Annie Hruschka
Das Haus des Sonderlings
Annie Hruschka

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5.

Heidy konnte die halbe Nacht nicht schlafen vor Aufregung. Immer, wenn Frau Siebert schon die Augen zufielen vor Schlaf, wurde sie wieder durch ein Wort der Tochter geweckt.

»Wir müssen ihn finden und retten!« wiederholte Heidy ständig. »Und ich bin so froh, daß eine Anzahl meiner Schülerinnen bereits aufs Land gegangen ist, denn dadurch habe ich selbst mehr Zeit.«

»Du?« fragte die Mutter erstaunt. »Was willst denn du tun dabei?«

»Auch nachforschen natürlich! Glaubst du, nur die Männer hätten dazu Geschick? Eine Frau ist oft noch viel schlauer, sage ich dir, Mama! Ich sehe schon eine Reihe von Punkten, die vielleicht sehr wichtig sind und die man bisher außer acht gelassen hat.«

»Du, Heidy?«

»Jawohl, Mama. Da ist z. B. vor allem die Klarstellung, ob diese Brothers Copley mit den Lyttons identisch sind. Es muß gelingen. Ich habe mir auch schon einen Weg dazu ausgedacht. Artisten sind doch, wenn sie etwas leisten können, in ihrer Welt bekannt. Wenn sie im Apollo niemand kannte, so kennen sie vielleicht Kollegen aus anderen Varietés.«

»Du kannst doch nicht mit solchen Leuten in Verkehr treten! Bedenke . . .«

»Ich bedenke nur, daß es sich um Georgs Leben handelt. Da kann ich alles, alles! Aber es wird ja vorläufig gar nicht nötig sein, persönlich mit allen in Verbindung zu treten. Die Tochter unserer Hausmeisterin ist Bühnengarderobière im Kaisergarten Olympion, hast du das vergessen?«

»Nein. Aber willst du denn eine solche Person ins Vertrauen ziehen?«

»Fällt mir gar nicht ein. Ich werde ihr die Sache schon ganz harmlos darstellen. Sagen wir, ein Bekannter von mir interessiere sich für die Copleys, die er im Apollo gesehen hat, und möchte aus Teilnahme gerne Näheres über sie erfahren. Berta Mandl sitzt an der Quelle. Sie soll fragen, immer, überall, wo sich ihr Gelegenheit bietet! Ich verspreche ihr ein Honorar, wenn sie mir jemand nennt, der die Copleys schon früher gekannt hat. Natürlich kaufe ich ihr vorher eine Photographie der drei Artisten. Dann fahre ich morgen nach Baden . . .«

»Wozu denn dies?«

»Dort wurde der Expreßbrief an Dr. Herrlinger aufgegeben. Herr Hempel meint, daß Warrik aus einem Zug ausgestiegen sei, weil er im Bahnhofsamt aufgegeben wurde. Aber ich bin anderer Ansicht. Ich glaube, Warrik hat die Eisenbahn gar nicht benutzt, sondern ist mit dem Auto weitergefahren. Er konnte so viel rascher vorwärts kommen und leichter unbemerkt bleiben. Den Brief ließ er Georg natürlich schon in Wien schreiben. Außerhalb der Stadt warteten seine Söhne auf ihn. Während der Alte dann den Brief aufgeben ging, muß das Automobil irgendwo gewartet haben. Sicher nicht weit vom Bahnhof. Kann es da nicht zufällig jemand gesehen haben? Wir wissen ja die Nummer – 417!«

»Aber der Chauffeur! Er mußte doch seiner Gesellschaft melden, wenn er sich verpflichtete, weiter zu fahren. Und warum kehrte er nachher nicht mit dem Fahrzeug zurück?«

»Das eben spricht dafür, daß die Lyttons keine Eisenbahn benutzten, sondern ihr Ziel mit dem Auto erreichen wollten! Sie waren ihrer drei – entweder zwangen sie den Chauffeur zum Gehorsam oder sie bestachen ihn durch Geld. Vielleicht nahmen sie ihm später auch das Fahrzeug ab und ließen ihn irgendwo zurück, und er traut sich nun nicht zum Vorschein zu kommen?«

»Was dir alles für Gedanken kommen, Heidy!«

»Ja, ich habe noch viele, viele! Aber dies sind die ersten, denen ich nachgehen will. Morgen habe ich nur zwei Stunden gleich in der Früh . . . Wollen wir dann nach Baden fahren, Mama?«

»Meinetwegen. Obwohl ich nicht begreife, wie du es anfangen willst, herauszubekommen . . .«

»O, das wird mir schon der Augenblick eingeben. Nachher könnten wir den Tag durch einen Ausflug zu den ›drei Linden‹ beschließen. Was meinst du? Ich möchte gar zu gerne wenigstens von außen das Haus sehen, in dem Georg wohnte!«

»Gut. Auch das können wir tun. Nun aber wollen wir endlich schlafen, Heidy!«

Es schien, als ob sich Heidys Berechnung als richtig erweisen wollte. Als die beiden Damen am nächsten Vormittag mit der Südbahn in Baden anlangten und Heidy zunächst die Umgebung des Bahnhofs einem kritischen Blick unterzog, fiel ihr ein Zeitungskiosk auf, in dem sich auch ein Tabakstand befand.

Eine alte Frau war am Schalter sichtbar. Heidy Siebert trat entschlossen auf sie zu und begann, während sie eine Morgenzeitung kaufte, ein Gespräch mit der Alten.

Sie erfuhr, daß der Kiosk bis zehn Uhr geöffnet sei und daß allerdings vor ein paar Tagen – an das Datum erinnerte sich die Frau nicht mehr – abends ein Automobil gehalten habe, dessen Nummer 417 gewesen sei. Die Nummer sei zwar nicht, wie es doch Vorschrift sei, beleuchtet gewesen, aber das Licht einer Bogenlampe fiel darauf, so daß die Verkäuferin sie deutlich lesen konnte.

Ein alter Mann war ausgestiegen und nach dem Bahnhof gegangen, während das Auto links ab in einen Feldweg lenkte, der später wieder in die Reichsstraße mündete.

»Konnten Sie vielleicht auch sehen, was für Leute drin saßen?« fragte Heidy.

»Nicht genau. Drei oder vier werden es wohl gewesen sein. Einer saß vorne neben dem Chauffeur. Uebrigens war es eine besoffene Bande. Einer lag quer über die Sitze, als sei er schon ganz voll und toll getrunken. Ein anderer sang laut und die beiden vorn am Lenksitz pfiffen um die Wette. Der einzig Nüchterne war wohl der Alte.«

»Blieb das Auto hier in der Nähe stehen?«

»Ja, ein Stück draußen zwischen den Feldern, Sie können von hier aus hinsehen, Fräulein. Dort wartete es auf den Alten, und dann fuhren sie wie der Wind nach der Reichsstraße hinüber und weiter nach Süden. Kennen Sie vielleicht die Leute, die darin waren.«

Heidy besann sich nicht lange.

»Ich fürchte sehr, es war mein Bruder mit drinnen,« antwortete sie betrübt, »er ist in schlechte Gesellschaft geraten und seit einigen Tagen verschwunden. Wir fürchten, daß er durchgebrannt ist, möchten aber keine Anzeige machen. Wenn Sie vielleicht zufällig etwas Weiteres über das Automobil erfahren könnten, wären wir Ihnen sehr dankbar, liebe Frau. Hier ist meine Adresse, falls Sie mir etwas mitzuteilen hätten.« Sie drückte der Alten einen Zettel und ein paar Geldstücke in die Hand.

»Begreifst du, warum sie sangen und pfiffen?« fragte Frau Siebert im Weitergehen kopfschüttelnd. »Dadurch lenkten sie nur die Aufmerksamkeit auf sich!«

»Aber in harmloser Weise! Lustigen Zechbrüdern traut man kein Verbrechen zu. Doch es kann auch noch aus einem anderen Grunde geschehen sein. Sie machten vielleicht Lärm, damit der Chauffeur, falls Georg aus seiner Betäubung erwachte und sprach, nichts verstehen konnte.«

»Ich hätte nicht gedacht, daß wir so schnell etwas erfahren würden. Freilich ist es nicht viel.«

»Es ist fast mehr, als ich erwartete. Wir wissen nun doch, daß die Flucht im Auto fortgesetzt wurde und welche Richtung sie einschlugen!«

»Nach Süden auf der Triester Reichsstraße! Wenn man alle Ortschaften und Häuser von Wien bis Triest absuchen wollte, brauchte man ein Jahr!«

»Du vergißt, Mama, daß es Telegraph und Gendarmerie gibt. Herr Hempel wird diese schon in Bewegung setzen. Aber wie ist es nun, wollen wir gleich zu den »Drei Linden« weiterwandern oder wird es dir in der Mittaghitze zu anstrengend sein? Wir haben, wie die Frau sagt, über eine Stunde zu gehen und teilweise zu steigen!«

»Das macht nichts. Es soll ja auch durch Wald gehen. Und um so besser wird uns dann das Mittagsmahl schmecken.«

So wanderten sie weiter. Anfangs rüstig ausschreitend, später langsamer und matter, denn es war ein außergewöhnlich schwüler Tag. Da es seit fünf Tagen nicht geregnet hatte, war der Erdboden hart und trocken und in der Sonne ganz gesprungen; dabei wehte nicht das leiseste Lüftchen.

Ab und zu fragten sie bei Feldarbeitern um den Weg, der zwar nicht zu fehlen war, ihnen aber in der drückenden Hitze unerwartet lang schien.

Endlich – Frau Siebert konnte kaum mehr weiter – waren die »Drei Linden« erreicht und beide Frauen sanken aufatmend auf die erste schattige Bank des kleinen Gartens.

 


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