Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

.

4. Kapitel.

Silas Hempel saß in einen alten Schlafrock gehüllt und mit Pantoffeln an den Füßen, behaglich auf dem Diwan seines Schlafzimmers.

Neben ihm lag, alle vier Beine von sich streckend, Murx, der gelbe Angorakater und schnurrte laut.

Auf dem Tische befand sich außer der Lampe eine alte Schnupftabaksdose aus Horn und ein aufgeschlagenes Buch über Vogelzucht.

Die Türen zu den beiden Nebenzimmern standen offen und aus dem Dunkel ertönte zuweilen das Geflatter von Vögeln, deren zahlreiche Käfige die Wände bedeckten.

Herr Silas las nicht. Er nahm in Gedanken versunken eine Prise nach der anderen, schüttelte zuweilen den von seidigem Blondhaar bedeckten Kopf und rieb sich dann wieder das glattrasierte Kinn.

Sein für gewöhnlich ausdrucksloses Gesicht hatte wie immer bei gespanntem Nachdenken einen merkwürdig vertieften, geistreichen Ausdruck angenommen.

»Eine sonderbare Geschichte,« murmelte er endlich, »aber Wasmut mag ausnahmsweise recht haben: Sie war es jedenfalls nicht. Hm – sollte endlich wieder einmal etwas Interessantes auf dieser langweiligen Welt passiert sein? Was meinst du, Silas, alter Knabe – möchtest du dich nicht ein wenig damit befassen?«

Seine Hand glitt zerstreut über das gelbe, zottige Fell des Angorakaters.

»He, Mr. Murx, schlafen Sie doch nicht so unverschämt ruhig, wenn Ihr Freund und Gebieter den Spiritus unter seinem Gehirnapparat anzuzünden in Begriff steht.«

Der Kater knurrte ungehalten. Dann stand er auf, dehnte und streckte sich, machte einen hohen Buckel und schritt majestätisch nach einem verachtungsvollen Seitenblick auf seinen Herrn an die äußerste Kante des Sofas, wo er sich von neuem niederließ, um weiter zu schlafen

Silas Hempel lachte.

»O, du kluger, kluger Murx! Beschämst du nicht alle Gelehrten der Welt durch deine philosophische Weisheit?«

Draußen läutete es schrill.

Gleich darauf steckte Kata, Hempels alte kroatische Wirtschafterin, den struppigen Kopf herein und sagte in ihrer Muttersprache – die paar deutschen Brocken, welche sie notgedrungen im Verkehr mit der Umwelt erlernt hatte, konnte sie sich ihrem sprachenkundigen Herrn gegenüber gottlob sparen – bissig: »Nicht einmal bei Nacht lassen einem die Leute in Ruh. Was haben Sie sich denn da wieder für ein junges Frauenzimmer herbestellt? Hat die etwa auch gestohlen wie die Rothaarige neulich?«

Hempel hatte sich verwundert erhoben.

»Eine Dame ist hier?«

»Nun ja – ich werde doch ein Frauenzimmer von einem Mann unterscheiden können!« brummte Kata ärgerlich. »Und jetzt werden uns die Vögel alle rebellisch werden, wenn ich die Lampe im Salon anstecken muß!«

»Ach bitte – darf – ich nicht gleich hier eintreten?« fragte ein schüchterne Stimme und Harriet Henderson erschien, den Schleier zurückschlagend auf der Schwelle.

Hempel warf nur einen einzigen Blick seiner scharfen leuchtenden Augen auf ihre Erscheinung und näherte sich wie elektrisiert.

»Geh',« sagte er mit einer gebieterischen Handbewegung zu Kata. Dann sehr höflich und freundlich zu Harriet: »Darf ich Sie bitten Platz zu nehmen, Miß Henderson?«

Sie blickte ihn betroffen an.

»Sie – Sie kennen mich?«

»Ich habe in dieser Minute zum erstenmal die Ehre, Sie zu sehen.«

»Aber dann –«

»Lassen Sie sich dies nicht kümmern. Nehmen Sie an, man hätte mir von Ihnen erzählt. Die Zusammenstellung schwarzer Augen mit so goldblondem Haare ist eine so seltene, daß man sich nicht irren kann. Sie kommen vermutlich, um meine Dienste in Anspruch zu nehmen, in der traurigen Affäre, welche Ihr Haus betroffen hat?«

»Ja. Ich sehe, Sie wissen auch davon bereits, wenn ich auch nicht begreife –«

»Das ist ja Nebensache. Übrigens brachten die Abendblätter bereits sehr ausführliche Berichte darüber, so daß Sie mich mit den bekannten Tatsachen als völlig informiert betrachten können.«

»Dann wissen Sie also bereits, daß man einen Unschuldigen verdächtigt – ja, daß man Herrn Tiersteiner schon vor einer halben Stunde verhaftete? Aber nein – das können Sie ja noch nicht wissen!«

»Allerdings, den Namen Tiersteiner höre ich aus Ihrem Munde zum ersten Male. Ist es der Chef der bekannten Goldwarenfirma?«

»Sein Sohn. Er befand sich gestern abend im Park von Monplaisir und darauf gründet man nun den Verdacht. Aber er ist unschuldig! Ich schwöre es!«

»Sie nehmen sich seiner sehr warm an, mein Fräulein – vermutlich befanden Sie sich zur angegebenen Zeit in seiner Gesellschaft?«

»Ja,« antwortete Harriet stolz und ohne Zögern, »er ist mein Verlobter, wenn auch der Widerstand meines Vaters unserer Verbindung noch Hindernisse in den Weg legte.«

Sie erzählte nun hastig ihre Unterredung mit dem Kommissär Brandner und schloß mit einem tiefen Atemzuge: »Gegen Sie, Herr Hempel, will ich so offen sein als irgend möglich, vorausgesetzt, daß ich Ihrer strengsten Diskretion versichert sein kann –«

»Das dürfen Sie unbedingt. Was veranlaßt Sie nun, so felsenfest von Herrn Tiersteiners Unschuld überzeugt zu sein?«

»Einfach der Umstand, daß er den tödlichen Schuß gar nicht abgegeben haben kann, da er sich zur Zeit des Mordes weit von dessen Schauplatz befand.«

»Ich dachte, Sie sagten vorhin –«

»Daß er im Park gewesen – ganz richtig. Aber er kam nur, um mich abzuholen. Um halb zehn Uhr verließen wir beide den Park, um einen wichtigen Gang anzutreten. Damals lebte mein Vater bestimmt noch und befand sich in seinem Zimmer. Ich hatte dringende Gründe, diesen Gang vor ihm geheim zu halten, und schlich mich, als ich das Haus durch den Salon über die Terrasse verließ, an sein Schlafzimmerfenster, um zu horchen, ob er schon zu Bett gegangen sei. Das Fenster stand offen, Licht brannte im Zimmer, die gelben Seidenvorhänge waren herabgelassen, so daß ich wohl nicht hineinsehen konnte, aber ich hörte meinen Vater, wie er oft zu tun pflegte, pfeifend drinnen auf- und abgehen.

Wir entfernten uns leise, und als wir zurückkehrten, war es nach Mitternacht. Alles im Hause war dunkel und totenstill. Vaters Fenster geschlossen, das Licht erloschen –«

»Und dies fiel Ihnen heute in der Erinnerung nicht auf? Wer hat das Licht verlöscht? Wer hat das Fenster geschlossen?«

Harriet sah Silas Hempel betroffen an.

»Es ist wahr – aber kann es nicht mein Vater selbst getan haben, ehe –«

»Kaum. Oder doch nur, wenn er zu Bett gegangen wäre. Man löscht doch ein Licht nicht eher aus, als bis man schlafen will! Nun war Ihr Vater aber noch völlig angekleidet, als er ermordet wurde, und sein Bett war unberührt. Versetzen wir uns ein wenig in seine Lage. Er schritt um halb zehn Uhr pfeifend – also offenbar gut gelaunt – im erleuchteten Zimmer auf und nieder. Was kann ihn in den Park geführt haben?«

»Vielleicht ein Geräusch, das er dort vernahm?«

»Möglich. Aber dann hätte er wohl mindestens dem Diener geklingelt oder mindestens einen Stock als Waffe mitgenommen. Indessen fand sich nichts ähnliches bei der Leiche. Ganz abgesehen davon, daß ein professioneller Einbrecher doch nicht ohne Not gleich einen Mord begehen wird – wenn er sich bei der herrschenden Dunkelheit so leicht aus dem Staube machen konnte!«

»Was also denken Sie?«

»Daß erwartet oder unerwartet eine ihm bekannte Persönlichkeit ihn besuchte, die er dann selbst hinausbegleitete und von der er wahrscheinlich am Parktor meuchlings erschossen wurde!«

Harriet starrte den Detektiv leichenblaß an.

»Wie – wie – kommen Sie – auf diese Idee?«

Hempel zuckte die Achseln.

»Vielleicht nur durch einen Instinkt, der zuweilen blitzartig in mir lebendig wird und mich selten täuschte. Vielleicht durch halb unbewußte Logik. Ich glaube nicht, daß ein Offizier so unbesonnen sein könnte, sich auf ein Geräusch hin völlig waffenlos in die Dunkelheit hinaus zu begeben. Umsoweniger, als Sie vorhin erwähnten, Ihr Vater sei sehr mißtrauisch gewesen.«

»Aber – eine feindliche Person würde er doch noch weniger in sein Zimmer eingelassen haben!«

»Hm – wir wissen nicht, ob die Tür verschlossen war. Jedenfalls – stand das Fenster offen. Auch mußte Ihr Vater nicht gewußt haben, daß jene Persönlichkeit ihm feindlich gesinnt war.«

»Das Parktor war verschlossen. Ich sperrte es selbst mit meinem Schlüssel ab, als wir Monplaisir verließen!«

»Bah – wer eindringen will, findet immer einen Weg!«

»Man hat heute alles nach Spuren durchforscht, ohne etwas zu finden … die Mauer mit ihrem Zaun von Stacheldraht ist unübersteigbar –«

»Davon müßte ich mich erst selbst überzeugen. Jedenfalls scheint mir diese Version bisher die wahrscheinlichste: der Mörder ist nach der Villa aus irgend einem Grunde zurückgekehrt, schloß das Fenster und verlöschte, nachdem sein Geschäft vollbracht war, das Licht.«

»Welches Geschäft meinen Sie?«

»Darüber habe ich bis jetzt noch keinerlei Vermutung, aber seien Sie überzeugt, man wird den Grund seiner Rückkehr finden. Jede Tat muß ein Motiv haben. Entweder war dieses persönliche Rache oder der Raub irgend eines Gegenstandes, der bloß bisher noch nicht vermißt wurde. Keinesfalls aber war es dem Mörder um Geld oder bloßen Geldeswert zu tun.«

Harriet blickte, in Nachdenken versunken, vor sich hin. Dann hob sie plötzlich den Kopf und sagte lebhaft:

»Wenn es nun doch letzteres wäre? Mir fällt soeben ein Umstand ein, dem ich bisher keinerlei Bedeutung zumaß, der mir jetzt aber doch wichtig erscheint. Mein Vater packte gestern nachmittag eine kleine lederne Tasche, ähnlich jenen, welche Ärzte für ihre Instrumente benützen. Er pflegte dieselbe stets mitzunehmen, wenn er, was öfter vorkam, einen Tag in der Stadt oder sonstwo zu verbringen gedachte. Da ich nun bei jenem Streit gestern heftiger war, als ich sein sollte, und nachher meinen Vater um Entschuldigung bitten wollte, begab ich mich selbst zu ihm, um ihn zum Tee zu rufen. Als ich eintrat, sperrte er eben jene Tasche sehr sorgfältig zu und befestigte den Schlüssel an seinem Schlüsselbund, den er immer bei sich zu tragen pflegte.«

»Was befanden sich sonst noch für Schlüssel daran?«

»Jene der Glasschränke, die seine Sammlungen enthalten, und der des Schreibtisches. Er ließ sie nie auch nur für einen Moment neben sich liegen, und ich halte es für fast unmöglich, daß er das Zimmer verließ und die Schlüssel dabei zurückließ. Auch hätte er die Tasche kaum so sorgsam verschlossen, wenn sie nicht fertig gepackt gewesen wäre und Geld oder Geldeswert enthalten hätte. Trotzdem fand man sie heute morgens völlig leer und die hineingehörigen Gegenstände daneben hingelegt, als wären sie erst zum Einpacken vorbereitet. Die Schlüssel lagen gleichfalls am Tisch.«

»Sonderbar! Ein Dieb hätte demnach doch die Schränke nur öffnen und in aller Gemütsruhe ausräumen können! War es ihm um Gewinn zu tun – warum tat er es nicht?«

Hempel stand auf und wanderte nachdenklich im Zimmer umher. »Und dennoch – davon bin ich nun fest überzeugt – haben wir es mit einem Dieb zu tun – nur mit einem recht seltsamen. Einem Feinschmecker offenbar, dem es nur um etwas Bestimmtes zu tun war …«

Harriet, die sich plötzlich an den Zweck ihres Kommens erinnerte, machte eine trostlose Gebärde.

»Ach, das alles hilft uns nicht dazu, Richard von dem über ihm schwebenden Verdacht zu reinigen!«

Hempel sah sie durchdringend an.

»Und warum taten Sie selbst dies nicht längst, indem Sie der Behörde einfach die Wahrheit sagten – daß Sie beide in der Zeit des Mordes gar nicht daheim waren?«

Harriet ließ den Kopf tief auf die Brust sinken.

»Es ist unmöglich! Man würde wissen wollen, wo wir waren – – –,« murmelte sie tonlos.

»Zweifellos! Aber –«

Harriet hob bittend die Hände.

»Ich kann es nicht sagen – auch Ihnen nicht! O, bitte dringen Sie nicht in mich –!«

»Aber begreifen Sie doch, Miß Henderson: Es gibt kein anderes Mittel, Richard Tiersteiners Unschuld zu beweisen, als – den wahren Täter zu ermitteln!«

Sie brach plötzlich in leidenschaftliches Schluchzen aus und schlug die Hände vor das Gesicht.

»Es ist so schrecklich … so schrecklich –«

»Sie wissen noch etwas, das Sie mir nicht sagen wollen!«

»Nein – ich weiß nichts.«

»Aber Sie vermuten? Sie fürchten –! Warum zittern Sie davor, daß der wahre Täter ermittelt wird?«

Harriet schwieg. Völlig gebrochen saß sie da.

Hempel betrachtete sie mitleidig. »Wenn auch Sie über jenen geheimnisvollen nächtlichen Gang schweigen,« sagte er endlich ruhig, »so wird doch Herr Tiersteiner vor Gericht die Wahrheit sagen müssen

»Er wird schweigen,« murmelte sie dumpf, »dieselben Gedanken und Erwägungen werden ihn beherrschen wie mich, und darum wird er – schweigen.«

Hempel schüttelte ungeduldig den Kopf.

»Das wäre sehr töricht, denn es ginge ihm dann an Kopf und Kragen! Sie dürfen sich darüber keinen Illusionen hingeben – die Indizien sprechen gegenwärtig verzweifelt stark gegen ihn. Kann er sie nicht widerlegen, so ist er verloren!«

»O Gott!! Sagen Sie mir das nicht!«

»Ich muß es! Und auch, daß ich den Fall nur dann übernehme, wenn ich Vollmacht habe, völlig unbeschränkt nach meinem Gewissen zu handeln, um der Wahrheit zum Sieg zu verhelfen. Ich bin kein Mann, mein Fräulein, der für Geld zu irgend etwas zu haben ist, das ihm wider Recht und Gerechtigkeit zu gehen scheint. Ich bin vermögend und betreibe meinen Beruf in erster Linie aus Begeisterung für die Sache. Wenn Sie mir Hindernisse in den Weg legen wollen, dann bin ich nicht Ihr Mann. Schweigen Sie meinetwegen über das, was Sie nicht sagen wollen – ich werde mich auch so zurechtfinden – aber stellen Sie sich nicht auf Seiten des Unrechts, indem Sie einen Schuldigen schützen auf Kosten des Unschuldigen, der Sie liebt und der offenbar nur durch Liebe zu Ihnen in diese Lage gekommen ist!«

Jeder Tropfen Blut war aus Harriets Antlitz gewichen bei diesen ernst und eindringlich gesprochenen Worten.

Jetzt erhob sie sich, brennenden Glanz in den dunklen Augen, und Hempel ihre eiskalte Hand entgegenstreckend, sagte sie fest: »Sie haben recht. Ich danke Ihnen, daß Sie meinen Mut wieder geweckt und mir gezeigt haben, wo in diesem Augenblick meine – stärkere Pflicht liegt. Ja! Richard muß um jeden Preis gerettet werden. Tun Sie Ihre Pflicht – ich werde Ihnen keine Hindernisse in den Weg legen, wenn Sie mir nur gestatten, gewissen Fragen gegenüber in passivem Schweigen zu verharren. Alles andere stelle ich Gott anheim!«

Hempel drückte kräftig ihre Hand.

»Wohlan, dann will ich gleich an die Arbeit gehen. Ihr Wagen wartet vermutlich unten und in Monplaisir wird es wohl einen Winkel geben, wo ich ein paar Stunden schlafen kann, nachdem ich heute noch Ihres Vaters Zimmer untersucht habe. Man hat Ihnen doch den Schlüssel dazu gelassen?«

»Ja. Die Behörde nahm, da mein Vater draußen erschossen und nach Friedrichs Angabe nichts geraubt wurde, gar nicht an, daß der Mörder im Hause gewesen sein könnte und begnügte sich mit einer flüchtigen Umschau im Zimmer.«

Hempel lächelte zufrieden.

»Welches Glück es doch manchmal für andere ist, wenn man Annahmen als Tatsachen betrachtet.«

.


 << zurück weiter >>