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Sechzehntes Kapitel. Ein würdiger Gegner Mrs. Venables'

Dies war absolut alles, was sich beim Uniackeschen Gartenfeste zutrug. Kein Auftritt, kein Skandal, kein Zwischenfall außer jener offenbar gegenseitigen Erkennungsszene zwischen Mrs. Steel und dem Gerichtspräsidenten Gibson. Und auch hierbei war kaum ein halbes Dutzend Personen zugegen gewesen, die allen Grund zu der Annahme gehabt hätten, daß entweder sie selbst oder das fragliche Paar sich getäuscht haben müßten. Denn wahrhaftig bewunderungswürdig war die Geistesgegenwart und Herzensgüte, die Sir Baldwin Gibson beim Gespräch mit jener Frau an den Tag legte, gegen die vor kaum einem Jahre unter seinem Vorsitz die Anklage auf Mord erhoben worden war. Und auch hinter ihrem Rücken setzte er seine Menschenfreundlichkeit fort.

»Sonderbar,« sagte er bei der ersten passenden Gelegenheit zu seiner Gastgeberin, »aber im ersten Augenblick hätte ich darauf schwören können, jene Dame früher schon einmal gesehen zu haben. Darf ich fragen, wer sie eigentlich ist?«

»Gewiß, Sir Baldwin,« erwiderte Mrs. Uniacke, »aber ich hatte im Gegenteil schon gehofft, wir würden nun von Ihnen Näheres über sie erfahren, denn denken Sie nur, niemand von uns weiß, wo sie herstammt. Aber was schadet das schließlich? Sie ist hübsch und liebenswürdig, und ich persönlich habe sie schon ganz in mein Herz geschlossen. Aber auch über die Herkunft ihres Gatten weiß man nicht viel mehr, und so wird eben allerlei über die Leute gemunkelt.«

Einige weitere Fragen bewiesen dem Richter zur Genüge, daß er sich nicht getäuscht haben konnte. Trotzdem hielt er noch immer mit seiner endgültigen Ansicht zurück, denn er war ein gewissenhafter Mann. Allein Rahels Züge im Verein mit ihrer Geistesgegenwart hatten einen nun fast ein Jahr alten Eindruck von neuem bestärkt. Die auffällige Nähe einer hageren Dame mit einer Adlernase, der Sir Baldwin nicht vorgestellt worden war, die ihm aber nichtsdestoweniger jedes Wort von den Lippen las, beseitigte die letzten Bedenken des Schwankenden.

»Solche Ähnlichkeiten sind höchst trügerisch,« sagte er, die Stimme erhebend, damit seine Worte der unberufenen Zuhörerin ja nicht entgehen sollten. »Ich will für die Zukunft eine Lehre daraus ziehen. Ihnen, Mrs. Uniacke, brauche ich wohl nicht zu versichern, daß ich jene Dame, die mein ungeschicktes Benehmen, wie ich fürchte, in Verlegenheit versetzt hat, früher niemals gesehen habe.«

Auch mit ihrem Begleiter hatte Rahel in dem Augenblick, der sie beinahe verraten hätte, Glück. Dem harmlosen Hugh Woodgate war bei der Vorstellungsszene nichts aufgefallen; der überwältigende Eindruck, den ein so »großes Tier« auf Mrs. Steel machen mußte, erklärte ihm ihre Verlegenheit ausreichend. Er hielt die Sache nicht einmal für der Mühe wert, sie seiner Frau gegenüber zu erwähnen, nachdem Steels das Ehepaar nach einer hübschen, aber ziemlich schweigsamen Fahrt vor dem Gittertor des Pfarrhauses abgesetzt hatten. Ebensowenig fühlte Rahel sich verpflichtet, ihrem Manne gegenüber diesen Zwischenfall zu erwähnen. Es gewährte ihr eine gewisse, ihrer allerdings unwürdige Befriedigung, nun auch vor ihm etwas zu verbergen. Allein auch diesmal unterschätzte sie seine unheimliche Beobachtungsgabe, denn er vergalt ihr sofort Gleiches mit Gleichem, indem er sie durch die genaue Kenntnis dessen, was sie so ängstlich für sich hatte behalten wollen, überraschte.

»Du hast den Präsidenten natürlich wiedererkannt?« sagte Steel, nachdem er seiner Gattin ausnahmsweise in ihr Privatzimmer gefolgt war, wo er sofort die Tür hinter sich und eine zweite am entgegengesetzten Ende des Zimmers schloß, während Rahel ihm sprachlos in die funkelnden Augen schaute.

»Natürlich,« gab sie mit aufreizender Gelassenheit zu.

»Und er dich?«

»Ich dachte es zuerst, nachher war ich jedoch nicht mehr so ganz davon überzeugt.«

»Aber ich bin es,« stieß Steel zwischen den Zähnen hervor.

Rahels Gesicht drückte halb Überraschung, halb Ungläubigkeit aus.

»Wie willst du das wissen?« fragte sie kalt. »Du warst in jenem Augenblick ja mindestens hundert Meter weit entfernt: ich sah dich mit Morna Woodgate sprechen.«

»Glaubst du, meine Augen könnten nicht eine Strecke von hundert Meter übersehen,« entgegnete Steel, »wenn du dich an deren Ende befindest? Ich beobachtete den ganzen Vorgang, seine Bestürzung und die deinige – aber damals wußte ich noch nicht, wer er war. Er mußte bei unsrer Ankunft im Hause gewesen sein, sonst hätte ich schon Sorge getragen, daß du nicht mit ihm zusammengetroffen wärst. Was ich jedoch bemerkte, veranlaßte mich, in deine Nähe zu kommen, um noch mehr zu sehen und zu hören. Ich hörte die Art, wie er mit dir sprach, diese verfluchte Gutmütigkeit, die uns den Kuckuck was hilft, denn trotz allem sind wir nun in seiner Gewalt.«

Rahel hatte ihren Mann noch nie so heftig gesehen. Er sah noch blasser aus als gewöhnlich, seine Augen funkelten mehr denn je, und aus seinen Lippen war vollends alles Blut gewichen. Rahel überkam plötzlich ein seltsames Überlegenheitsgefühl und damit auch die unwiderstehliche Versuchung, Rache an ihm zu nehmen, auch wenn diese, wie sie wohl fühlte, nur kleinlich sein konnte. Allein sie hatte schon so viel durch ihn gelitten, nun sollte endlich auch er einmal daran glauben. Er konnte ja kalt wie Eis sein, während in ihr das Blut kochte. Er konnte ihr sein Vertrauen vorenthalten, obwohl sie ihm flehend fast zu Füßen gefallen war. Mochte er nun an sich erfahren, so behandelt zu werden, wie er sie behandelte.

»Ich bin mir dessen sehr wohl bewußt,« sagte sie mit hartem, grausamem Auflachen, »obwohl ich durchaus nicht glaube, daß er mich verraten wird. Übrigens ist es im Grunde auch ganz gleichgültig, ob er es tut oder nicht.«

Sprachlos starrte Steel sie an, mit einem Ausdruck, der Rahel die höchste Befriedigung gewährte.

»Gleichgültig ist es?« wiederholte Steel voll zorniger Verwunderung.

»Mir wenigstens,« erwiderte Rahel bitter. »Da du kein Vertrauen zu mir hast – warum soll mir da nicht schließlich alles gleichgültig werden? Wenn du mir einmal gestehen willst, aus welchem Grunde du dich verpflichtet sahst, mich zu heiraten, wenn du den Mut findest, mir das zu sagen, dann werden andre Dinge vielleicht auch wieder anfangen, Bedeutung für mich zu gewinnen.«

Steel starrte sie noch durchdringender an als zuvor, und während diese blitzenden Augen unverrückt auf sie gerichtet waren, schien es fast, als vereinige sich ihr Funkeln zu einem einzigen unheimlichen Strahl. Und doch war sein Blick nicht grausam, sondern nur der Blick eines Mannes, der seine Lippen in einem Punkt für immer versiegelt hat und der jede Frage darüber als einen Eingriff in seine persönlichen Rechte ansieht. Es lag mehr Selbstverteidigung als wirkliche Feindseligkeit in diesen zusammengepreßten Lippen, dem blutleeren Gesicht und den forschenden Augen. Dann plötzlich ein Achselzucken, sein Blick wendete sich ab, Groll und Heftigkeit wurden abgeschüttelt, und raschen Schrittes ging Steel der inneren Tür zu, die er kurz zuvor zugeschlossen hatte. Sie öffnend, komplimentierte er Rahel mit einer Förmlichkeit hinaus, die trotz ihres gegenseitig ohnehin steifen Verkehrs auffallend war.

Rahel aber steigerte sich so sehr in ihre Erbitterung hinein, daß sie schließlich sogar eine unnatürliche Befriedigung über ihre Begegnung mit dem Präsidenten und eine unbändige Freude beim Gedanken an deren mögliche Folgen empfand. Diese Stimmung war weder logisch noch edelmütig, unter den obwaltenden Umständen aber doch immerhin menschlich. Endlich hatte sie ihn aus seiner starren Ruhe aufgerüttelt! Bis jetzt war sie allein diejenige gewesen, die litt, nun endlich fühlte und litt auch er. Fast ein Jahr hatte sie dazu gebraucht, um das zu erreichen, nun aber gab es endlich etwas, das auch ihn erschütterte. Und um ihretwillen geschah es, ein ihr drohendes Mißgeschick hatte solche Veränderung in ihrem Gatten hervorgerufen! Sie kannte ihn zu gut, als daß sie ihn nicht von jeder selbstsüchtigen Besorgnis um die Gefährdung seines guten Namens und seiner behaglichen Stellung in der Gesellschaft, für die er im Grunde keine wirkliche Hochachtung empfand, hätte freisprechen müssen. Ja, es gab wohl kaum einen zweiten Mann, der sich weniger aus der guten Meinung andrer Leute machte, und seine Frau konnte ihm ihre Bewunderung der absoluten Unabhängigkeit seines Charakters und seiner kraftvollen Persönlichkeit nicht versagen.

Und doch hatte er sie wochen- und monatelang ohne Grund betrogen und belogen. Er hatte ihr sein Vertrauen vorenthalten, obwohl sie ihn darum gebeten, und obwohl er wußte, wie sehr sie sich dieses Vertrauens würdig gezeigt haben würde. Daß seiner Heirat ein tiefes Geheimnis zu Grunde lag, leugnete er nicht, und doch wollte er ihr nicht sagen, worin dieses Geheimnis bestand. Ohne Grund hatte er sie gequält – nun war die Reihe an ihm. Allein trotz allen Grolles gegen ihn, trotz ihrer Schadenfreude an dem drohenden Skandal, den er so sehr zu fürchten schien, lief, gleich einem goldenen Faden, die uneingestandene Befriedigung hin, daß all diese Besorgnisse nur ihr galten.

Äußerlich blieb sie freilich im höchsten Grade unempfindlich und gleichgültig, wie am ersten Tage ihrer Verheiratung, auch gab sie sich alle Mühe, so heiter als möglich zu erscheinen. Dies wurde ihr durch die Aufregung, die die bevorstehende Abendgesellschaft mit sich brachte, nicht wenig erleichtert. Es sollte eine sehr große Gesellschaft werden, und überdies war sie Rahels erste im eigenen Hause. Da hieß es, alle Kräfte anspornen. Vierundzwanzig Personen hatten zugesagt. Größtenteils waren es Leute, die Rahel in Upthorpe Hall getroffen hatte, und wenn irgend jemand etwas von ihrer Begegnung mit dem Präsidenten wußte, so war es Mrs. Venables. Was sie in diesem Falle wohl tun oder sagen würde? Diese Frau war zu allem fähig. Was mochte alles passieren, ehe der Tag zu Ende ging?

Es war eine aufregende Lage für ein so mutiges, ehrgeiziges und leicht verletztes Wesen, wie die gegenwärtige Herrin von Normanthorpe House, die sich bei den Vorbereitungen zu diesem Fest nun auch ausnahmsweise als die Herrin des Hauses erwies. Sie sah selbst das Silberzeug nach, ordnete die Blumen mit eigener Hand und bestimmte, was eine weniger leichte Aufgabe war, die Tischordnung. Noch war sie in ihrem eigenen Heiligtum mit dieser Arbeit beschäftigt, als Mrs. Venables gerade das tat, was Rahel sich am wenigsten hätte träumen lassen.

Sie fuhr um drei Uhr nachmittags vor und ließ sich bei Rahel melden. Rahels Herz klopfte heftig, aber sie fürchtete sich nicht. Irgend etwas Außerordentliches geschah nun eben früher, als sie gedacht hatte, und Neugierde beherrschte augenblicklich jedes andre Gefühl bei ihr. Ihre erste Regung war, Mrs. Venables heraufkommen zu lassen und sie um ihre Hilfe bei der Tischordnung zu bitten, ehe diese Dame das Feuer eröffnen konnte. Rahel konnte den großen, kalten Empfangssaal nicht leiden und hatte das Gefühl, daß sie sich dort bei einer ernsteren Unterredung im Nachteil fühlen würde. Falls er in feindlicher Absicht gekommen war, mußte der Gast mit doppelter Rücksicht behandelt werden. So wurde denn der Diener mit dem Befehl hinuntergeschickt, die Dame in den großen Saal zu führen und ihr zu sagen, Mrs. Steel werde sogleich kommen. Das tat Rahel denn auch. Sie warf nur rasch noch einen prüfenden Blick in den Spiegel, und wenn sie auch vielleicht etwas geputzter hätte sein können, so sah sie doch nie lebhafter, zuversichtlicher und heiterer aus als jetzt. Schon war sie auf dem Vorplatz angelangt, als sie wieder umkehrte und jene Kärtchen zusammenlas, die sie vorhin zu ordnen versucht hatte. Es gab einen ordentlichen Pack, und Rahel lächelte, als sie ihn mit sich hinunternahm.

Mrs. Venables saß in steifer Einsamkeit auf dem höchsten Stuhle, den sie hatte finden können; weder Sibylle noch Wera befanden sich in ihrem Gefolge. Neben ihr stand ein mit Unterhaltungslektüre beladener Tisch, Mrs. Venables aber hielt die Hände im Schoß gefaltet.

»Das ist aber wirklich zu freundlich von Ihnen!« rief Rahel, indem sie das Heuchlerische ihrer Begrüßung durch einen Anflug von unwiderstehlicher Ironie wieder gut machte. »Sie ahnten natürlich meine Unerfahrenheit und sind nun gekommen, mir gute Ratschläge zu geben, nicht wahr? Und einen besseren Augenblick hätten Sie gar nicht wählen können. Sagen Sie mir bloß, wie machen Sie es, sechsundzwanzig Personen an einem Tisch passend unterzubringen? Ich hätte so gern zwei Personen an jedes Ende gesetzt, nun geht es aber doch nicht.«

Mrs. Venables unterdrückte ein höhnisches Lächeln, das ihr diese Bemerkung unwillkürlich entlockte, richtete sich aber nur noch höher in ihrem Stuhle auf, während ihre herzlosen, hellbraunen Augen mit einem strengen Blick in die Rahels starrten.

»Ich könnte nicht behaupten, daß ich gekommen bin, Ihnen meine Hilfe anzubieten, Mrs. Steel. Solche Freiheiten nehme ich mir höchstens bei meinen nächsten Freunden heraus.«

»Dann weiß ich allerdings nicht, was Sie hiehergeführt haben könnte,« antwortete Rahel, indem sie sowohl das Lächeln als den Blick mit wahrhaft aufreizender Selbstbeherrschung erwiderte.

»Ich will es Ihnen sagen,« fuhr Mrs. Venables feierlich fort. »Es geht nämlich ein loses Gerücht über Sie um, und ich wünsche aus Ihrem eigenen Munde zu erfahren, ob es wahr ist oder nicht.«

Mit Gedankenschnelle hielt Rahel ihr die abwehrenden Hände entgegen.

»Meine liebe Mrs. Venables, es kann doch unmöglich Ihr Ernst sein, daß Sie am Tage meiner ersten größeren Gesellschaft hiehergekommen sind, um mir einen lieblosen Klatsch zu hinterbringen?«

»Es steht bei Ihnen,« antwortete Mrs. Venables, unter diesem Hieb die Farbe wechselnd, »mir zu sagen, ob es ein bloßer Klatsch ist. Sie müssen nämlich wissen, Mrs. Steel, daß niemand von uns – trotzdem wir alle vom ersten Augenblick der Bekanntschaft an von Ihrem Manne entzückt waren – daß doch niemand die geringste Ahnung hatte, wo er eigentlich herkommt, und daß wir uns auch heute noch ebensosehr im unklaren darüber befinden.«

»Sie sprechen wohl im Namen unsrer Nachbarn?« fragte Rahel verbindlich.

»Ja, das tue ich.«

»Von denen in der Stadt sowohl, als von denen auf dem Lande?« murmelte Rahel. »Und Sie wollten sagen, daß niemand im ganzen Bezirk das Geringste über die Herkunft meines Mannes wisse?«

»Nicht das Geringste,« sagte Mrs. Venables.

»Und trotzdem machten sie alle Besuche bei ihm, trotzdem erbarmten sie sich des armen einsamen Junggesellen, der er damals war?«

Auch dieser Pfeilschuß ließ einen Augenblick seine Spur auf der Gesichtsfarbe der Besucherin zurück. »Und ganz dasselbe ist auch bei Ihnen der Fall,« fuhr Mrs. Venables in noch strengerem Tone fort. »Auch von Ihrer Herkunft wissen wir nicht das Geringste!«

»Nun und?« fragte Rahel, noch immer vollständig Herrin der Situation, denn sie wußte ja so gut, was jetzt folgen würde.

»Und nun ist uns etwas zu Ohren gekommen, von dem ich zu wissen wünsche, ob es wahr ist oder nicht. Sind Sie jene Mrs. Minchin, die letzten Winter angeklagt war, ihren Gatten ermordet zu haben, oder sind Sie es nicht?«

Ruhig schaute Rahel in die grausamen braunen Augen, bis endlich auch in die ihrigen ein Ausdruck der Härte kam.

»Ich weiß wirklich nicht, wodurch Sie das Recht zu haben glauben, eine solche Frage an mich zu stellen, Mrs. Venables. Gehört es denn zur guten Sitte, Personen, die eine zweite Heirat geschlossen haben – angenommen ich sei eine von diesen – über ihre erste Heirat auszufragen? Bis jetzt hatte ich mir eingebildet, dies schicke sich nicht, aber es mag ja sein, daß ich mit den Gebräuchen in diesem Weltteil noch nicht vertraut bin. Da Sie diese Frage jedoch einmal ausgesprochen haben, so soll Ihnen auch eine Antwort darauf werden.«

Und laut klang Rahels Stimme durch den großen Raum, als sie sich jetzt in majestätischer Haltung von ihrem Stuhl erhob und sagte: »Ja, Mrs. Venables, ich bin jene unglückliche Frau. Und was nun?«

»Kein Wunder, daß Sie sich in solch tiefes Schweigen über Ihre Vergangenheit hüllten,« rief Mrs. Venables mit unheilverkündendem Gemurmel. »Kein Wunder, daß wir nicht einmal erfuhren ...«

»Und was nun?« wiederholte Rahel mit ruhiger, höhnischer Geringschätzung. »Soll man deshalb aus den gesellschaftlichen Schranken treten, weil man eine traurige Episode seines Lebens für sich behalten hat? Wird hier zu Lande eine Anklage einer Schuldigerklärung gleich geachtet? Gibt es keinen Unterschied zwischen schuldig und nichtschuldig?«

»Sie müssen aber doch wissen,« fuhr Mrs. Venables fort, ohne dieser Frage Beachtung zu schenken, »sehr genau müssen Sie es sogar wissen, daß ein großer Teil des Publikums durchaus nicht mit dem über Sie gefällten Urteilsspruch einverstanden gewesen ist.«

»Zum Beispiel Ihr Herr Gemahl!« stimmte ihr Rahel mit spöttischem Lachen bei. »Er wollte ja sogar nach London fahren, um zu sehen, wie ich gehängt würde! So sagte er mir an seinem eigenen Tisch.«

»An dem Sie niemals gesessen hätten,« erwiderte Mrs. Venables mit Pathos, »wenn er oder ich uns hätten träumen lassen, wer Sie sind. Aber nun wir es wissen, dürfen Sie versichert sein, daß keins von uns sich an den Ihrigen setzen wird!«

Dabei erhob sich Mrs. Venables in ihrer ganzen hoheitsvollen Entrüstung mit flammenden Augen, den hübschen Kopf stolz in den Nacken geworfen.

»Sprechen Sie auch jetzt im Namen der Gesellschaft?« fragte Rahel, die sich selbst über ihren Mut wunderte, mit feinem Spott.

»Ich spreche im Namen meines Mannes, meiner Töchter und in meinem eigenen,« erwiderte die Dame mit großer Würde. »Die andern mögen für sich selbst reden, und bald genug werden Sie erfahren, in was für einem Geruch Sie bei anständigen Leuten stehen. Es ist ein wahres Glück, daß wir nun dahinter gekommen sind – ein wahres Glück! Zu denken, daß Sie es gewagt haben – Sie, über die unter klugen Leuten kaum zweierlei Meinung besteht – daß Sie es wagen konnten, sich bei uns einzudrängen und so mit mir zu sprechen, wie Sie es getan haben! Eines aber ist gewiß – es war zum letzten Mal!«

Mit diesen Worten steuerte sie der Türe zu, durch die sie ihren triumphierenden Ausgang zu halten gedachte, allein sie hemmte ihre Schritte, noch ehe sie die Tür erreicht hatte. Denn vor ihr auf der Schwelle stand Steel, der hinter sich die Tür nicht nur schloß, sondern auch den Schlüssel herumdrehte und abzog. Gegenüber befand sich die zweite Tür, die durchs Gewächshaus in den Garten führte. Ohne ein Wort zu sagen, durchschritt Steel das Zimmer, verschloß auch diese Tür und steckte beide Schlüssel in seine Tasche. Dann endlich wendete er sich der gefangenen Dame zu.

»Sie haben ganz recht, Mrs. Venables, es ist ohne Zweifel die letzte Unterredung, die wir miteinander haben werden. Es wäre also doch schade, sie gar zu sehr abzukürzen.«

»Wollen Sie die Güte haben, mir den Weg freizugeben?« fragte die Besucherin zitternd und todesblaß vor Empörung, die trotz allem nicht ganz ohne Wirkung blieb.

»Mit dem größten Vergnügen,« entgegnete Steel, »sobald Sie meine Frau um Verzeihung gebeten haben.«

Ohne ein Wort zu sagen, stand Rahel dabei.

»Wofür?« rief Mrs. Venables. »Weil ich ihr das gesagt habe, was die ganze Welt von ihr denkt? Niemals! Sie aber werden jetzt sofort diese Tür öffnen, wenn Sie nicht wollen, daß mein Mann Ihnen ... Ihnen seine Reitpeitsche zu fühlen gibt!«

Steel hatte nur ein Lächeln als Antwort. Geschmeidig und kraftvoll, wie er war, konnte er es wohl mit einem solchen Schlapphahn wie Mr. Venables aufnehmen.

»Ich hätte es übrigens wissen sollen, was man in diesem Hause zu erwarten hat,« fuhr Mrs. Venables mit heiserer Stimme fort. »Was für ein unmännliches, ungebildetes Betragen, was für feige Beleidigungen! Ja, ich hätte es wissen können!« Dabei flog ihr Blick vom Fenster zur elektrischen Klingel.

»Das Läuten hätte keinen Wert,« sagte Steel, indem er das schneeige Haupt schüttelte; »auch sonst nichts Derartiges. Ich bin der einzige Mensch im Hause, der Sie hinauslassen kann. Ihr Diener könnte gar nicht hereinkommen, selbst wenn er es versuchte. Aber falls Sie es wünschen, werde ich ihm rufen, daß er einen Versuch macht.

»Was aber die Beleidigung anbelangt,« sagte Steel, »so haben Sie meine Frau vorsätzlich aufs schnödeste beleidigt, denn ich habe zufällig mehr von Ihrem Gespräch mit ihr gehört, als Sie sich offenbar vorstellen. Im übrigen ist Beleidigung kaum das richtige Wort für das, was ich Sie habe sagen hören, und ich möchte Ihnen wohl zu bedenken geben, daß Sie sich mit Ihren Reden vorhin haarscharf an der Grenze strafbarer Verleumdung bewegten. Sie scheinen zu vergessen, daß meine Frau in Gegenwart von zwölf ehrenwerten Mitbürgern verhört und dann von diesen freigesprochen worden ist. Für diese Vergeßlichkeit zum allerwenigsten werden Sie meine Frau um Entschuldigung bitten, ehe Sie dieses Zimmer verlassen.«

»Niemals!«

Steel schaute auf seine Uhr und setzte sich.

»Ich fange an zu fürchten, daß Sie sich nur schlecht auf die Beurteilung von Charakteren verstehen, Mrs. Venables, sonst hätten Sie längst eingesehen, wer von uns früher oder später nachzugeben gezwungen sein wird.«

Rahel aber stand noch immer wortlos dabei.


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