Annie Hruschka
Das Haus des Sonderlings
Annie Hruschka

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1.

Die drei Linden, die der kleinen Wirtschaft des Herrn Sebastian Lagler den Namen gaben und seinen »Gastgarten« bildeten, waren über Nacht erblüht. Ihr Duft mischte sich mit dem Geruch frischgekochten Kaffees, den der Wirt eben eigenhändig zu dem einzigen Gast trug, der unter den Linden saß und behaglich die Stille des Morgens auf sich wirken ließ.

»Nicht wahr, Herr, das schmeckt,« fragte er dann nach einer Weile stolz lächelnd. »So ein unverfälschter Trank und in der frischen Luft heraußen!«

»Ja, der Kaffee ist gut. Besonders, wenn man vorher schon drei Stunden bergauf und -ab marschiert ist und dann unerwartet auf ein so nett gelegenes gastliches Haus stößt. Komisch, daß ich von diesen »Drei Linden« noch gar nichts wußte!«

»Das kommt, weil wir nicht an der großen Straße liegen, die sonst den Strom der Ausflügler aufnimmt. Meine Wirtschaft ist nur für die Wenigen da, nicht für die Vielen.«

»Oho! Mir scheint gar, Sie sind Philosoph, Herr Lagler?« lachte der Gast, seine klaren, blauen Augen verwundert auf den dicken Wirt richtend.

Auch dieser lächelte, aber verlegen.

»Was Sie damit meinen, weiß ich nicht recht, Herr. Aber die Wahrheit ist, daß ich mir aus dem Sonntagspublikum nichts mache, sondern es mehr mit Leuten halte, die wie Sie, nach einem Spaziergang müde und hungrig bei mir einkehren. Das sind meist ruhige, gebildete Leute, die wenig Lärm machen und zu schätzen wissen, was man ihnen vorsetzt. Mein Vater hat es auch so gehalten.«

»Ein löblicher Brauch! Nur werden Sie dabei wohl kein reicher Mann werden!«

»Durch die Gastwirtschaft da? Nein! Wahrhaftig nicht,« lachte der Wirt. »Aber das hat's auch nicht not. Wir betreiben sie ja nur nebenbei. Eigentlich bestellen wir unsere paar Felder ja ringsum, treiben ein bißchen Viehzucht und Bienenwirtschaft – weil doch die vielen schönen Wiesen da sind – und haben dabei, was wir brauchen. Dienstboten brauche ich keine zu halten, weil uns Alten ein Sohn und eine Tochter zur Seite stehen, und außerdem der Junge, den Sie vorhin gesehen haben, ein Bruderskind, das keine Eltern mehr hat. So geht es ganz gut, und man braucht kein ›reicher Mann‹ zu sein, wie Sie vorhin sagten, Herr, um glücklich und zufrieden zu sein.«

Der Gast nickte freundlich. »Das sind gute Grundsätze, Herr Lagler. Man sollte es gar nicht für möglich halten, daß kaum drei Stunden von Wien noch Leute mit so soliden Ansichten zu finden sind. Aber nun möchte ich gerne wissen, wem die prachtvolle Villa da drüben am Waldsaum gehört.«

»Die? Das ist ›Solitudo‹ und gehört einem gewissen Georg Torwesten.«

»Hm – muß ein komischer Kauz sein, der sich da in der Einsamkeit ankauft. Aber sicher nicht von schlechtem Geschmack. Bewohnt er sie?«

»Zuweilen. Er ist ein Sonderling, müssen Sie wissen, aber er kann sich das leisten, denn er soll mehrfacher Millionär sein. Manchmal kommt er plötzlich und bleibt wochen- und monatelang hier mit seinem Diener Titus Bretzler, dann ist er wieder ebenso plötzlich verschwunden. Er ist viel auf Reisen. Früher kam er nur selten. Jetzt, seit einem Jahre aber bringt er viel Zeit in Solitudo zu.«

»Verheiratet?«

»Gott bewahre! Ein eingefleischter Junggeselle! Nicht einmal weibliche Dienstboten mag er. Wenn er hier ist, müssen wir für ihn kochen, und mein Sohn oder der Junge schaffen das Essen hinüber.«

»Und wenn er fort ist? Es muß doch jemand auf die Villa aufpassen!«

»Das tun wir. Manchmal läßt er auch seinen Hund Barry, ein sehr gescheites Vieh, zur Bewachung zurück, aber nur manchmal. Nimmt er Barry mit, dann geben wir unsern Hofhund hinüber. Meine Tochter Rosina hält die Zimmer instand, ich den Garten und mein Sohn sorgt dafür, daß alle sonstigen Reparaturen rechtzeitig gemacht werden. Wir haben uns das so eingeteilt mit der Arbeit, für die wir von Herrn Torwesten jährlich einen schönen Betrag bekommen.«

»Jetzt ist er mit seinem Diener fort, denn ich sehe alle Läden geschlossen?«

»Ja. Das heißt er ist allein fort. Titus mußte in seine Heimat nach Steiermark reisen, weil seine Mutter gestorben ist und . . . aber was seh ich denn da!« unterbrach er sich erstaunt, »da kommt ja Titus schon zurück, und heute kann doch erst das Begräbnis sein!«

Er lief zum Garteneingang, durch den eben ein junger, sauber gekleideter Mann trat. Fast gleichzeitig kam Rosina, ein hübsches, frisches Mädchen, aus dem Haus gestürzt.

»Was – du bist schon zurück, Titus! Wie ist denn das möglich?« rief sie lebhaft. Dann setzte sie beinahe vorwurfsvoll hinzu: »Und du lachst über das ganze Gesicht? Jetzt, wo eben erst deine arme Mutter . . .«

»Ach was,« unterbrach sie Titus fröhlich, »es war ja alles gar nicht wahr! Irgend ein boshafter Mensch muß sich einen schlechten Spaß mit mir gemacht haben!«

»Wie? Deine Mutter ist gar nicht gestorben?«

»Fällt ihr gar nicht ein! sie war frisch und gesund wie immer, als ich heimkam, und konnte gar nicht begreifen, wer mir den dummen Brief geschrieben hat. Ich auch nicht. Fein war der Spaß nicht! Aber es ist doch gut daß sie lebt. Ich blieb dann einen Tag daheim und machte mich gestern abend wieder auf die Rückreise. Aber nun sag Rosina – wie ist denn das? Drüben fand ich Tür und Tor verschlossen . . .«

»Ja, der Herr ist fort.«

»Habt ihr die Schlüssel?«

»Nein, die haben wir nicht,« mischte sich der Wirt jetzt wieder in das Gespräch. »Der Herr wird sie wohl mitgenommen haben, weil er dir vierzehn Tage Urlaub gab.«

»Hm, ja – so darf – ich wohl einstweilen bei euch bleiben?«

»Natürlich.«

»Oder hat der Herr vielleicht gewünscht, daß ich ihm nachkomme? Ist er nur nach Wien oder für länger fort?«

»Das wissen wir nicht. Anton brachte ihm nach deiner Abreise das Essen und blieb dann zur Bedienung drüben, wie es ausgemacht war. Nur schlafen sollte er daheim, meinte der Herr, weil er ihn nachts ohnehin nicht brauche. Als aber nun Anton gestern morgens mit dem Frühstück drüben erschien, fand er die Haustür verschlossen. Er wartete eine Weile, klopfte dann, und kam, als niemand öffnete, zurück. Im Lauf des Tages ging er noch mehrmals hinüber und auch heute morgen, aber es war immer alles zu. Also muß Herr Torwesten wohl vorletzte Nacht plötzlich fort sein.«

»Das sieht ihm wieder einmal ähnlich!« sagte Titus kopfschüttelnd. »Ohne euch ein Wort vorher zu sagen! Aber so ist er. Immer geheimnisvoll und voll plötzlicher Einfälle. Hat er Barry mitgenommen?«

»Wahrscheinlich, denn der Hund ist nicht im Schuppen, wo er sonst schläft, wenn er Haus und Garten bewachen soll.«

»Das heißt, er will länger fortbleiben, sonst hätte er den Hund wohl hier gelassen. Na, mir kann's recht sein.«

»Ob er von Baden aus mit der Bahn fuhr oder sein Automobil benutzte, das er dort eingestellt hat?« meinte der Wirt fragend.

»Das kann uns ja gleichgültig sein.«

Titus begann wieder mit Rosina zu plaudern, und der Wirt trat zu seinem Gast zurück, der dem Gespräch aufmerksam zugehört hatte.

»Was sagen Sie dazu, Herr?« sagte er kopfschüttelnd. »Sich einen so schlechten Scherz mit Titus zu machen!«

»Wer weiß, ob es nur ein alberner Scherz war? Ich würde die Sache nicht so leicht nehmen an Ihrer Stelle! Man kann Titus auch fortgelockt haben, um drüben in der Villa etwas auszuführen. Einen Einbruch oder vielleicht noch Schlimmeres!« antwortete der Herr ernst.

Der Wirt starrte ihn betroffen an.

»Wie kommen Sie auf diesen Gedanken?«

»Ist es etwa nicht sonderbar, daß der Besitzer verschwunden ist, ohne davon Ihrem Sohne vorher ein Wort zu sagen?«

»Oh, das tut er ja öfter!«

»Aber diesmal wurde der Diener unter falschen Vorspiegelungen vorher entfernt! Ich würde unbedingt sogleich drüben nachsehen, ob alles in Ordnung ist.«

Der Wirt betrachtete seinen Gast eine ganze Weile still. Dann fragte er: »Sind Sie etwa von der Polizei. Herr?«

»Nein. Warum?«

»Weil die auch immer gleich ein Verbrechen vermutet!«

»Ach so! Nun, ich heiße Silas Hempel und bin Privatdetektiv. Ein wenig fällt also die Sache doch in meinen Beruf. Und auf Grund meiner Erfahrung kann ich Ihnen nur raten, dieser Geschichte sofort auf den Grund zu gehen. Sie könnten sonst selbst Unannehmlichkeiten haben.«

»Aber, Herr . . .«

Er verstummte erschrocken, denn ein seltsam geisterhafter, langgezogener Ton klang durch die Luft.

Alle horchten. Der Ton wiederholte sich.

»Es ist ein Hund, der heult. Er ist eingeschlossen, darum dringt seine Stimme nur undeutlich zu uns,« sagte Hempel sich erhebend. »Ich möchte wetten, daß es Barry ist, den sein Herr also nicht mitgenommen hat!«

»Unmöglich! Dann hätte ihn der Herr doch nicht eingeschlossen!« rief Titus der ganz bleich geworden war. »Aber der Herr hier hat recht – wir müssen unbedingt in der Villa drüben nachsehen.«

»Ich werde Karl zu einem Schlosser schicken,« sagte Rosina. Aber ihr Vater meinte, daß dies zu lange dauern würde. Mit diesem Sperrhaken würde es ihnen wohl auch gelingen zu öffnen. Er besitze deren mehrere.

Dann forderte er Silas Hempel zum Mitgehen auf, da er doch mehr davon verstünde. »Mir ist der Schreck ordentlich in die Beine gefahren . . . Gebe Gott, daß wir nichts Schlimmes finden!«

Sie begaben sich alle nach der Villa »Solitudo«. Man brauchte dazu fast nur über die Straße zu gehen.

Das Gartentor war unversperrt.

»Es bleibt immer offen. Ich weiß gar nicht, ob ein Schlüssel dazu überhaupt existiert,« erklärte der Wirt. »Es ist ja auch, so lange ich denken kann, nie ein Einbruch in der Umgegend vorgekommen! Wir liegen dafür zu abseits.«

Hempel sah, während man den Garten durchschritt, nach Spuren aus. Aber ein Gewitterregen, der tags zuvor niedergegangen war, hatte, wenn es überhaupt etwas derartiges gegeben hatte, alles ausgetilgt.

Das Haustor war mit dem Sperrhaken bald geöffnet. Flur, Treppe und ein paar Zimmer, die Titus rasch durchschritt, befanden sich in tadelloser Ordnung. Dabei kam man dem Heulen des Hundes, das nun lauter wurde, näher.

»Hier ist des Herrn Schlafzimmer,« sagte Titus zu Hempel, vor einer Tür stehen bleibend. »Der Schlüssel steckt außen und ist umgedreht, wie Sie sehen. Und doch ist Barry drinnen. Hören Sie nur, wie aufgeregt er jetzt kratzt – sicher ist er hungrig. Aber bitte, treten Sie zuerst ein – ich fürchte mich so!«

Hempel sah ihn scharf an. »Wovor?«

»Ich weiß es nicht. Aber ich bin fest überzeugt, daß irgend etwas nicht in Ordnung ist.«

Das Gesicht des jungen Menschen zeigte in der Tat Furcht, nichts weiter.

Hempel drehte den Schlüssel um und drückte die Klinke vorsichtig nieder. »Rufen Sie den Hund an, er kennt mich nicht.« Titus tat es, worauf ein freudiges Winseln folgte. Hempel und die andern traten ein.

Schon der erste Blick zeigte, daß sich auch hier alles in vollkommenster Ordnung befand. Das Bett war unberührt. Barry hatte das Wasser am Waschtisch ausgetrunken. Sonst fand sich nirgends etwas Auffälliges.

Rosina eilte fort, um für den ausgehungerten Barry etwas zum Fressen zu holen. Die andern stiegen in das obere Stockwerk hinauf – mit denselben negativen Erfolg. Auch hier fand sich alles in bester Ordnung.

»Gibt es sonst noch einen Raum im Haus, wo wir noch nicht waren?« fragte der Detektiv.

»Nur meine Kammer,« antwortete Titus, der sich wieder beruhigt hatte. »Sie ist unten am Ende des Ganges neben Herrn Torwestens Garderobe.«

»Gut. Gehen wir auch dorthin,« entschied der Detektiv, der sich einigermaßen blamiert vorkam.

Aber als man Titus' Kammer, die unversperrt war, öffnete, blitzte es triumphierend in seinen Augen auf.

Hier war nichts in Ordnung und schon der erste Blick zeigte, daß etwas geschehen sein mußte. Kleider und Wäschestücke lagen wirr durcheinander. Das Bett war zerwühlt und blutbefleckt. Am Tisch daneben lag ein großes Küchenmesser, welches gleichfalls Blutspuren aufwies.

»Hier ist ein Verbrechen begangen worden!« sagte Hempel ernst. »Wem gehören die Kleider? Ihnen. Titus?«

»Nein. Es ist alles aus des Herrn Garderobe.« stammelte Titus leichenblaß, »auch das Messer ist aus unserer Küche. O Gott, o Gott, man hat Herrn Torwesten ermordet!«

»Das scheint allerdings fast so. Aber wo ist seine Leiche?«

Man durchsuchte den Raum sorgfältig, dann auch die Nebenräume noch einmal, ja sogar den Garten – aber vergebens.

»Das ist seltsam. Warum hat man die Leiche mitgenommen?« meinte Hempel nachdenklich.

Er rief den Hund, den Rosina inzwischen gefüttert hatte und ließ ihn an den umherliegenden Kleidungsstücken riechen.

»Such!« sagte er dann befehlend.

Barry zeigte keinerlei Aufgeregtheit. Er beroch die Kleider und ging dann ruhig in seines Herrn Schlafzimmer, wo er stehen blieb.

»Er hat wohl keine gute Nase?«

»Im Gegenteil,« erklärte Titus. »Herr Torwesten sagte immer, seine Nase sei besser als die des besten Polizeihundes.«

»Dann müßte er doch die Spur aufnehmen!«

Hempels Blick glitt spähend durch den Raum.

Auf dem Schreibtisch lag ein Zeitungsblatt. Hempel sah es an. Es war die »Neue Freie Presse« von vorgestern, dem Tag, da Titus abgereist war. Aus der kleinen Chronik war ein Stück mit der Schere herausgeschnitten.

»Diese Zeitung hat der Herr mit derselben Post bekommen, wie ich den Brief,« sagte Titus, der sah, wie Hempel das Blatt in die Tasche schob.

»Sonst nichts? Keinen Brief?«

»Nein. Nur die Zeitung.«

»War er darauf abonniert?«

»Nein. Herr Torwesten hielt nur ausländische Blätter.«

»Also wurde sie ihm von jemand zugeschickt!«

Man hatte sich noch einmal nach Titus Kammer begeben. Die Gesellschaft hatte sich inzwischen um Karl, den Neffen des Wirtes, vermehrt, der neugierig und aufgeregt um sich spähte.

»Zwei Dinge sind mir unerklärlich,« sagte Hempel kopfschüttelnd. »Erstens, daß der Hund nicht anschlug, als fremde Leute ins Haus drangen, und zweitens, daß Ihr von drüben kein Licht gewahrtet. Sie können ihr Werk doch nicht im Finstern getan haben!«

»Vielleicht haben wir schon geschlafen,« meinte der Wirt. »Wir gehen zeitig zu Bett und haben alle einen festen Schlaf«

»Ich nicht! Und ich habe auch Licht in der Villa gesehen. Erst nur in einem Zimmer, dann abwechselnd bald in diesem bald in jenem Fenster, wie wenn jemand damit herumwanderte.«

Es war Karl, der dies sagte.

Hempel heftete den Blick fest auf das intelligente Gesicht des etwa vierzehnjährigen Knaben.

»So! Und warum sagst du dies erst jetzt?«

»Weil mich niemand darum fragte und ich mir auch nichts dabei dachte. Es hieß am andern Tag. Herr Torwesten sei wieder einmal verreist. Da dachte ich, er sei es gewesen.«

»Um wieviel Uhr war dies?«

»Vielleicht eine Viertelstunde nach Mitternacht. Die Kuckucksuhr in der Schankstube, wo ich schlafe, hatte kurz zuvor zwölf geschlagen. Darüber erwachte ich.«

»Und der Hund war ruhig? Du hörtest ihn nicht bellen oder winseln?«

»Nein, bestimmt nicht!«

»Sonderbar!« Er bückte sich plötzlich und griff nach einem glänzenden Gegenstand, auf den sein Blick zufällig gefallen war. Es war ein Bruchstück einer mit falschen Edelsteinen besetzten Messingschale, wie sie an Phantasiekostümen getragen wird.

»Stammt das auch aus dem Besitz Ihres Herrn?« fragte der Detektiv den Kammerdiener. »Betrachten Sie es genau! Es kann zu einem Maskenkostüm gehören, das Herr Torwesten besitzt.«

»Er besitzt kein solches. Maskenbälle! Das wäre überhaupt etwas Undenkbares bei ihm. Nein, das Zeug gehört ihm ganz bestimmt nicht!«

»Sind Sie dessen sicher? Es ist sehr wichtig!«

»Ich könnte einen Eid darauf ablegen, es nie hier im Hause gesehen zu haben, und ich kenne doch alles, was Herrn Torwesten gehört.«

»Gut. Dann können es nur jene verloren haben, die hier hausten. Wir wollen nun das Haus wieder verschließen und das tun, was zunächst das Wichtigste ist.«

»Sie meinen, eine Anzeige machen?«

»Natürlich. Titus muß das sofort tun. Der nächste dafür in Betracht kommende Ort ist wohl Baden?«

»Ja.«

»Können Sie uns rasch einen Wagen verschaffen, Herr Lagler?«

»Jawohl, meine Kalesche. Anton kann Sie fahren.«

»Schön. Dann lassen Sie rasch einspannen! Ich gehe mit als Zeuge, und da es sich wahrscheinlich um einen Mord handelt, dessen Verhandlung in Wien stattfinden muß, werde ich Sorge tragen, daß die Untersuchung dort in gute Hände kommt. Sagten Sie nicht, daß Herr Torwesten ein Automobil besitzt, das in Baden eingestellt ist?«

»Jawohl. Warum?«

»Weil wir uns dann gleich überzeugen werden, ob es noch dort ist. Die Möglichkeit – ich sage nur die Möglichkeit – besteht ja immerhin, daß Herr Torwesten doch früher abreiste, und es sich hier nur um einen Einbruch handelt, bei dem sich einer der Täter vielleicht zufällig verletzte.«

»Aber das Messer?«

»Spricht allerdings für einen Mord. Ich ziehe ja auch nur eine Möglichkeit in Betracht. Gewißheit wird erst die gerichtliche Untersuchung bringen.«

Das Haus wurde verschlossen und man begab sich nach den »Drei Linden« zurück. Barry wurde mitgenommen und Rosinas Obhut übergeben. Eine Viertelstunde später fuhren Hempel und Titus Bretzler nach Baden, wo die Anzeige gemacht und auch gleich an die Staatsanwaltschaft nach Wien telephoniert wurde. Letzteres übernahm Hempel persönlich.

Dann begab er sich mit Titus in die Garage, wo Torwestens Automobil eingestellt war. Es fehlte, wie Titus auf den ersten Blick feststellte.

»Können Sie dies denn sofort sehen? Es stehen doch so viel Wagen hier!« sagte Hempel.

»Aber keiner wie unserer. Den erkennt man sogleich unter tausend andern. Die meisten Autos sind doch grau oder rot oder dunkel. Unseres aber hat einen hellgrünen Anstrich mit zwei roten Streifen am oberen Rand. Ich habe noch nie ein ähnliches Auto gesehen. Uebrigens ist es möglich, daß der Chauffeur nur auf eigene Faust ein bißchen spazieren gefahren ist. Wir wollen nachfragen. Er wohnt dort drüben in dem kleinen Häuschen bei einer Witwe Seltern.«

Sie begaben sich dahin und erfuhren, daß der Chauffeur vorgestern abend gleich nach neun Uhr durch einen Knaben den Auftrag erhielt, seinem Herrn nach der Villa entgegenzukommen, da er nach Wien fahren wolle. Er selbst war bereits unterwegs nach Baden gewesen, hatte den Jungen angerufen und vorausgeschickt. Um ein Viertel auf Zehn war der Chauffeur fortgefahren und seitdem nicht mehr wiedergekommen.

»Gottlob!« atmete Titus auf. »Also kann er doch nicht ermordet sein!«

Hempel schwieg. Ihm schien die Sache noch nicht bewiesen. Sie wurde nur rätselhafter dadurch.

Er ließ sich noch von Titus die Adresse des Hotels geben, in dem Torwesten gewöhnlich abzusteigen pflegte und das auch eine eigene Garage besaß. Dann fuhr er mit dem nächsten Zug nach Wien zurück.

Einige Stunden später betrat Hempel das Büro seines alten Freundes, Dr. Wasmut, der als Untersuchungsrichter am Landgericht angestellt war.

Wasmut empfing ihn mit großer Freude. »Gott sei Dank, daß du dich endlich wieder einmal anschauen läßt! Und gerade heute, wo ich mal ein wenig Zeit habe und wir gemütlich plaudern können!«

»Wie, du hättest einmal nichts zu tun?«

»Na, das will ich ja nicht sagen. Arbeit gibt's bei uns immer genug. Nur just nichts besonders Wichtiges. Ein verschwundener Millionär, der als Sonderling bekannt ist, wird wahrscheinlich eine kleine Spritztour gemacht haben! – Dann ein herrenloses Automobil, unter dem der Chauffeur tot lag. – Der Kerl wird wahrscheinlich im Rausch die Böschung hinabgefahren sein und die geistreiche Polizei bildet sich ein, man habe ihn vorher ermordet. – Du siehst, lauter Alltagszeug!«

Hempels Mienen waren gespannt geworden. »Erlaube einmal – das Automobil – warst du schon am Tatort, hast du es gesehen?«

»Jawohl. Warum?«

»Wie sieht es aus?«

»Hellgrün mit zwei roten Streifen. Nr. 4067. Weißt du vielleicht zufällig, wem es gehört? Noch hat sich nämlich niemand dazu gemeldet, obwohl das Unglück schon gestern geschah.«

»Das Unglück? Lieber Wasmut, ich bin der »geistreichen« Ansicht deines Polizeikommissars, daß es sich dabei um ein Verbrechen handelt! Ja noch mehr – daß es mit dem Verschwinden des Millionärs Torwesten – den Fall leitete nebenbei bemerkt ich in deine Hände – innig zusammenhängt?«

Der Untersuchungsrichter starrte ihn verblüfft an.

»Du? Und du glaubst . . .? Aber so erzähle doch, Mensch! Ich habe ja noch keinen Schimmer!«

Hempel kam der Aufforderung nach. »Ich war inzwischen im Hotel Imperial,« schloß er, »und stellte fest, daß Torwesten dort nicht abgestiegen ist, obwohl er es sonst immer zu tun pflegte, wenn er in Wien war. Hier hast du auch das Zeitungsblatt, das ich aus der Villa mitnahm. Ich werde mir nachher die betreffende Nummer kaufen. Sie ist vom 28. Mai. Vielleicht läßt sich aus dem herausgeschnittenen Teil ein Fingerzeig finden, was Torwesten veranlaßte, so plötzlich nach Wien zu fahren.«

»Bist du nicht vielleicht ein wenig zu phantastisch, lieber Silas?« meinte Wasmut, als der Freund geendet hatte. »Torwesten hat sich draußen gelangweilt und ist vielleicht nach Wien gefahren, um sich zu amüsieren. Der Chauffeur kann wirklich verunglückt sein . . .«

»Gut. Warten wir ab. Aber wie erklärst du dir den Zustand des Dienerzimmers in der Villa?«

»Hm, da müßte man zuerst wissen, ob ein Raub dort begangen wurde.«

»Das weiß ich natürlich nicht. Dazu muß erst festgestellt werden, ob und wieviel an Geldwerten im Haus war. Ich sah einen Geldschrank stehen. Er schien unversehrt.«

»Trotzdem kann er geleert worden sein, wenn sich jemand einen Nachschlüssel dazu verschaffte. Ich denke da an den Diener und die Familie Lagler . . .«

»Ausgeschlossen!« unterbrach ihn der Detektiv lebhaft. »Die Leute scheinen mir allesamt keine großen Kirchenlichter, aber für ihre Ehrlichkeit möchte ich fast bürgen!«

»Hm, möglich. Aber fällt es dir denn nicht auf, daß der Hund ruhig war? Dies wäre doch sicher nicht der Fall gewesen, wenn fremde Leute im Haus gewirtschaftet hätten!«

»Dies sage ich mir auch. Das ist ja einer der Punkte, die mir diesen Fall so rätselhaft erscheinen lassen! Was hast du angeordnet, als man dich heute von Baden aus benachrichtigte?«

»Daß morgen früh ein Lokalaugenschein in der Villa vorgenommen werden soll, wozu ich einen Adjunkten senden wollte. Offen gestanden, legte ich nämlich der Sache keine besondere Wichtigkeit bei, weil ich überzeugt war, dieser Torwesten würde vielleicht schon im Laufe des heutigen Tages von selbst wieder zum Vorschein kommen, nachdem ich an die Abendblätter eine diesbezügliche Notiz sandte.«

»Und jetzt?«

»Jetzt hast du mich mit deinen Details allerdings etwas wankend gemacht. Ich werde bei Aufnahme des Lokalaugenscheins nun persönlich erscheinen. Du kommst doch auch mit?«

»Wenn es mir möglich ist. Ich beabsichtige nämlich, hier die Fährte nicht kalt werden zu lassen. Der tote Chauffeur muß mich führen. Du fährst mit dem ersten Zuge hinaus?«

»Ja.«

»Schön. Wenn es geht, bin ich zur rechten Zeit am Bahnhof. Aber nun muß ich gehen. Adieu, Wasmut.«

 


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