen. Und nun gute Nacht – ich habe noch zu tun.«

Man trennte sich.

Auch Hempel hatte noch »zu tun«. Er durchschaute nun Harriets Pläne so deutlich, als habe sie ihm dieselben mitgeteilt, und traf seine Maßnahmen danach. In seinem Zimmer angekommen, zog er einen schlichten, dunklen Anzug an, setzte eine Schirmmütze auf, wie Arbeiter sie tragen, und stülpte eine dunkle Perücke, an der ein kurzer, struppiger Vollbart befestigt war, über seinen blonden Kopf.

Dann begab er sich leise in den Garten, holte die dort von ihm verborgene Maschine Gablers heraus, öffnete das Gittertor, das er wieder sorgfältig hinter sich verschloß, und schritt mit dem Fahrrad auf die gegenüberliegende Straßenseite. Dort wartete er. Denn sicher würde Harriet heute noch ihren Schützling über die bevorstehende Flucht instruieren.

Unter den Kastanien herrschte pechschwarze Finsternis, nur unterbrochen von den grellen Lichtkreisen spärlich verteilter Gaslaternen.

Eine dieser Laternen stand so, daß das Parktor von ihr beleuchtet wurde.

Silas hatte sich in seinen Kombinationen nicht getäuscht. Es dauerte kaum eine Viertelstunde, so erschien Harriet, in einen langen, weiten Reisemantel gehüllt. Auf dem Kopf trug sie einen runden Hut, um den ein dichter Gazeschleier nach Art der Amerikanerinnen vorhangartig gesteckt war.

Sie entfernte sich rasch in der Richtung nach der Dornbacher Hauptstraße, wo noch volles Leben herrschte.

Silas folgte ihr auf der anderen Straßenseite, seine Maschine neben sich herführend. Als sie in belebtere Gassen kamen, schritt er dicht hinter ihr drein. Es lag ihm nichts daran, daß sie sich zweimal umwandte und ihn dabei sehen mußte.

Mit seinem schmutzigen Gesicht und dem struppigen Bart mußte sie ihn für einen Mechaniker oder Maschinenarbeiter halten, der ein beschädigtes Fahrzeug transportierte.

In der Dornbacherstraße winkte Harriet endlich einem offenen Einspänner, der leer daherfuhr, und stieg ein. Hempel, der dicht an ihr vorüberging, hörte, wie sie dem Kutscher sagte:

»Fahren Sie mich durch die Sandleitenstraße zum Anzengruberplatz, dann langsam die Degengasse hinab gegen den Gürtel.«

Also nach dem 16. Bezirk!

Es war ein Viertel über neun Uhr. Viele Läden standen offen, auf den Straßen trieben sich wie gewöhnlich in diesen Arbeitervierteln, wo ein großer Teil des häuslichen Lebens sich auf der Straße abspielt, spielende Kinder, schwätzende Frauen und Männer herum, die nach des Tages Mühen hier ein wenig Luft und Zerstreuung suchten.

Harriets Wagen fuhr langsam die Degenstraße hinab, während sie selbst aufmerksam nach rechts und links spähte.

Hempel, der auf seinem Zweirad hintendrein fuhr, wurde allmählich von fieberhafter Unruhe ergriffen. Endlich sollte er eine positive Spur der geheimnisvollen Frau bekommen, die mit so ungewöhnlicher Kühnheit in den Park von Monplaisir eingedrungen war.

Bekam er sie auch heute noch nicht selbst zu Gesicht, so würde er doch das Haus sehen, in dem sie wohnte und ihren Namen erfahren.

Es irritierte ihn, daß der Wagen vorne so langsam fuhr. Weshalb blickte Harriet so suchend umher? War ihr etwa der Name der Gasse entfallen?

Im nächsten Augenblick atmete er erleichtert auf. Der Wagen war stehen geblieben, Harriet stieg aus und schritt zögernd in die nächste Seitengasse rechts.

Hempel warf einen raschen Blick um sich. Ah – dort stand ein Wachmann! Er eilte auf ihn zu, wechselte ein paar Worte mit ihm und bat ihn, auf sein Rad zu achten, das er an den nächsten Gaskandelaber lehnte.

Dann folgte er Harriet.

Aber sein Erstaunen über ihr Gebahren wuchs. Unsicher, zögernd schritt sie die Wurlitzergasse ein Stück entlang, kehrte dann um, blieb an der Ecke einen Augenblick unschlüssig stehen und versuchte es dann mit der Rückertgasse weiter unten. Dieses Manöver wiederholte sie viermal.

Hatte Hempel erst geglaubt, sie wolle einen möglichen Verfolger dadurch irreführen, so wurde er bald anderer Ansicht, als es ihm gelang, einen Blick in ihr Gesicht zu werfen.

Dieses trug einen so deutlichen Ausdruck von Unruhe, Entmutigung und Ratlosigkeit, daß er nicht mehr an der Wahrheit zweifeln konnte: sie wußte offenbar die Adresse der Person nicht, welche sie aufsuchen wollte.

Wahrscheinlich hatte sie geglaubt, sich an Ort und Stelle aus der Erinnerung zurechtfinden zu können, sah sich aber nun angesichts dieses Gewirres gleichmäßiger Straßenzüge getäuscht.

Zuletzt entschloß sie sich sogar, eine Arbeiterfrau anzusprechen, und es gelang Hempel, der dicht an beiden vorüberschlenderte, die Worte zu hören. Harriet fragte, ob die Frau nicht wisse, wo »zwei Engländerinnen« wohnten. Es müsse hier in der Nähe sein. Die Frau lachte. Engländerinnen wohnten gewiß in der Nähe genug, denn die Quartiere seien billig und englische Lehrerinnen hätten nie viel übrig. Aber man müsse doch wissen, wie die Damen heißen! Wie – das wisse sie nicht? Dann solle sie das Suchen nur lieber gleich aufgeben … jemand ohne Namen hier aufzufinden, sei undenkbar.

Das schien Harriet denn auch endlich einzusehen. Seufzend schlug sie den Rückweg zu ihrem Wagen ein und wenige Minuten später fuhr dieser im Trab zurück.

Silas folgte ihr, völlig aus der Fassung gebracht.

Wie – sie wußte weder Namen noch Adresse einer Person, um deretwillen sie Richard, den sie liebte, dem schwersten Verdacht ausgesetzt wußte, ohne ein Wort zu seiner Entlastung zu sprechen?

Wer war diese Frau, der sie und er sich opfern wollten, ohne sie zu kennen?

Die Sache wurde immer rätselhafter.

Indessen blieb nichts weiter übrig, als nun gleichfalls wieder heimzukehren. Auf eines nur war er nun gespannt: Würde sie morgen trotzdem reisen oder nicht?

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