Annie Hruschka
Das Haus des Sonderlings
Annie Hruschka

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

[11.]

Frau Torwesten hatte die Villa Solitudo bezogen. Sie brachte außer der Engländerin Jane, die Heidy heimlich als ein Mittelding zwischen Dienerin und Freundin schätzte, zwei weibliche, dienstbare Geister mit, eine für die Küche, eine für den Zimmerdienst.

Diese Mädchen schliefen in den Dachzimmern, deren es zwei gab. Frau Torwesten und Jane hielten sich tagsüber entweder im Garten oder im ersten Stockwerk auf, wo auch Jane ihr Schlafzimmer hatte.

Frau Torwesten selbst aber schlief im Erdgeschoß, wo es, da vier Räume versiegelt waren, nur zwei kleine düstere Zimmer nach rückwärts hinaus gab, die bisher überhaupt nicht benutzt worden waren, weil sie durch den Schatten davor stehender Bäume dumpf und feucht waren.

Selbst Laglers fiel diese Einteilung auf.

»Haben Sie schon so etwas gehört, Fräulein.« sagte der Wirt zu Heidy. »daß man sich so ein Loch als Schlafzimmer wählt? Nicht einmal Titus wäre damit zufrieden gewesen! Und wo seine Kammer gerade gegenüber liegt, und die Frau doch weiß, daß ein Mord begangen wurde, von dem noch die Blutspuren übrig geblieben sind! Ich alter Mann könnte vor Grausen nicht schlafen und nun gar eine junge Frau, die noch dazu oben schöne Zimmer genug hätte! Auch einsteigen kann man leicht. Ob sie sich davor nicht fürchtet?«

»Sie hat ja den Hund bei sich,« meinte Heidy, die natürlich ihre eigenen Gedanken darüber hatte. Sie war nämlich fest überzeugt, daß gerade um dieses leichten Ein- und Aussteigens willen Frau Torwesten diese Zimmer gewählt hatte. Die Fenster gingen ja rückwärts hinaus. Man konnte also sehr leicht aus dem Haus gelangen oder Leute hinein lassen, ohne daß irgend jemand durch das Oeffnen der Haustür aufmerksam gemacht wurde.

»Na, ja, der Barry!« nahm Lagler ihren Gedanken auf. »Aber der hat sich ja auch damals nicht gerührt, als fremde Leute ins Haus kamen.«

»Man behauptet eben, daß es darum keine fremden Leute gewesen sein konnten.«

»Unsinn. Mich wird niemand glauben machen, daß Herr Torwesten hier jemand ermordet hat. Dafür kenne ich ihn zu gut. Viel eher glaube ich noch, daß das Vieh, der Barry, nicht die Spur von einem wachsamen Hund ist, obwohl sein Herr immer das Gegenteil behauptete. Ich habe es ja jetzt mit der Gnädigen wieder gesehen. Sie brauchte bloß seinen Namen zu rufen, als sie das erstemal kam, und er lief ihr sogleich schweifwedelnd zu!«

»Das ist etwas anderes. Sie war ihm von früherer bekannt.«

»Oho!? Sie war doch vorher nie in Solitudo!«

»Trotzdem. Frau Torwesten erzählte es mir selbst. Ihr Mann hat den Hund schon vor drei Jahren in England gehabt. Er war damals noch jung und der allgemeine Liebling des Hauses.«

»Nun, dann ist er freilich entschuldigt. Aber doch nur in bezug auf die Gnädige!«

Heidy schwieg. Sie hatte darüber ihre eigenen Gedanken. Ohne einen eigentlichen Anhaltspunkt dafür zu haben, kehrte ihr Verdacht gegen die Brüder Lytton als Mörder des Artisten Chambers immer wieder zurück.

Frau Torwestens gelegentliche Bemerkung, daß ihr Mann Barry schon in England besessen habe und alle, die bei ihnen verkehrten, das Tier gekannt und geliebt hätten, schien ihr wie eine Bestätigung dafür. Da auch die Lyttons dort täglich aus und eingegangen waren, mußten sie dem Hunde wohlbekannt sein. Und Hunde besitzen ein gutes Gedächtnis . . .

Dadurch wäre Barrys Schweigen in der Mordnacht erklärlich geworden. Nicht nur Torwestens Anwesenheit, sondern die bekannter Personen überhaupt – ihre Witterung, der Laut ihrer Stimmen – konnte ihn verhindert haben zu bellen. Freilich, Chambers sollte der beste Freund der Lyttons gewesen sein: Konnte man einen solchen nicht auch anders entfernen als nur durch einen grausamen Mord?

Allerdings, sie waren ihm vom Apollo aus gefolgt! Konnten sie nicht alle drei die Absicht gehabt haben, Torwesten von hier aus zu entführen? Sie fanden das Nest leer. Gerieten vielleicht in Streit? Benützten dann die Umstände nur, um den Verdacht auf Georg zu lenken, da die rasche Tat sich eben nicht mehr rückgängig machen ließ? Ja – es konnte alles zufällig und ohne vorherige Absicht geschehen sein. Konnte! Aber man brauchte Beweise dafür . . .

Heidy grübelte stundenlang darüber nach, ohne eine Antwort zu finden. –

Ihre Stunden bei Frau Torwesten hatten begonnen. Sie war täglich vormittags in der Villa drüben und wurde nachmittags zuweilen zum Kaffee geladen, denn Frau Torwesten langweilte sich in der Einsamkeit entsetzlich.

Sie schien es auch mit ihrer Absicht, Heidys Freundschaft zu gewinnen, ernst zu nehmen. War freundlich und mitteilsam. Erzählte ihr vieles aus ihrem Berufs- und manches aus ihrem Privatleben. Sogar von ihrem Manne sprach sie, den sie zärtlich zu lieben und an dessen Schuld sie durchaus nicht zu glauben schien.

Und doch fiel kein einziges Wort, das Heidy ihrem Ziel näher gebracht hätte. Alles klang harmlos, völlig unverdächtig.

Tausendmal war Heidy nahe daran, an der Tänzerin irre zu werden. Aber dann kamen wieder Augenblicke, wo deren herzliche Aufrichtigkeit einen falschen Ton zu haben schien. Wo etwas Lauerndes in ihrem Blick züngelte und verhaltene Ungeduld sie heimlich nervös zu machen schien.

Diese Augenblicke belebten dann Heidys sinkende Hoffnung wieder. Ihre Wachsamkeit achtete auf alles. Sie schlief tief in den Morgen hinein und hielt nach Tisch ausgiebig Siesta, wachte aber dafür nachts um so gewissenhafter.

Es schien ihr unmöglich, daß Frau Torwesten gänzlich außer Beziehung zu ihren Verwandten stand. Früher oder später mußten doch die Lyttons einen Versuch machen, sie zu sprechen, oder Frau Torwesten mußte das Verlangen haben, sie aufzusuchen.

Aber es kam, so scharf Heidy auch aufpaßte, weder bei Tag noch bei Nacht ein Brief oder gar ein fremder Mensch in die Villa und ebensowenig schrieb Frau Torwesten je einen Brief. Auch Hempel und Dr. Herrlinger ließen nichts von sich hören.

So war mehr als eine Woche vergangen und Heidy legte sich jetzt manchmal die Frage vor, ob sie ihren zwecklosen Wachposten nicht doch lieber unter irgend einem Vorwand aufgeben sollte.

Vielleicht wußte Frau Torwesten wirklich gar nichts.

Da gab es eines Abends Geschrei und Hundegebell im Villengarten drüben. Heidy, die unter einer der Linden saß, konnte nichts sehen, weil die Bäume und Sträucher der Garteneinfassung ihr den Ausblick raubten. Sie eilte darum hinauf in ihr Zimmer, wo sie über dieselben hinweg die Villa und den davor liegenden Kiesweg übersehen konnte.

Dort stand Frau Torwesten mit der Engländerin und den beiden Dienstmädchen. Sie liebkoste Barry. Alle schienen ein wenig erregt, ohne daß sich eine Ursache dafür erkennen ließ.

Heidy rief Rosina, aber diese wußte nichts.

Erst am andern Morgen erzählte ihr der Wirt, als er ihr das Frühstück brachte, daß am Abend zuvor ein fremder Mann drüben über den Gartenzaun und zwar an der Waldseite habe einsteigen wollen. Aber Barry habe ihn gleich gewittert und hätte ihn sicher zerrissen, wenn der Mann nicht noch rechtzeitig über den Zaun zurück geflüchtet wäre.

Heidy horchte hoch auf. Sollte es einer der jungen Lyttons gewesen sein? Kaum. Den hätte Barry wohl nicht so feindlich empfangen. »Kennt man den Mann?« fragte sie. »Nein,« sagte Lagler, »aber ich muß Ihnen sagen, daß mir die Geschichte gar nicht gefällt. Dieser Mensch war gestern nicht zum erstenmal hier und ich fürchte, er plant nichts Gutes.«

Heidy blickte den Wirt betroffen an.

»Woraus schließen Sie dies?«

»Weil er schon einmal früher hier war. Am Tag, ehe die Gnädige hier ankam. Da kehrte er hier ein, ließ sich ein Glas Wein geben und gab sich für einen Reisenden in Kunstdünger aus. Er hatte auch Proben davon bei sich. Aber ich merkte, daß er, wenn ich ihn nicht beobachtete, heimlich immer die Villa drüben ansah. Und ehe er dann fortging, ging er richtig hinüber in den Garten, spazierte um das ganze Haus und sah sich alles so genau an, als wollte er es kaufen. Ich ärgerte mich darüber und fragte, ihm folgend, ob er vielleicht diese Absicht habe? Da antwortete er lachend: »Warum denn nicht? Der Herr, dem es gehört, wird es wohl kaum mehr brauchen.« Damit machte er sich davon. Gestern abend wollte er rückwärts über den Zaun klettern, wobei ihn Barry verscheuchte. Und heute, als ich früh mit Anton draußen auf unserem Acker arbeitete, was glauben Sie, wer sich da heimlich am Waldrand hinschlich? Wieder derselbe Mensch! Anton sprang ihm gleich nach, aber da war er auch schon wieder vom Erdboden verschwunden und wir konnten ihn nirgends mehr entdecken.«

»Das ist allerdings sonderbar! Wer mag es sein und was beabsichtigt er hier?«

»Was sonst als einen Einbruch in der Villa? Ein Gauner ist er sicher, sonst würde er nicht so heimlich tun. Aber ich kann mir nicht helfen, Fräulein, ich mache mir sogar noch andere Gedanken über ihn!«

»Welche?«

»Daß er am Ende vielleicht gar schon damals dabei war, als der englische Artist hier ermordet wurde! Nie zuvor hat man Gesindel hier in der Gegend bemerkt und jetzt sollten es alle just auf unsere Villa abgesehen haben? Das ist doch merkwürdig! Damals haben sie, so viel man weiß, nichts geraubt. Vielleicht sind sie verscheucht worden und wollen das jetzt nachholen? Die Gnädige wird ja sicher auch viel Geld bei sich haben . . . und es sind jetzt nur Frauen in der Villa drüben!«

Dann müßte man sie aber eigentlich warnen! Heidy sah unschlüssig vor sich hin. Sollte sie es tun? Um elf hatte sie »Stunde« bei Frau Torwesten . . .

»Wie sieht denn der Mensch aus?«

»Noch ziemlich jung. Vielleicht fünfundzwanzig Jahre. Mit kleinem, braunen Schnurrbart und kurzgeschnittenem Haar. Mehr klein und schmächtig.«

Heidy versank in tiefes Nachdenken. Dann konnte es also der alte Lytton – der einzige, den Barry nicht kannte, weil er sich ja damals nicht in England aufgehalten hatte, nicht sein. Wer aber sonst?

»Fräulein,« sagte plötzlich jemand leise neben ihr, »ich möchte Ihnen etwas sagen!«

Zusammenschreckend blickte sie auf.

Der Wirt war fort. Wahrscheinlich hatte man ihn abgerufen, denn er sprach drüben an der Haustür mit seiner Frau. An seiner Stelle stand Karl, der jetzt gute Zeiten hatte, weil man ihn, seit Frau Torwesten seiner für gelegentliche Hausarbeiten und kleine Botengänge bedurfte, nicht mehr zur Feldarbeit verwendete.

»Was willst du, Karl?« fragte Heidy den Jungen, der ein pfiffig geheimnisvolles Gesicht machte.

»Ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich hörte, was der Onkel Ihnen eben erzählte, und daß es nicht wahr ist! Der Mann, den Barry gestern aufstöberte, ist kein Gauner.«

»So? Woher weißt du denn das? Kennst du ihn?«

»So ein bißchen. Aber das dürfen Sie keinem Menschen verraten. Ich sage es auch nur Ihnen.«

»Wer ist er?«

»Ein Geheimagent, der die Gnädige beobachten soll.«

»Das hat er dir gesagt?«

»Ja. Aber nur, weil er fürchtete, daß ich ihn sonst verraten könnte. Er stellte es nämlich gar nicht sehr geschickt an . . . Karls Miene wurde überlegen, als er, mit drolligem Selbstbewußtsein sich in die Brust werfend, fortfuhr:

»Ich würde es ganz anders machen an seiner Stelle, obwohl es hier, wo ringsum kein Haus oder Dorf als Unterschlupf sich befindet, nicht leicht ist, einen Vorwand zum Herumtreiben zu finden. Kurz, ich beobachtete ihn, wie er der Gnädigen nachspürte, und als er das merkte, wollte er mir zuerst weismachen, er sei ein Liebhaber der neuen Köchin drüben. Aber ich lachte ihm ins Gesicht. Da zog er doch die Wahrheit vor, nannte mich einen klugen Jungen und schärfte mir ein, ihn nicht zu verraten, sonst würde es mir schlecht gehen, und er ließe mich einsperren. Das glaubte ich ihm natürlich wieder nicht. Versprach ihm aber Schweigen, weil mich die Sache selbst interessiert. Nun beobachten wir beide!«

»Wie – du auch? Warum denn?«

»Weil ich Herrn Torwesten lieb habe und seine Unschuld gar zu gern herausbringen möchte! Ich habe ja von Anfang an alles mitgemacht und dann in den Zeitungen viel darüber gelesen, die ich Herrn Dr. Herrlinger neulich abbettelte. Der Gnädigen drüben traue ich gar nicht. Sie weiß sicher mehr über die Geschichte als wir. Und als Sie neulich dem Onkel sagten, daß Herr Torwesten den Hund schon damals in England hatte, haben Sie mich auf eine ganz neue Idee gebracht, Fräulein. Denn es stimmte mir nur Barrys wegen bisher nicht recht . . .«

»Welche Idee, Karl?«

»Daß es vielleicht die Brüder der Gnädigen sind, die den Engländer hier umgebracht haben. Bei ihnen wäre der Hund sicher auch still gewesen, wenn sie bloß seinen Namen riefen!«

Heidy starrte den Jungen eine ganze Weile stumm an. Dann fragte sie wie geistesabwesend:

Warum sagst du mir das alles, da du dem Agenten doch Schweigen versprochen hast?«

Karl blinzelte sie verschmitzt an.

»Weil Sie ja auch die Gnädige heimlich in Verdacht haben und beobachten! Glauben Sie, ich hätte es nicht gemerkt, wie Sie jeden Abend zeitig Ihr Licht auslöschten und doch bis lange nach Mitternacht noch oft auf waren – oben in ihrem dunkeln Zimmer oder auch unten im Garten? Wenn Sie die Haustür noch so leise auf und zu machten – ich habe es doch gehört! Aber Sie brauchen mich nicht so erschrocken anzusehen, ich verrate Sie bestimmt nicht, Fräulein! Und wenn ich etwas herausbekomme, erfahren Sie es zu allererst! Warum, das sage ich Ihnen später einmal!«

Damit machte er sich eilig davon, ehe Heidy sich von ihrer Bestürzung noch erholt hatte.

Um elf Uhr ging sie zur Stunde in die Villa hinüber.

Frau Torwesten saß, mit einer Handarbeit beschäftigt, in der kleinen Jasminlaube seitwärts vom Haus.

Zu ihren Füßen kauerte Barry und auf dem Tisch lag ein Band von Walter Scott. »Kenilworth« stand mit Goldbuchstaben auf dem Rücken des braunen Einbandes gepreßt. Die Arbeit, an der sie emsig stichelte, war ein Tischtuch, in welches sie mit rotem Garn ein altdeutsches Leinenmuster stickte.

Das sah alles so harmlos und hausmütterlich aus, daß Heidy, wie schon manchmal, an ihrem heimlichen Verdacht irre wurde.

Frau Torwesten begrüßte sie freundlich.

»Würden Sie sehr böse sein, wenn ich Sie bäte, heute keine Stunde zu verlangen, Fräulein, sondern, die Zeit lieber mit mir zu verplaudern? Ich bin so gar nicht aufgelegt – zum Tanzen!«

»Dann selbstverständlich nicht. Aber vielleicht ist es besser, ich störe Sie dann gar nicht länger, gnädige Frau . . .

»O nein. Bitte, bleiben Sie. Ihre Nähe ist mir lieb, und ich bin ja so sehr einsam hier! Solitudo ist eigentlich nur geschaffen für ein Liebespaar oder für eine trauernde Witwe . . . und gerade wenn man innerlich unruhig ist, hat man das Bedürfnis zu plaudern. Wenigstens ich!«

»Sie sind unruhig, gnädige Frau?«

»Ja. Ein wenig. Dann kann ich nie tanzen. Denn nicht wahr, so viel haben Sie schon begriffen von der Kunst, der Sie zustreben, daß es kein leeres Gekünstel ist, wie z. B. der Ballettanz? Wir tanzen die Stimmung unserer Seele, unser inneres, wahres Ich! Dazu aber gehört eben auch völliges seelisches Gleichgewicht.«

Sie hatte dies etwas pathetisch gesagt, wie immer, wenn sie auf ihre Kunst zu sprechen kam. Dennoch hatte Heidy die Empfindung, als ob etwas Gemachtes in Ton und Worten wäre, wie um eine wirklich vorhandene Nervosität mit oft gebrauchten Phrasen, die kein weiteres Nachdenken erforderten, zu bemänteln.

Ohne sich etwas merken zu lassen, wurde sie aufmerksam.

»Aber was hat denn Ihr seelisches Gleichgewicht gestört, liebe gnädige Frau? Sollten Sie sich über Jane oder die Köchin geärgert haben? Andere Ursachen zur Erregung gibts doch kaum in Solitudo!« fragte sie mit dem naivsten Gesicht der Welt.

Frau Torwesten sah sie forschend an. Aber auch der schärfste Beobachter hätte in Heidys Gesicht nichts Verdächtiges bemerken können. Darum antwortete sie beruhigt:

»So untergeordnete Dinge könnten mich nicht aus dem Gleichgewicht bringen. Aber es hat gestern jemand versucht, hier in den Garten einzudringen. Das beunruhigt mich. Was halten Sie davon?«

»Ich denke, Barry hat ihn verjagt?«

»Ja. Trotzdem konnte ich die ganze Nacht nicht schlafen. Und nun war der Wirt vor einer Viertelstunde bei mir und hat mich gewarnt. Er will den Menschen heute morgen im Wald wieder gesehen haben und gemeint, daß es auf einen Einbruch abgesehen sei!«

»Wirklich? Aber dann würde ich doch eine Anzeige machen, gnädige Frau!«

»Das meinte der Wirt auch. Aber das will ich keinesfalls. Nein, nein, man hätte nur eine Menge Scherereien davon und heraus käme am Ende doch nichts.« Sie hatte das so schnell und bestimmt gesagt, daß es Heidy auffiel.

»Ich will es anders machen,« fuhr sie fort. »Barry soll fortan nachts im Garten bleiben. Meinen Sie nicht, daß diese Maßnahme genügt?«

»Wenn er wachsam ist?«

»Das ist er sehr! Er würde keinen Menschen in den Garten lassen – vielleicht nicht einmal Sie!« fügte sie wie warnend hinzu.

Heidy lachte.

»Nun, ich will mich auch nie nachts in seine Nähe wagen! So ein Angsthase, wie ich! Es ist ja eine Schande – aber ich fürchte mich schon allein vor der Dunkelheit und gehe am liebsten, sobald es finster wird, in's Bett.«

»Ja, ja sie löschen immer sehr zeitig aus,« sagte Frau Torwesten in Gedanken versunken.

Heidy aber dachte: Aha – das hast du also beobachtet und mußt den Grund für mein frühes Schlafengehen wissen!

»Eigentlich beneide ich Sie um diesen guten Schlaf,« sagte Frau Torwesten nach einer Weile lächelnd, »ich kann nicht so zeitig einschlafen, sondern lese immer noch stundenlang im Bett. Oft bis nach Mitternacht. Aber vielleicht tun Sie das auch und verhängen nur die Fenster?«

»Nein. Ich lese nie im Bett. Man hat mir gesagt, daß es ungesund sei, und ich muß sagen, daß ich auch nie das Bedürfnis dazu habe. Ich brauche offenbar sehr viel Schlaf, denn kaum liege ich im Bett, fallen mir auch schon die Augen zu. Dann schlafe ich wie ein Sack ohne auch nur ein einziges Mal zu erwachen, bis der Tag mich weckt.«

»Beneidenswert! Freilich, wenn Sie Ihren Entschluß ausführen wollen, werden Sie diese gesunde Lebensweise gründlich ändern müssen. Aber da fällt mir eben etwas ein. Haben Sie gar keine Lust, Fräulein Remschmid, sich die russische Tänzerin anzusehen, die jetzt im Olympion auftritt?«

Die Frage kam so plötzlich, daß Heidy sich sofort sagte, sie müsse einen bestimmten Zweck haben. Eben darum antwortete sie möglichst unbefangen:

»Ich habe davon gelesen, aber da ich eben nicht in Wien bin, muß ich mir das Vergnügen – das übrigens vielleicht recht zweifelhaft ist – wohl aus dem Kopf schlagen.«

»Warum? Sie könnten doch hineinfahren? Eigentlich müßten Sie es sogar von Berufs wegen. Man muß Konkurrentinnen immer kennen lernen und ihnen abgucken, wie man es – nicht zu machen hat!«

»Das würde ich unter anderen Umständen gewiß auch tun. Aber von hier aus ist es doch unmöglich! Wie sollte ich denn nachts wieder herauskommen? Selbst wenn ich mir einen Wagen von Baden aus spendierte, würde ich mich so allein unterwegs in der Dunkelheit zu Tode fürchten. Ich habe Ihnen ja gesagt, daß ich ein Angsthase bin!«

»Nun, was das anbelangt,« sagte Frau Torwesten rasch mit großer Liebenswürdigkeit, »so gäbe es heute für Sie gerade eine sehr gute Gelegenheit, Fräulein Remschmid. Meine beiden Mädchen haben mich gebeten, ihnen heute den Abend frei zu gehen, damit sie ihre Angehörigen in Wien besuchen können. Es ist mir nicht recht gewesen, wegen des Menschen von gestern. Aber dann dachte ich, Barry wäre mir schließlich doch mehr Schutz als die beiden Mädchen. So erlaubte ich es. Sie fahren mit dem letzten Zuge heraus und von Baden her mit einem Wagen. Da können Sie sich ganz gut anschließen.«

Heidys Herz klopfte laut. Erst jetzt wurde ihr klar, warum Frau Torwesten heute so unruhig war und weshalb sie die Stunde ausfallen ließ um lieber zu plaudern. Sie wollte es dahin bringen, daß Heidy mit den Mädchen nach Wien fuhr. Sie sollten alle drei entfernt werden. Warum? Doch nur, weil Frau Torwesten für diese Nacht irgend etwas vor hatte. Vielleicht erwartete sie Besuch . . . oder . . .

»Nun, was sagen Sie dazu, Fräulein? Wäre das nicht eine gute Gelegenheit?«

»Eine ausgezeichnete sogar, gnädige Frau!«

In Frau Torwestens Augen blitzte es trotz aller Beherrschung freudig auf.

»Sie wollen also fahren?«

»Ja,« antwortete Heidy ruhig. »Wenn ich ganz sicher sein kann, daß Ihre Mädchen zum letzten Zug am Bahnhof sind. Wann geht dieser?«

»Ich glaube um halb zwölf. Natürlich werden die Mädchen dort sein. Dafür garantiere ich Ihnen.«

Man plauderte dann noch eine Weile über gleichgültige Dinge. Heidy spielte mit Barry, dem sie Kiessteinchen zuwarf, die er ihr bringen mußte. Dann erhob sie sich um zu gehen. Frau Torwesten begleitete sie. Am Tor bemerkte Heidy, daß sie ihr Täschchen in der Laube vergessen hatte, und lief rasch, um es zu holen. Dabei achtete sie zu wenig auf den lockeren Kies, der die Wege bedeckte, strauchelte plötzlich und stürzte der Länge nach zu Boden.

Frau Torwesten eilte erschrocken hinzu und wollte ihr aufhelfen. Aber Heidy sank mit einem Wehlaut wieder in die Knie.

»Ich kann nicht auftreten,« stammelte sie erschrocken, »ich werde doch den Fuß nicht gebrochen haben!?«

Frau Torwesten rief nach dem Stubenmädchen. Dieses mußte den Wirt und Anton holen, die beide dann Heidy hinüber in ihr Zimmer schafften.

»Wie schade,« sagte Frau Torwesten etwas ärgerlich, »daß Sie nun um das Vergnügen kommen, nach Wien zu fahren! Tut es denn sehr weh?«

»Ja. Sehr. Bitte, schicken Sie mir Karl herauf, liebe gnädige Frau, ich will ihn bitten, mir einen Arzt zu besorgen.«

Frau Torwesten ging. Als Karl kam, winkte ihn Heidy ganz dicht zu sich heran, damit niemand, der etwa draußen im Korridor stand, ihre Worte verstehen könne.

»Es ist gar nichts. Karl. Aber du mußt mir nun helfen. Kann ich mich ganz fest auf dich verlassen?«

»Wie auf sich selber, Fräulein!«

»Schön. Du bist ein braver Junge, und ich hoffe, es dir eines Tages lohnen zu können. Aber nun passe auf. Ich habe nur so getan, als hätte ich mir den Fuß verletzt, aber Frau Torwesten muß glauben, es stehe recht schlimm damit. Du schickst mir also jetzt durch Rosina eine Schüssel mit Eis herauf und einige Tücher, damit ich mir Umschläge machen kann. Dann nimmst du dein Rad und fährst nach Baden zu einem Arzt. Natürlich nur zum Schein. Du kannst sagen, er könne vor morgen nicht kommen, dann werde ich schon eine Ausrede finden, damit du ihn wieder abbestellen mußt. Ferner mußt du es hier und drüben recht verbreiten, daß ich den Fuß absolut nicht rühren kann, und er ganz dick aufgeschwollen ist. Bist du mit den beiden Mädchen drüben auf gutem Fuß?«

»Ja, sehr. Besonders mit der Köchin, der ich immer Kleinholz mache und den Kehricht forttrage.«

»Das ist gut. Suche unauffällig herauszubekommen, ob die Mädchen Frau Torwesten wirklich selbst gebeten haben, heute nach Wien fahren zu dürfen, oder ob es ihnen nahegelegt wurde! Ich muß das unbedingt wissen!«

Karl stieß einen leisen Pfiff aus.

»O, jetzt verstehe ich alles! Sie sollten wohl auch mit?«

»Ja.«

»Darf ich es Herrn Kobler sagen?«

»Wer ist das?«

»Der Geheimagent, von dem ich Ihnen heute erzählt habe.«

Heidy dachte einen Augenblick nach. Sie hätte gern allein den Ruhm gehabt, Frau Torwestens Absichten zu erkunden. Aber man konnte doch nicht wissen, was geschah. Wenn irgend ein Zufall sie daran hinderte, war vielleicht eine nie wiederkehrende Gelegenheit versäumt. Darum nickte sie.

»Gut. Sage es ihm meinetwegen. Aber erwähne mich ihm gegenüber gar nicht. Und schärfe ihm ein, sehr vorsichtig zu sein. Sie läßt heute nacht den Hund frei im Garten draußen.«

Karl eilte fort. Der Nachmittag verging Heidy in schlagender Langsamkeit. Gegen Abend kam Karl wieder. Es war, wie Heidy vermutet hatte: Man hatte den beiden Mädchen die Fahrt nach Wien förmlich in den Mund gelegt. Von selbst wären sie auf die Idee gar nicht verfallen, daß man ihnen mitten in der Woche Urlaub gebe.

Nach Karl erschien Jane, um sich im Namen ihrer Herrin nach Fräulein Remschmids Befinden zu erkundigen. Die gnädige Frau wäre selbst gekommen, fühle sich aber nicht wohl. Ihre Migräne sei im Anzug, weshalb Jane sie gebeten habe, sich lieber gleich niederzulegen, da es dann doch nie so schlimm würde, als wenn sie gewaltsam dagegen ankämpfe.

Heidy hatte Aehnliches erwartet.

Ihr Fuß lag hochgepackt auf einem Kissen, neben dem Sofa stand die Eisschüssel mit Kompressen. Rings um den Knöchel hatte sie den Fuß, um ihn recht dick erscheinen zu lassen, mit Watte umwunden, welche die darüber liegende Kompresse völlig verbarg. Als Jane teilnehmend den Fuß sehen wollte, schrie Heidy bei der ersten Berührung so schmerzlich auf, daß die Engländerin davon abstehen mußte. Heidy atmete auf, als diese Gefahr vorüber war. Dabei brannten ihre Wangen wie im Fieber. Aber das war nur Scham über die Komödie, die sie spielte.

Heimlich begriff sie sich selbst kaum. Woher kam ihr, die bisher stolz auch den kleinsten Unwahrheiten aus dem Wege gegangen war, auf einmal diese Meisterschaft im Lügen?

Heidy glaubte fast mit Sicherheit, daß Frau Torwesten heute nacht einen ihrer Brüder oder gar den alten Lytton selbst erwarte, der ihr sagen würde, wie Torwesten sich zu ihren Plänen verhielt.

Sie war fest entschlossen, diesem Menschen dann durch dick und dünn zu folgen, wenn nicht ganz unüberwindliche Schwierigkeiten es unmöglich machten. Sie versah sich mit Geld, zog bequemes Schuhwerk und ein fußfreies Kleid an und legte einen Wettermantel aus Loden zurecht, sowie eine englische Sportkappe, deren Schirm sich tief in die Stirn ziehen ließ.

Karl wurde instruiert, daß er, falls sie morgens noch nicht zurück sein sollte, keinen Menschen in ihr Zimmer ließe. Er solle sagen, sie schlafe noch. Käme sie dann auch am Vormittag nicht, möge er seine Verwandten teilweise ins Vertrauen ziehen und drüben sagen, der Arzt sei hier gewesen und habe für nötig gefunden, sie gleich mit nach Baden zu nehmen, da ihr Fuß eine Operation erfordere.

»Aber wird man dies auch glauben?« warf Karl ein. »Wenn der Wagen des Arztes von niemand gesehen worden ist?«

»Die drüben sehen gottlob nur ein Stück Straße, aber nicht den Eingang, der sich ja rückwärts befindet, wie die Einfahrt zum Hof. Wenn also deine Verwandten es bestätigen, so werden sie es wohl glauben müssen, da sie ja doch nicht jede Minute des Vormittags am Gartenzaun verbringen können.«

Karl schnitt ein betrübtes Gesicht.

»Wissen Sie, Fräulein, daß ich eigentlich hoffte, Sie würden mich mitnehmen?«

»Das geht nicht. Erstens weiß ich ja selbst noch gar nicht, wie lange ich fortbleiben muß. Es kann auch mit der Eisenbahn fort gehen. Zweitens mußt du mir hier den Rückzug decken, das siehst du wohl ein?«

»Ja. Aber wenn Ihnen etwas geschieht, Fräulein?«

»Wir stehen überall in Gottes Hand, Karl. Ich hoffe, er wird auch mich nicht verlassen. Und nun geh!«

»Gleich Fräulein. Erst aber muß ich Ihnen noch etwas geben.« Er drückte Heidy ein kleines Ding aus Nickel in die Hand.

»Das schickt Ihnen Herr Kobler. Er meint, er werde wahrscheinlich dasselbe tun wie Sie und sich deshalb nicht allzu weit von Ihnen befinden. Wenn Sie irgendwie in Gefahr wären, sollten Sie ihn durch die Signalpfeife herbeirufen. Er hat auch einen Revolver bei sich auf alle Fälle.«

Heidy war wieder allein. Draußen dämmerte es rasch. Ueber den Wipfeln des Waldhanges, an dessen Fuß die Villa lag, erschien ein schwacher, silberner Schein, den der aufsteigende Mond vor sich her sandte.

Die Mädchen drinnen waren längst fort. In den »Drei Linden« begab man sich zur Ruhe und gleich darauf erloschen auch drüben in den Fenstern der Villa die Lichter.

 


 << zurück weiter >>