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Siebzehntes Kapitel. Freunde in der Not

Am selben Nachmittag stattete der Pfarrer von Marley Haus für Haus seine Besuche unter den ärmeren Gemeindegliedern ab. Obwohl Hugh Woodgates Konversationstalent, wie bereits erwähnt, im allgemeinen nur sehr bescheiden war, so hatte er doch die nicht allzu verbreitete Gabe, mit Armen zu plaudern. Sein schlichtes Wesen flößte ihnen Vertrauen ein, und seine Teilnahme, so verschieden von derjenigen vieler Leute, die sich für teilnehmend halten, beschränkte sich nicht nur auf Trostworte an Totenbetten oder bei zerrütteten Vermögensverhältnissen. Er schrieb Briefe für die Ungelehrten, half den Arbeitslosen eine Stelle finden, kannte sämtliche kleine Kinder ebenso gut wie deren Mütter mit Namen und schickte den Zeitungen ausführliche Berichte über die im Dorfe abgehaltenen Wettspiele, zu deren Gelingen er freilich selbst nicht viel beitrug. Erst an diesem Augustnachmittag wurde er gewahr, daß er sich trotzdem während all der Jahre, die er in Delverton zuerst als überbürdeter Vikar von Normanthorpe und später als einer der vielbeschäftigtsten Landpfarrer des Sprengels zugebracht, tatsächlich eine Feindin zugezogen hatte. Als Mr. Woodgate nämlich gegen fünf Uhr nach dem Pfarrhaus zurückkehrte, sauste eine in eine Staubwolke gehüllte Equipage an dem Pfarrer vorüber, der, den weichen Filzhut noch immer in der Hand haltend, wie versteinert am Straßenrand stehen blieb. Im Wagen aber saß Mrs. Venables, die, ohne seinen Gruß zu erwidern, ihm ins Gesicht gestarrt hatte.

Woodgate war noch ganz aufgeregt, als er den Pfarrgarten erreichte, wo Morna ihm entgegenkam.

»Mrs. Venables hat meinen Gruß nicht erwidert,« rief er ihr schon von weitem zu.

»Das wundert mich nicht,« antwortete Morna, die sich in einem Zustand mühsam beherrschter Erregung befand.

»Aber was um des Himmels willen hat das alles zu bedeuten?«

»Sie ist soeben hier gewesen.«

»Nun?«

»Und wird ohne Zweifel nicht wiederkommen. O Hugh, ich weiß gar nicht, wie ich dir alles sagen soll! Wenn du der bösen Frau nur einen Augenblick recht gibst, wenn du für sie nur die leiseste Entschuldigung hast, so wird es mir das Herz brechen!«

Mornas schöne Augen füllten sich mit Tränen, und dieser Anblick löschte sofort die Flamme, die ausnahmsweise aus seinem gutmütigen Blick gesprüht hatte. Zärtlich umfaßte er ihre Hand mit seiner gewaltigen Rechten.

»Komm, setze dich und erzähle mir alles. Habe ich jemals irgendwie Partei gegen dich ergriffen, daß du es für möglich hältst, ich könnte jetzt so etwas tun?«

»Nein, aber ich weiß, daß du es tun würdest, wenn du fändest, daß jene recht und ich unrecht habe.«

Hugh überlegte, bis sie die Gartenbank auf dem Rasenplatze erreicht hatten.

»Nun, jedenfalls nicht öffentlich,« sagte er. »Und wahrscheinlich auch sonst nicht, wenn es sich um eine Gegnerin wie Mrs. Venables handelt.«

»Aber sie ist eben nicht die einzige Person, das ist es ja gerade. O Hugh, sprich, hast du Rahel gern?«

»Gewiß,« antwortete er mit Nachdruck. »Mit ihr hast du dich aber doch sicherlich nicht gezankt?«

»O nein, aber gerade ihretwegen habe ich mich mit Mrs. Venables gezankt, und zwar deshalb, weil ich mich weigerte, für das Diner in Normanthorpe heute noch abzusagen.«

Woodgate war natürlich sprachlos.

»Abzusagen!« wiederholte er endlich.

»Ja, sie verlangte tatsächlich von mir, daß ich nicht hingehen solle, und ich bin fest überzeugt, daß sie jetzt von Haus zu Haus fährt, um das Gleiche von allen anderen Eingeladenen zu verlangen.«

Woodgates Bestürzung endete in einem schallenden Gelächter.

»Und darüber habt ihr euch veruneinigt?« rief er laut. »Das Weib muß verrückt sein! Was für einen Grund gab sie denn dafür an?«

»Einen Grund hatte sie allerdings, lieber Schatz.«

»Jedenfalls aber keinen stichhaltigen! Für ein solches Benehmen gibt es überhaupt keine Entschuldigung!«

Morna schaute ihren Mann ängstlich von der Seite an, indem sie sich fragte, ob er, wenn er erst alles wisse, noch ebenso sprechen würde. Sie glaubte indes seiner ziemlich sicher zu sein. Bis jetzt hatten ihre Ansichten über wichtige Punkte noch immer übereingestimmt, und der, der nun in Frage kam, war für Morna von höchster Bedeutung.

»Hugh,« begann Morna, »erinnerst du dich, daß du gestern in Hornby neben Rahel standest, als man ihr Sir Baldwin Gibson vorstellte?«

»Vollkommen,« sagte Woodgate.

»Er ist nämlich der Gerichtspräsident Gibson.«

»Gewiß, gewiß.«

»Hast du bei dieser Vorstellung den Eindruck gewonnen, als ob sich die beiden schon früher einmal gesehen hätten?«

Der Pfarrer stand von seinem Sitze auf und schaute seiner Frau plötzlich ins Gesicht, während es wie eine Erleuchtung über seine Züge huschte.

»Nun du davon sprichst,« rief er, »allerdings! Damals fiel es mir jedoch nicht weiter auf. Ich wunderte mich nur etwas über ihre plötzliche Erregung, aber niemals wäre mir diese Deutung in den Sinn gekommen. Nun aber bin ich nicht mehr im Zweifel darüber. Du wirst doch nicht sagen wollen, daß er irgend etwas Nachteiliges über Mrs. Steel weiß und es preisgegeben hat?«

»Nein, nein, der Präsident hat es nicht getan, aber du warst nicht der einzige, der der Begegnung angewohnt hat, und andrer Leute Augen sind mißtrauischer als die deinigen. Nicht wahr, lieber Schatz, du würdest doch gewiß nicht deshalb schlechter von Rahel denken, weil sie ihr früheres Leben geheimgehalten hat und namentlich nicht, wenn es ein sehr unglückliches Leben gewesen ist?«

»Selbstverständlich nicht. Das geht uns nichts an.«

»Das Gleiche sagtest du damals zu Mrs. Venables, als sie uns von Steels Verheiratung erzählte, und ich wiederholte es ihr diesen Nachmittag. Dies war jedoch nicht der Hauptgrund ihres Kommens. Es liegt noch etwas andres vor. Wenn ein Mensch eines Verbrechens angeklagt, in öffentlicher Gerichtsverhandlung jedoch für nicht schuldig erklärt worden wäre, würdest du ihn doch gewiß nicht so behandeln, wie wenn er schuldig wäre, nicht wahr; auch nicht, wenn der Urteilsspruch dich überrascht hätte?«

»Gewiß nicht, Morna, und kein anständiger Christenmensch würde hoffentlich so etwas tun. Du wirst mir aber doch nicht sagen wollen, Mrs. Steel habe je einmal vor Gericht gestanden?«

»Doch, und zwar unter dem Präsidenten Gibson.«

»Die Ärmste!« rief Hugh Woodgate nach einer Pause.

Morna ergriff seine Hand.

»Denke dir, mein lieber Schatz, sie ist, oder vielmehr, sie war Mrs. Minchin!«

»Was? Jene Frau, die angeklagt war, ihren Gatten ermordet zu haben?«

»Ja, und dann freigesprochen worden ist.«

»Großer Gott!« rief der Pfarrer, und wieder schwieg er eine Zeitlang. »Nun,« fuhr er dann fort, »ich habe den Fall übrigens nicht genau verfolgt und bin jetzt recht froh darüber. Doch erinnere ich mich natürlich genau, was damals alles darüber gesprochen wurde. Aber was hat ein solches Geschwätz für einen Wert? Die Geschworenen werden wohl gewußt haben, was sie taten. Eine ganze Woche lang hatten sie, soviel ich mich erinnere, den Verhandlungen zu folgen, die andre Leute vielleicht in den Zeitungen überflogen. Die Geschworenen mußten das beste Urteil darüber haben. Aber seit wann weißt du denn dies alles, Morna?«

»Erst seit diesem Nachmittag. So bist du also auch meiner Meinung, Hugh?« rief Morna, die plötzlich wie verwandelt aussah.

»Natürlich bin ich das. Aber ich möchte gern Näheres wissen. Ist es denn wirklich möglich, daß eine kluge, gebildete Frau, wie Mrs. Venables, die zudem eine Christin sein will, deshalb von jenem Diner fernbleibt und von andern verlangt, dasselbe zu tun?«

»Jawohl, sie verlangte es ohne weiteres von mir,« sagte Morna. »Und als ich mich weigerte und fest auf meiner Weigerung bestand, rauschte sie wutentbrannt davon.«

»Unglaublich!« rief Woodgate. »Um sich so rasend zu gebärden, muß sie aber doch entschieden noch einen weiteren Grund gehabt haben.«

»Natürlich hatte sie einen. In meiner Angst, wie du über die Sache denken möchtest, vergaß ich, es dir zu erzählen. Sie kam nämlich direkt von Normanthorpe, wo man sie offenbar beleidigt hat, wie sie noch nie in ihrem Leben beleidigt worden ist.«

»Wer denn? Steel oder seine Frau?«

»Ich glaube Mr. Steel. Mrs. Venables fand keinen Ausdruck, der ihr schlecht genug für ihn war. Deshalb achte ich Mr. Steel jetzt aber nur noch höher, als ich es bis jetzt getan habe. Du kennst doch Mrs. Vinson, die Frau des neuangestellten Invernesseschen Gutsverwalters?«

»Ja, Langholm führte sie beim Venablesschen Diner zu Tisch, und gestern stand sie in der Nähe, als Mrs. Steel sich mit dem Präsidenten unterhielt.«

»Ganz richtig. Es scheint, daß Mrs. Vinson schon an dem Abend, von dem du vorhin sprachst, Verdacht schöpfte, und gestern wurde nun dieser Verdacht zu ihrer eigenen Befriedigung bestätigt. Jedenfalls fühlte sie sich dazu berechtigt, ihn Mrs. Venables anzuvertrauen, die sich sofort aufmachte, um Rahel auf den Kopf zu fragen, ob das Gerücht, daß sie die frühere Mrs. Minchin sei, auf Wahrheit beruhe.«

»Und was weiter?«

»Rahel antwortete ihr, daß es vollkommen wahr sei.«

»Großer Gott!«

»Und nun war natürlich der Teufel los. Was dann aber tatsächlich passierte, konnte ich unmöglich aus Mrs. Venables herausbekommen. In meinem Leben habe ich keine Frau so außer sich vor Wut gesehen. Nur unzusammenhängende Sätze vermochte sie hervorzustoßen, allein aus dem, was sie über Mr. Steel sagte, konnte ich wenigstens schließen, daß er plötzlich auf der Bildfläche erschienen war und sie zurechtgewiesen hatte, wie sie es verdiente. Aber ich würde viel darum geben, zu erfahren, was tatsächlich geschehen ist.«

»Möchten Sie es wirklich gerne wissen?«

Morna fuhr erschrocken auf, während sich der Pfarrer erst nach einigen Augenblicken sprachloser Verwirrung langsam erhob. Vor ihnen auf dem Rasen stand Mrs. Steel, blaß wie der Tod, um zehn Jahre älter aussehend als gestern, und doch mit einem Lächeln um die blutleeren Lippen, das tatsächlich etwas wie einen Anflug von unwiderstehlicher Belustigung auszudrücken schien.

»Möchten Sie es wirklich gern wissen?« wiederholte sie, während sie in einiger Entfernung von den beiden stehen blieb und den Blick von einem zum andern wandern ließ. »Es trifft sich seltsam, denn ich bin mit der Absicht gekommen, Ihnen beiden alles zu erzählen. Allein wie ich sehe, ist Mrs. Venables mir bereits zuvorgekommen.«

Sie hielt einen Augenblick inne, und um ihren Mund zuckte es schmerzlich. »Mein Mann,« sagte sie dann, »verschloß die Türen und weigerte sich, Mrs. Venables fortgehen zu lassen, ehe sie mich um Verzeihung gebeten hätte.«

»Hoffentlich hat sie es getan,« sagte Hugh Woodgate mit jenem Nachdruck, der so häufig die Kürze seiner Bemerkungen wieder gut machte.

»Jawohl, schon nach wenigen Minuten,« antwortete Rahel kurz und in einem Ton, aus dem ein gewisser Stolz, wenn auch kein Triumph klang.

Morna hatte noch nichts gesagt. Nun machte sie mit überströmenden Augen einen Schritt vorwärts. Rahel aber hielt ihr abwehrend die Hand entgegen.

»Sind Sie sich auch ganz klar, wer ich bin?«

»Ja, Rahel.«

»Rahel Minchin,« fügte Rahel heftig hinzu, »die berüchtigte Mrs. Minchin, jene Mrs. Minchin, die Mr. Venables so gerne hätte hängen sehen.«

»Still, Rahel, still!«

»Seien Sie aufrichtig und ehrlich gegen mich, merken Sie wohl, aufrichtig, nicht gütig und nachsichtig! Ich weiß ja wohl, daß Sie niemals das gesagt hätten, was Mrs. Venables mir ins Gesicht schleuderte. Sie behauptete, daß alle Welt mich für schuldig halte. Nein, das hätten Sie nicht über sich vermocht, Morna. Aber sind Sie auch ganz sicher, daß Sie es in Ihrem tiefsten Herzen nicht doch denken? Können Sie mir ins Gesicht sehen und mir versichern, daß Sie es nicht glauben, wie die ganze übrige Welt?«

Nicht das geringste Schwanken klang aus der festen und doch so weichen Stimme, nur eine unbeschreibliche Traurigkeit.

Morna aber beantwortete die Frage nur mit einem Schluchzen, indem sie zugleich beide Arme um Rahels Nacken schlang, während ihr Gatte mit ausgestreckter Hand daneben stand.


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