Annie Hruschka
Das Haus des Sonderlings
Annie Hruschka

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[14.]

Heidy Siebert stand vor dem Untersuchungsrichter. Ihre klaren blauen Augen ruhten mit stolzem, fast flammendem Ausdruck auf ihm.

»Wie sollte er auf diese Frau noch eifersüchtig gewesen sein, da er längst aufgehört hatte, sie zu lieben?« sagte sie. »Es ist Lüge, wenn sie behauptet, er habe sich mit ihr ausgesöhnt. Er liebt nur mich. Ich schwöre Ihnen, daß er nur mich liebt! Und diese einzige Tatsache genügt, um Ihrem Verdacht jeden Grund zu entziehen. Er kann Chambers nicht getötet haben, da er nicht mehr eifersüchtig auf ihn gewesen sein konnte!«

»Sie irren, mein Fräulein. Und zwar einfach darum, weil Sie die Psychologie der Mannesseele . . . nur als Weib erfassen! Ich behaupte nicht, daß Eifersucht im landläufigen Sinn Torwesten zur Tat trieb. Aber dieser Mann hatte seine Mannesrechte verletzt, seine Mannesehre angetastet. So etwas verzeiht und vergißt kein Mann, auch wenn Jahre darüber hingehen. Außerdem mag Chambers ihn gereizt haben. Man kann aufhören eine Frau zu lieben und doch der Rächer ihrer und seiner Ehre bleiben, vergessen Sie dies nicht! Daß Torwestens Herz Ihnen gehört, will ich durchaus nicht mehr bezweifeln, seit ich das Vergnügen habe, Sie persönlich zu kennen. An seiner Tat braucht dieser Umstand nichts zu ändern!«

»Und alles, was ich Ihnen vorhin berichtete? Das Gespräch Frau Torwestens mit dem jüngeren Lytton? Das beweist doch . . .«

»Daß ein liebesbedürftiges Frauenherz daneben stand und Worte hörte, die zu hören es dürstete.«

Heidy fuhr auf. Ihr schönes Gesicht wurde abwechselnd bleich und rot.

»Sie glauben mir nicht?«

»Ich glaube nur, daß Sie Georg Torwesten sehr lieben . . . mehr, als er verdient.«

»Aber dann wäre ich ja eine Verbrecherin! Warum lassen Sie mich nicht einfach verhaften? Wenn ich Ihnen Lügen erzähle . . ., wenn ich Dinge erfinde, die gar nicht existieren . . ., wenn ich einen Mörder durch falsche Aussagen retten will . . .«

»Beruhigen Sie sich Fräulein! All das wollen Sie ja nicht, weil Sie ihn für einen Mörder halten. Ich wollte bloß auf Grund meiner langjährigen Erfahrungen andeuten, daß Frauen, die so lieben wie Sie, eine stark arbeitende Phantasie haben, ohne sich dessen selbst bewußt zu sein.«

Heidy rang die Hände. Sie war außer sich.

»Mein Gott, was soll ich noch tun oder sagen, um Sie zu überzeugen?«

»Nichts. Gehen Sie ruhig nach Hause und überlassen Sie das weitere mir! Ich bin überzeugt, daß es Ihnen allmählich selbst klar werden wird, daß die Lyttons nicht den kleinsten Grund haben konnten, den Tod ihres Kollegen und Freundes zu wünschen. Und weiter – daß außer Torwesten kein Mensch existiert, dem Chambers vernünftigerweise ein Dorn im Auge war. Die Lyttons haben genug anderes am Kerbholz – an diesem Verbrechen aber sind sie unschuldig.«

Heidy erhob sich und verließ mit stummem Gruß das Gemach. Seit jenem Tage, da Georg verschwand, hatte sie keinen Augenblick eine so verzweifelte Mutlosigkeit empfunden wie jetzt. Der Gedanke, daß alles vergebens gewesen sei, was sie getan, daß die Ueberzeugung von Georgs Schuld in dem Untersuchungsrichter so unerschütterlich feststand, lähmte sie förmlich.

Wenn man ihr nicht glaubte, würde man ihm selbst noch weniger glauben, und was konnte denn dann überhaupt noch geschehen um ihn zu retten? Nichts! Sie sah nicht die Spur eines Auswegs . . .«

Der Untersuchungsrichter hatte den Auftrag gegeben, ihm Torwesten vorzuführen.

Torwesten war ein Mann von 32 Jahren, sah aber entschieden älter aus. Sein bleiches, jetzt unheimlich hageres Gesicht war von dunkelblondem Haar und einem etwas helleren Spitzbart umrahmt. Die braunen Augen hatten – wahrscheinlich noch eine Folge der großen Morphiummenge – einen trüben abwesenden Blick. Seine Haltung war schlaff, seine Bewegungen von einer scheuen Unsicherheit.

All dies zusammen genommen machte keinen günstigen Eindruck auf den Untersuchungsrichter. In kühl sachlichem Tone begann er mit den Vorfragen nach Namen, Alter, Stand usw.

Torwesten antwortete gleichgültig. Es war, als grüble er, während er sprach, ständig über etwas nach.

Plötzlich fragte er wie erwachend.

»Warum werde ich hier in diesem Hause festgehalten und wie ein Gefangener behandelt, Herr Untersuchungsrichter?

»Sollten Sie dies nicht selbst wissen? Fräulein Siebert hat Ihnen gewiß bereits alles erzählt!«

»Nein. Ich war sehr müde. Sie stellte einige Fragen, die ich ihr beantwortet habe. Erzählt hat sie mir nichts.«

»So. Wirklich?« Um Wasmuts Lippen zuckte ein ungläubiges Lächeln. »Dann lassen wir diese Frage vorläufig. Wie war das am 29. Mai, als Sie sich, ohne irgend jemand etwas zu sagen, plötzlich entschlossen nach Wien zu fahren?«

»Am 29. Mai . . .? Ach ja . . . richtig. Das war, als ich die Botschaft erhielt.«

»Von Ihrer Frau?«

Torwesten errötete.

»Ja. Ich machte einen kleinen Abendspaziergang auf der Straße, da traf mich der Bote, ein Dienstmann. Er fragte nach der Villa Solitudo, da er für deren Besitzer einen Brief habe.«

»Was schrieb man Ihnen.«

»Nur, daß meine ehemalige Frau mich so bald als möglich zu sprechen wünsche.«

»Wußten Sie, daß Ihre Frau sich in Wien befand?«

»Ich konnte es aus einer mir zugesandten Zeitungsnotiz entnehmen.«

»Und dann entschlossen Sie sich, der Aufforderung sofort zu folgen. Warum nicht erst am nächsten Morgen? In der Nacht konnten Sie ihre Frau doch nicht mehr sprechen!«

»Nein. Ich hatte einen anderen Grund, sofort zu fahren. Ich wollte ins Apollo . . .«

Er stockte und schwieg.

Der Untersuchungsrichter fixierte ihn scharf.

»Warum sprechen Sie nicht weiter? Wir wissen, daß Sie tatsächlich dort waren. Allerdings nur kurze Zeit. Sie sandten Ihrer Frau eine Botschaft in die Garderobe. War das der Zweck Ihres Erscheinens im Apollo?«

»Nein. Ich benutzte nur die Gelegenheit, ihr mitzuteilen, daß ich sie am nächsten Tage aufsuchen wollte.«

»Und der eigentliche Zweck?«

»Ich wollte die Nummer der »Brothers Copley« sehen. Leider war sie schon vorüber.«

»Ah! Warum wollten Sie diese Nummer sehen?« fragte Wasmut rasch, indem es in seinen Augen aufblitzte.

»Weil meine Frau in ihrem Billett erwähnt hatte, daß auch ihre Brüder in Wien seien, und ich vermutete . . .«

»Was?«

»Daß die früher unter dem Namen »Brüder Lytton« auftretenden Equilibristen vielleicht mit diesen Copleys identisch sein könnten. Davon wollte ich mich überzeugen.«

»Nur davon? Nicht auch, ob Fred Chambers mit ihnen reiste?«

Torwesten starrte den Frager bestürzt an.

»Ja . . . aber woher wissen Sie das?«

»Nehmen Sie ruhig an, daß ich Ihre Vergangenheit, soweit sie mit Chambers zusammenhängt, genau kenne. Sie waren auf diesen Mann eifersüchtig. Sie haßten ihn?«

Torwesten legte die Hand auf die Stirn. Ein peinliches Erröten breitete sich langsam über sein Gesicht bis unter die Haarwurzeln. Ja. Ich hatte leider Grund dazu,« antwortete er endlich dumpf.

»Und an jenem Abend wollten Sie mit ihm abrechnen?«

»Nein. Nur mich überzeugen, ob er mit . . . mit meiner Frau zugleich in Wien sei.«

»Im Apollo war er nicht mehr. Wo haben Sie ihn dann getroffen?«

»Gar nicht.«

»Hm . . . was taten Sie, nachdem Sie das Theater verließen?«

»Ich begab mich in ein nahes Café und traf dort zufällig einen alten Bekannten, mit dem ich die Nacht verbrachte.«

»Wo?«

»In seiner Wohnung, die ganz in der Nähe lag. Er wollte früh mit dem Schnellzug fort und hatte noch einige Kleinigkeiten zu packen. Dabei plauderten wir und ich begleitete ihn dann auf den Bahnhof.«

»Die ganze Nacht wollen Sie mit ihm geplaudert haben? Wo er im Begriff stand, eine weite beschwerliche Reise anzutreten?«

»Eben deshalb. Wir hatten uns lange nicht gesehen und er meinte, ausschlafen könne er sich dann im Zug auch.«

»Können Sie dies beweisen?«

»Beweisen? Warum soll ich es beweisen müssen, wenn ich es Ihnen doch schon sage?«

»Ihre Angabe ist doch kein Beweis! Können Sie mir jemand nennen, der Sie damals im Haus Ihres Freundes gesehen hat?«

»Nur sein Diener, der ihn auf der Reise begleitete. Herr Schönfeld, der Gutsbesitzer ist, hält keine andere Dienerschaft in seinem Stadtquartier.«

»Aber eine Hausmeisterin muß es dort doch geben?«

»Wahrscheinlich. Aber Schönfeld besitzt seinen eigenen Torschlüssel.«

»Das heißt, Sie haben keinen Zeugen für Ihre Behauptung! Denn die beiden einzigen Menschen, die Sie anführen – Schönfeld und sein Diener – kehren ja wohl, wenn überhaupt, erst nach Jahren zurück!«

Zum erstenmal fuhr Torwesten aus seiner apathischen Ruhe auf.

»Herr! Ich bin doch kein Lügner! Warum sollte ich Ihnen nicht die Wahrheit sagen?«

Dr. Wasmut antwortete nicht auf diese Frage. Er spielte mit einem Papiermesser und sagte dann plötzlich:

»Ihr Hund Barry soll sehr wachsam sein, nicht wahr?«

»Ja, gewiß! Aber . . .«

»Er würde keinen fremden Menschen ins Haus lassen, ohne sich zu melden?«

»Bestimmt nicht! Wie kommen Sie darauf?«

»Wenn man sich also,« fuhr der Untersuchungsrichter rasch fort, »zum Beispiel in Ihrer Abwesenheit an ihren Kleidern zu schaffen machte, sie in einen Koffer packte und fortschaffen wollte, was würde er tun?«

»Den Dieb eher zerreißen als ihn fortlassen.«

»Und wenn er eingeschlossen wäre?«

»Dann würde er so wütend bellen, daß der Dieb sicher ausreißen würde um nicht entdeckt zu werden.«

»Das dachte ich mir!« nickte Wasmut lächelnd. Zugleich richtete er den Blick scharf auf Torwesten, während er fast gemütlich sagte: »Warum haben Sie sich eigentlich die Mühe gemacht, Chambers Leiche erst im Garten zu vergraben? Sie hätten Sie doch einfach liegen lassen können, wo sie ursprünglich war!«

Torwesten prallte zurück, wie von einer Kugel getroffen.

»Chambers . . . Leiche?« stammelte er endlich, »und ich . . . ich sollte . . .

Dann fuhr er sich mehrmals über die Stirn, auf der kleine Schweißperlen standen.

»Ja, was ist denn eigentlich geschehen? . . . Was wollen Sie von mir? Ist das wieder eines jener Bilder, die mich so oft marterten . . .? Bin ich wirklich krank?«

Er sank auf einen Stuhl und stützte den Kopf in beide Hände. Halblaut, abgerissen kamen die Worte über seine Lippen.

»Sie brachte mich zu ihnen – dann fuhren wir fort – weit – lange – ich schlief so viel – dann kam der große dunkle Raum – sie wollten, daß ich etwas unterschreibe – ich weigerte mich immer, denn ich konnte es nicht lesen – dann Schüsse – Heidy – ich war so müde – was lag nur dazwischen –? Mir ist, als – wäre ich gefangen ge . . .«

»Geben Sie sich keine Mühe, mir eine Komödie vorzuspielen, Torwesten,« unterbrach ihn der Untersuchungsrichter plötzlich streng. »Ich glaube ja doch nicht an diese ›geistige Benommenheit‹! Gewiß haben Sie versucht, sich mit Morphium den Schlaf zu erringen, den Ihr Gewissen Ihnen sonst wohl vorenthalten hätte. Aber in dem Maß, wie Sie uns jetzt glauben machen wollen, geschah es gewiß nicht. Sie wissen ganz gut, was geschehen ist, und werden durch diese »Erinnerungslücken«, die Sie uns weiß machen wollen, höchstens ein verliebtes Mädchen täuschen. Sagen Sie mir lieber offen, wo Sie in jener Nacht mit Fred Chambers zusammentrafen und was dann geschah!«

Torwesten starrte stumm vor sich hin.

Als der Untersuchungsrichter weiter in ihn drang, machte er eine zornige Bewegung.

»Fragen Sie die Lyttons! Sie werden besser wissen, was geschah. Ich weiß es nicht.«

»Der junge Lytton behauptet, Sie in jener Nacht an der Leiche seines Freundes getroffen zu haben und Ihnen dann auf Ihre Bitten bei der Flucht behilflich gewesen zu sein!«

Ein Ausdruck ohnmächtigen sinnlosen Schrecks entstellte Torwestens Züge für einen Augenblick. Dann wurden sie wieder schlaff. Gleichgültig stierte er zu Boden.

»Nun, was sagen Sie dazu?«

»Nichts. Es ist so absurd, daß ich lieber schweige.«

»Ist das Ihre ganze Verantwortung?«

»Ich weiß keine. Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß. Mein Kopf schmerzt. Ich bin müde. Ich möchte wieder in die Zelle zurück.«

Der Untersuchungsrichter betrachtete ihn kopfschüttelnd. Dann gab er seinem Schreiber einen Wink, das Protokoll vorzulesen.

Torwesten saß ganz in sich zusammengesunken da. Sein Gesicht wurde von Satz zu Satz blässer. Mit Mühe konnte er zuletzt seinen Namen darunter setzen.

Als er sich erhob um abgeführt zu werden, taumelte er und mußte von dem ihn begleitenden Polizisten unterstützt werden.

»Lassen Sie den Hausarzt zu ihm rufen,« gebot der Untersuchungsrichter noch dem Schließer, dann begann er mit großen Schritten in seinem Bureau auf- und abzuwandern.

Er war ganz und gar nicht befriedigt, denn er hatte auf ein Geständnis gehofft. Torwestens Art war ihm in vielen Punkten unklar. Er sah aus wie ein Schuldiger. Sein Alibi war lächerlich. Die Sache mit dem Hunde gewann durch seine eigenen Worte fast den Charakter eines unanfechtbaren Schuldbeweises. So viele Indizien lagen vor – war es denkbar, daß sie alle täuschten?

Und doch! Es war etwas in Torwestens Wesen, was Dr. Wasmuth stutzig machte und zur Vorsicht mahnte.

 


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