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Achtzehntes Kapitel. Die geladenen Gäste

Charles Langholms Träume von einem rosenumrankten Häuschen hätten kaum eine reizendere Verwirklichung finden können als in seinem jetzigen Heim, das auf einer bewaldeten Anhöhe in der Nähe eines Dorfes, etwa drei Meilen von Normanthorpe entfernt lag. Es bestand eigentlich aus zwei unter demselben Ziegeldache liegenden Häuschen, von denen das eine von einem ehrenwerten Ehepaar bewohnt wurde, das für das bescheidene Leben des Schriftstellers sorgte, das dieser führte, solange er sich an der Arbeit befand. Während der Erholungszeit verweilte er indes nur selten an diesem schönen Ort. Da pflegte er dann einem Hang zum Nomadenleben rückhaltlos nachzugeben, und aus dem anspruchslosen Träumer wurde dann plötzlich ein auf dem Kontinent herumirrender Wanderer. Dieser Wandertrieb hatte jedoch seit der Zeit, daß Langholm nicht mehr in London lebte, etwas nachgelassen, da er auf jenem abgelegenen, aber so poetischen, lieblich duftenden Fleckchen Erde den Frieden fand, den er während zwanzig Jahren ernsten, mannhaften Strebens höher schätzen gelernt hatte als das, was man so Glück nennt.

Die Rosen waren indes nicht die einzigen Vorzüge dieses idealen Tuskulums, obwohl es während der Sommermonate einem Menschen mit sehenden Augen und feiner Nase schwer fallen mußte, daneben auch die andern zu würdigen. Ein entzückendes Zimmer ging durch die ganze Tiefe des Häuschens, und hier war es, wo Langholm arbeitete, aß, rauchte, las und überhaupt seinen Tag verbrachte. Daneben lag das Badezimmer und in einem an dieses sich anschließenden Raum stand sein Bett. Von den Wohngelassen im oberen Stockwerk machte er keinen Gebrauch. Dort befand sich die nun vernachlässigte Einrichtung für einen größeren, anspruchsvolleren Haushalt. Langholm aber setzte kaum je einmal den Fuß auf die Treppe. Die unteren Zimmer waren äußerst einfach ausgestattet. In Langholms Arbeitszimmer befanden sich außer dem soliden alteichenen Schreibtisch und einigen bequemen Lehnstühlen nur wenige Möbel. Die vorhandenen Bilder stellten meist nur Photographieen andrer Schriftsteller dar, während wertvolle Gemälde oben verstaubten.

Obwohl durch und durch Künstler- und Dichternatur – wenn auch seine Produktion die Vollkommenheit lange nicht erreichte –, hatte Langholm sich schon seit Jahren daran gewöhnt, in den Wechselfällen seiner Arbeit die Anregung zu finden, die ihm als Würze des Lebens unentbehrlich war. Erst nach Beendigung eines Werkes pflegte er das Gefühl der Vereinsamung zu empfinden. Während der letzten Wochen aber war weder das eine noch das andre der Fall gewesen. Von einer fortgesetzten inneren Hast und Unruhe gehetzt, hatte er sein letztes Buch geschrieben; nicht langsam und gleichsam von selbst war es entstanden wie die übrigen ehrbaren Glieder der großen, aber kurzlebigen Familie, der es angehörte. Auch einsam hatte sich Langholm nicht gefühlt während der kurzen Rast, die er sich zwischen den letzten Kapiteln gegönnt hatte. Er war dann im Gegenteil mit lebhaft angeregtem Gesicht zwischen seinen Rosen umhergegangen wie ein Mann, der sich auf dem Höhepunkt einer interessanten Unterredung mit einem verwandten Geiste befindet, obwohl er in Wirklichkeit allein war. Der Mann schrieb eben Romane, und solange er daran arbeitete, waren sie für ihn Leben und Wirklichkeit. Man muß allerdings sagen, daß der Schriftsteller eines Nachmittags, als das Ehepaar Steel zu ihm zum Tee kam, mit demselben strahlenden Gesicht in seinem Garten umherging, wie er es in letzter Zeit während seiner Ruhepausen getan hatte, aber auch das war ja eigentlich nicht zu verwundern.

Eine Veränderung kam erst mit jenem Tage über ihn, als er nach Vollendung seines Buches sich in Staat geworfen und in angemessener Stimmung zu dem Gartenfest nach Hornby Manor geradelt war. Gegen sieben Uhr kehrte er dann an diesem Abend zurück, stieg schwerfällig außerhalb der Gartenhecke von seinem Rad und schob es durch das enge Pförtchen – ein ganz verwandelter Mann.

Die nebenan wohnende Frau, die damit beschäftigt war, ihm ein umfangreicheres Mahl zu bereiten, als er es sich je selbst bestellt hätte, bemerkte sofort, daß irgend etwas bei ihm nicht in Ordnung sein könne, denn er begab sich direkt zu seinen Rosen, ohne den Gesellschaftsanzug gegen seinen abgetragenen Hausrock zu vertauschen, den er schon diesen und den vorhergehenden Sommer getragen hatte.

Der ganze, hinter den beiden Häuschen gelegene Garten gehörte Langholm allein. Wäre er eben gewesen, so hätte man kaum die Größe eines Tennisplatzes herausbekommen, und doch enthielt dieses kleine Stück Erde nahezu alles, was man in einem Garten zu finden erwartet. An der einen Seite standen hohe Tannen, hinter denen die Sonne unterging, so daß der Garten zu der Zeit, wenn Langholms Morgenarbeit beendet war, schon in genügendem Schatten lag. Auch ein kleiner Grasplatz, groß genug für einen Rohrlehnstuhl und eine Matte davor fehlte nicht. Dem Fenster gegenüber, an dem Langholm arbeitete, lief eine Hecke von wilden Rosen hin, die jedoch gerade an der richtigen Stelle eine Lücke zeigte, um dem beneidenswerten Langholm einen freien Ausblick über ein grünes Tal und waldgekrönte Hügel zu gewähren. Und Rosen, Rosen überall, angepflanzt von dem früheren Besitzer des Häuschens, einem in den Ruhestand getretenen Gärtner – einem größeren Künstler in seinem Fache, als Langholm es in dem seinigen war – einem Manne, der sich auf Rosen verstand!

Am Hause hinauf kletterten ein William Allen Richardson und zwei Gloire de Dijon, diese eben im Aufblühen, während die andre von dem Blütenüberfluß des Juni noch etwas übrig behalten hatte. In der südöstlichen Ecke prangte ein Crimson Rambler in seiner roten Pracht, während Karoline Testout, Margaret Dickson, La France, Madame Lambard und Maman Cochet vom zartesten rosigen Hauch bis zum feurigsten Rot erglühten oder sich in ihrer kühlen weißen Schönheit an die Rosenhecke schmiegten. Als Langholm seinen Wohnsitz unter dieser glänzenden Versammlung aufgeschlagen, hatte er keine Rose von der andern unterscheiden können, und nun waren sie ihm alle zu persönlichen, vertrauten Freundinnen geworden, von denen jede in seinen Augen ihren eigenen Charakter und Reiz hatte, und die alle ihren mildernden, veredelnden Einfluß auf ihn ausübten. An diesem Abend jedoch dufteten sie ihm unbeachtet entgegen, und die Abendsonne, die die Spitzen der Tannen vergoldete und die Dachziegel seines geliebten Häuschens mit einem warmen Schimmer überhauchte, vermochte Langholms Aufmerksamkeit ebensowenig auf sich zu ziehen als seine vergötterten Rosen.

Aus dem traumhaften, ästhetischen Dichterdasein, in das er sich durch das Zusammenleben mit all dieser schlichten Schönheit allmählich hatte hineintreiben lassen, war der Mensch Langholm nun plötzlich zur Wirklichkeit erwacht. Er befand sich in echt menschlicher, nagender Sorge, und schon war er dadurch männlicher geworden.

Konnte er sich nicht doch vielleicht getäuscht haben? Nein, je mehr er grübelte, desto mehr befestigte sich seine Überzeugung. Alles seit jener ersten Gesellschaft in Upthorpe und jenem ersten Gespräch, von dem ihm jedes Wort in Erinnerung geblieben war, wies auf denselben Schluß hin. Mrs. Steel war Mrs. Minchin – die berüchtigte Mrs. Minchin – dieselbe Mrs. Minchin, die der Ermordung ihres Mannes angeklagt und zum Entsetzen einer gerechtigkeitliebenden Welt freigesprochen worden war!

Er aber war im Begriff gewesen, ein Buch über sie zu schreiben, und sie selbst hatte ihm die Idee dazu eingegeben!

War es denn aber auch wirklich so? Im Scherz hatten sie wohl viel über Mrs. Minchins Roman, den er auf Mrs. Steels Anregung zu schreiben gedachte, gesprochen, und bis jetzt waren ihm diese Gespräche auch wirklich mehr nur wie ein Scherz vorgekommen, heute aber erschienen sie ihm plötzlich wie ein geistiges Band zwischen ihnen.

Langholm erinnerte sich mehr als einer Unterhaltung über dieses Thema. Es hatte entschieden einen ganz besonderen Zauber für Rahel gehabt – nicht ohne eine gewisse Mißbilligung machte Langholm sich das jetzt klar. Dann fiel ihm plötzlich ein, daß alle jene Gespräche in derselben Weise geendet hatten, und seine momentane Unzufriedenheit verwandelte sich sofort in das innigste Mitgefühl, eine Empfindung, die ihm selbst wohltat. Ausnahmslos hatte Rahel am Schluß einer jeden derartigen Unterhaltung unter diesem oder jenem geschickten Vorwande eine erneute Versicherung verlangt, daß er an die Unschuld Mrs. Minchins glaube. Langholms Gesicht strahlte förmlich, als sein Gedächtnis ihm diese Überzeugung bestätigte.

Nicht ein krankhafter Kitzel war es gewesen, was Rahel dazu getrieben hatte, so gern über ihren Prozeß und Langholms schriftstellerische Idee zu sprechen, vielmehr wollte sie sich die berechtigte und begreifliche Befriedigung verschaffen, immer wieder von einem Dritten zu hören, daß dieser an ihre Schuld nicht glaube.

Und tat er das denn nicht auch? Langholm unterbrach seinen Gang durch die duftgeschwängerte Abendluft, während er diese Gewissensfrage an sich stellte. Und sein Schritt war lebhafter, sein Gesicht noch strahlender, als er seinen Gang wieder aufnahm.

Ja, so gewissenhaft er sich auch prüfte, in dieser Hinsicht wenigstens konnte er mit sich zufrieden sein. Gott sei Dank, über diesen Punkt war er immer der gleichen Ansicht gewesen, lange bevor er die frühere Mrs. Minchin von Angesicht zu Angesicht gekannt hatte. Auch ausgesprochen hatte er ihr gegenüber diese Ansicht, lange ehe eine Ahnung vom Geheimnis ihrer Identität in ihm aufdämmern konnte. Wenn es nun auch zum Schlimmsten kommen sollte, an seiner Aufrichtigkeit wenigstens konnte niemand zweifeln. Hatte er nicht schon damals, als der Urteilsspruch bekannt wurde, Mr. Venables gegenüber seine Überzeugung verfochten, und hatte er Rahel nicht an jenem Abend ihres ersten Zusammentreffens davon erzählt?

Ja, wenn es auch je zum Schlimmsten kommen sollte, Langholm fühlte sich seiner sicher. Daß er selbst keinen plötzlichen schlimmen Ausgang voraussah, verriet immerhin eine kleine Schwäche. Zwei Personen hatten bei einem Gartenfest eine ganz kurze Unterredung miteinander gehabt, und die Verwirrung dieser beiden war von noch kürzerer Dauer gewesen. Nur ein halbes Dutzend Personen hatten der Begegnung angewohnt, und den übrigen fünf tat Langholm nicht die Ehre an, ihnen die gleiche scharfe Beobachtungsgabe zuzuerkennen, die er sich selbst zuschrieb. Und auch wenn sie diese Gabe gehabt hätten, so hielt er es doch nicht für möglich, daß sie die gleichen Schlüsse daraus ziehen könnten wie er. Und das war auch ganz richtig; allein Langholm hatte den verhängnisvollen Fehler begangen, die Dame zu übersehen, deren Tischnachbar er in Upthorpe Hall gewesen und die er in Hornby Manor kaum beachtet hatte. So wenig er selbst im Zweifel über die Bedeutung dessen war, was er mit seinen eigenen Augen gesehen hatte, ebenso sicher schmeichelte er sich, daß er der einzige sei, der etwas von dem wahren Sachverhalt ahne, wobei er allerdings, wie es auch der Fall war, auf die Verschwiegenheit Sir Baldwin Gibsons rechnete.

Je tiefer indes das Geheimnis war, um so interessanter erschien die Lage dem Eingeweihten. Langholm verlebte eine schlaflose Nacht, und obwohl sich seine Ansichten während all dieser Stunden nicht änderten, so stiegen ihm über einen Punkt doch schwere Zweifel auf. Es war kaum möglich für ihn, wieder mit Mrs. Steel zusammenzutreffen, ohne mit ihr von dem geplanten Roman zu sprechen, über den sie sich schon so häufig unterhalten hatten, und den zu beginnen ihm nun nichts mehr im Wege stand. Ebensowenig aber vermochte er, dieses Thema zu berühren, ohne seine Entdeckung preiszugeben, die ihm so lange auf den Lippen brennen würde, bis er sie ausgesprochen hätte. Charles Langholm und Rahel Steel hatten unter einigen gemeinschaftlichen Vorzügen auch den übertriebener Aufrichtigkeit – falls man dies nicht eher einen Nachteil nennen will.

Der Schriftsteller pflegte nach Beendigung einiger Abschnitte seiner Romane das Geschriebene wieder vorzunehmen und zu korrigieren, was immer eine höchst peinliche Arbeit für ihn war. Diesmal ließ sich jedoch der sonst so gewissenhafte Autor ausnahmsweise von dieser Abneigung besiegen und packte, nachdem er sich einen Vormittag lang mit einem einzigen unglückseligen Kapitel abgequält hatte, den übrigen Teil samt all seinen Mängeln zusammen, schickte das Manuskript ab und bestieg sein Rad, um seine Gedanken in ein andres Fahrwasser zu bringen. Allein auch dieser so unschuldige Zeitvertreib verfehlte seine sonstige Wirkung vollkommen. Nicht eine erdichtete Heldin war es, die den Schriftsteller quälte, sondern ein Weib von Fleisch und Blut, das er gern hatte, und deren Mann, den er nicht leiden mochte – eine Abneigung, die sich erst während der Vormittagsarbeit bei Langholm eingeschlichen hatte, denn es muß zugegeben werden, daß ihm Steel noch vor einem Jahre durchaus nicht unsympathisch gewesen war.

Was für ein geheimer Grund mochte die Frau, deren erste traurige Ehe vor so kurzer Zeit erst durch den Tod gelöst worden war, zu einer Wiederverheiratung bewogen haben? Konnte es Liebe gewesen sein? Nicht einen Augenblick lang hielt Langholm dies für möglich. Steel liebte seine Frau nicht, und daß dieser selbst nicht viel Liebenswertes an sich hatte, erschien Langholm jetzt über jeden Zweifel erhaben. Er fing sogar bereits an, den Mann zu hassen, der es nicht einmal für der Mühe wert hielt, sich wenigstens den Anschein zu geben, als liebe er seine Frau. Ein Fremder konnte ja beim ersten Blick sehen, auf was für einem seltsamen Fuße dieses Ehepaar miteinander lebte.

Wie war also diese Heirat zu erklären – zu entschuldigen? Es hieß, sie hätten sich auf dem Kontinent verheiratet. Dies war eine der wenigen Angaben, die Steel den Bekannten gegenüber zu machen geruht, und die Langholm zufällig als erster von ihm erfahren hatte. Entsprach sie der Wahrheit, und kannte Steel die Vergangenheit seiner Frau?

Ein phantasievoller Mensch ist stets geneigt, Schlüsse aus Tatsachen zu ziehen, die er unwillkürlich selbst erfunden hat. Auch Langholm stellte während der vierundzwanzig Stunden, die ihn von der Heldin und dem Schurken seines Phantasiegebildes trennten, ein ganzes Heer von Vermutungen und erdichteten Tatsachen auf. Die wahrscheinlichste schien ihm zu sein, das Paar sei an irgend einem abgelegenen Ort auf dem Kontinent zusammengetroffen, wo Rahel sich vor den Augen der Welt verborgen gehalten hatte, und sie sei dann, an der Hoffnung, je einmal eine gerechte Beurteilung bei ihren Mitmenschen zu finden, verzweifelnd, eine Ehe mit dem reichen Manne eingegangen, ohne ihm zu gestehen, wer sie eigentlich sei. Die nachherige Entdeckung ihrer Identität erschien Langholm als die einzig mögliche Erklärung für Steels kühle Behandlung seiner Frau.

Obwohl Langholm es ja niemals, auch sich selbst nicht eingestanden hätte, so hoffte er doch beinahe, daß Steel nicht vollständig von der Unschuld seiner Frau überzeugt sein möchte.

Der Abend, an dem das Diner in Normanthorpe stattfinden sollte, war so schön und die Straße so trocken, daß Langholm sich auch jetzt wieder auf sein Rad schwang. Wie er, um sich nicht zu erhitzen, ganz langsam in Frack und Zylinder daherstrampelte, machte er eine höchst komische Figur.

Das Glück war Langholm jedoch nicht hold, denn man hatte angefangen, die Hecken längs der Straße zu stutzen, und ein verhängnisvolles Stoßen auf einem sonst gänzlich ebenen Wege führte zu der Entdeckung, daß sein Pneumatik durchlöchert war, während er noch eine ganze Meile von Normanthorpe entfernt war. So blieb dem unglücklichen Radfahrer nur die Wahl, entweder neben seinem Rad herzulaufen oder sich auf dem schlappen Pneumatik mühsam fortzubewegen. Und da er zwischen beidem abwechselte, so kam er schließlich doch sehr erhitzt und ziemlich verspätet an.

Er fürchtete, sich sogar sehr verspätet zu haben, denn auf der langen Straße entdeckte er weder vor noch hinter sich einen Wagen, und auch die Tür in Normanthorpe wurde ihm erst auf sein Klingeln geöffnet, obwohl es bei festlichen Gelegenheiten sonst dessen nicht bedurfte. Nachdem sich die Tür dann vor ihm aufgetan hatte, kam es ihm seltsam still im ganzen Hause vor, auch lag auf dem Gesicht des Dieners, der den verspäteten Gast in einen menschenleeren Salon führte, ein ganz eigentümlicher Ausdruck. Langholm drängte sich deshalb immer mehr die Überzeugung auf, daß er sich im Tage getäuscht haben müsse, und dieses Gefühl wurde durch Steels Erscheinen, der seine Serviette in der Hand hielt, nicht gehoben.

»Ich muß mich im Datum geirrt haben,« rief der mit Schweiß bedeckte Schriftsteller.

»O nein, durchaus nicht,« erwiderte Steel, »wir dachten nur, Sie kämen überhaupt nicht.«

»Habe ich mich denn wirklich so sehr verspätet?« fragte Langholm, dem es nachgerade lieber gewesen wäre, wenn er den Tag verwechselt hätte.

»Nein,« sagte Steel, »nur wenige Minuten; die Schuld trifft uns ganz allein. Wir glaubten nämlich, Sie würden auch wegbleiben wie alle andern.«

»Wie – alle – andern?«

»Mein lieber Freund,« fuhr Steel fort, über dessen Gesicht beim Anblick von Langholms Bestürzung ein unwillkürliches Lächeln huschte, »ich bitte Sie demütig um Entschuldigung, Sie auch nur einen Augenblick auf gleichen Rang mit unsern liebenswürdigen Nachbarn gestellt zu haben, denn es ist Tatsache, daß mit Ausnahme von zweien alle noch in letzter Stunde abgesagt haben.«

»Von mir ist aber doch keine Absage gekommen,« sagte Langholm, der zu begreifen anfing, was geschehen war.

»Allerdings nicht, und meine Frau war auch fest davon überzeugt, daß Sie kommen würden. So bin also ich allein der Schuldige. Nicht wahr, Langholm, Sie standen dicht hinter ihr, als ihr gestern der alte Präsident vorgestellt wurde?«

»Ja.«

»Haben Sie erraten, wer sie war, ehe sie mich geheiratet hat, oder ist es Ihnen von jemand erzählt worden?«

»Ich habe es erraten.«

Steel schwieg einen Augenblick, während er mit fest zusammengepreßten Lippen den ruhig prüfenden Blick auf Langholm geheftet hielt. Dabei sah sein vom elektrischen Licht bestrahltes Gesicht so frisch aus wie das eines jungen Mannes, während sein schneeweißes Haar wie gesponnenes Silber glänzte. Auch Langholm schaute den Mann, der ihn betrachtete, scharf an, und es war ihm unmöglich, ihn so zu hassen, wie er eigentlich wollte.

»Haben Sie auch jetzt noch Lust, sich an unsern Tisch zu setzen?« fragte der Hausherr endlich.

»Ich möchte nicht gern im Wege sein,« stammelte Langholm, »nach so schmerzlichen ...«

»O, darum handelt es sich nicht,« unterbrach ihn Steel. »Sind Sie sich aber auch ganz klar, daß Sie die Bekanntschaft mit uns nicht abbrechen wollen?«

»Sie wissen, daß dies nicht meine Absicht ist,« antwortete Langholm einfach.

»Dann kommen Sie, bitte, hinein, und nehmen Sie mit uns vorlieb.«

»Warten Sie noch einen Augenblick, Steel! All dies ist mir noch ganz unfaßlich. Wollen Sie damit sagen, daß Ihre Gäste Sie im Stich gelassen haben, weil – weil –«

»Weil meine Frau, ehe sie den Namen Steel angenommen hat, eine gewisse Mrs. Minchin gewesen ist! Ja, alle, außer unserm Pfarrer und seiner Frau, die sich als wahre Freunde bewährt haben.«

»Auch ich bin ein solcher Freund,« beteuerte Langholm hinter seinem großen Schnurrbart hervor.

»Sogar die Diener kündigen, einer um den andern.«

»Auch ihr Diener bin ich,« murmelte Langholm, während Steel zur Seite trat, um ihn an sich vorüber ins Speisezimmer gehen zu lassen. Diesmal aber kamen die Worte so leise, wenn auch aus tiefstem Herzen, über seine Lippen, daß nur er selbst sie hören konnte.


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