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XII.

Die Heinrichsche Mordsache hatte so lange die Gemüter der Berliner beschäftigt, daß der Schwerthieb, der am 13. November den Mörder strafte, keinen vollen Abschluß bildete. Es folgte vielmehr noch ein Nachspiel. Nach dem plötzlichen Tod von Lysius war von den drei im August von Kahmann angegriffenen Geistlichen nur noch Andreas Schmidt übriggeblieben.

Dieser gab im Dezember 1716 die »historische Lebensbeschreibung des gewesenen Kürschnergesellens Erdmann Briesemanns« heraus. Beigegeben ist ein die Hinrichtung Briesemanns darstellendes, recht mittelmäßiges Kupfer. Auf dem Schafott wird dem stehenden Briesemann der Kopf abgeschlagen. Vor dem Schafott wird der Kopf des Gerichteten auf die Nabe eines Rades genagelt, auf das der nackte Leichnam gelegt ist. An der Stange, auf der das Rad ruht, ist der zur Mordtat benutzte Schlägel befestigt. So kommen mehrere sich folgende Vorgänge als gleichzeitige zur Darstellung.

Diese Schrift (80 Seiten im Quart) ist auf den Ton gestimmt: Briesemann ist in die Stricke Satans gefallen, aber doch durch Gottes Gnade, die unablässig an ihm gearbeitet, zur Buße geführt und der Seligkeit gewiß. Daß diese Wandlung des Verbrechers durch das ausgezeichnete Werkzeug Gottes, Andreas Schmidt, herbeigeführt, drängt sich dabei unwillkürlich dem Leser auf. Beigefügt ist die am 13. November gehaltene, damals nur von wenigen gehörte Schafottrede über Lucas 14,5: »Welcher ist unter Euch, dem sein Ochse oder Esel in den Brunnen fället, und er nicht alsbald ihn herauszeugt?«

Diese Rede ist so unglaublich geschmacklos und starrt von entsetzlich rohen Bildern und Vergleichen, daß sie durchaus der traurigen Kanzel entspricht, von der herab sie gehalten ist. Am Schluß das ehrliche Bekenntnis: »Dem Menschenwitz ist der Mord versteckt geblieben. Die ruhmwürdige Obrigkeit und das sorgfältige Predigt-Amt setzten ihre Vater- und Mutter-Hände zusammen, solches ins Werk zu richten und dieses gefallene Kind sofort aus dem Brunnen zu ziehen. Aber es sei ihnen zu schwer gewesen, bis endlich der heilsame Zweck der Menschwerdung Jesu Christi an ihn gesetzt und er herausgezogen sei, so daß er, ob er gleich anderen Unmenschen zum Abscheu vor unsern Augen hier wie ein Esel und abgeschlachteter Ochse liegt, er doch gern und willig gelitten, was seine Taten wert gewesen. So sei er wieder ein Mensch, ja gar ein teures Kind Gottes geworden, nachdem er in unserm lüderlichen Berlin so übel verleitet worden« ... »Und solches war seiner Seelen grösseste Freude, in welcher er beim Leben Gott hoch gedanket, daß er Obrigkeiten in der Welt gesetzet, die hinter armen Sündern her sind und mit ihnen ein solches Ende machen, als mit ihm ist gemacht worden.«

Die Rede schloß mit der Warnung: »Dort (auf der Richtstätte) wird uns sein aufgeflochtener Körper auf einer ungewöhnlichen Grabstelle zur Verwesung noch lange vor Augen liegen und wollen wir uns nicht warnen lassen, hier ist noch ein Schwert, das leicht aus der Scheiden fähret, das unsern armen Sünder vorwärts niedergeschlagen, rückwärts aber uns allen ein Wink gegeben, daß wir uns hüten sollen. Gott bewahre uns durch Jesum Christum ... Amen.«

So hatte Briesemann seinen Beichtvater dessen überzeugt, daß er die Verfolgung der armen Sünder durch die Obrigkeit als größte Freude und als höchstes Glück empfinde. Andererseits konnte die Betonung gerade dieses Punktes auf Beifall in den höchsten Regierungsstellen rechnen.

Zahlreiche Beweise bringt Schmidt für die gründliche Bekehrung seines Beichtkindes: Viele geistliche Gespräche, herzliche Äußerungen des armen Schächers über fremdes Leid und fremde Sünde, endlich ein, wie Schmidt versichert, von Briesemann ganz allein verfaßter Trostbrief an seinen alten, in Stettin lebenden Vater. Einen wirklich herzenswarmen Ton hat der Schreiber darin nicht gefunden.

Ein letzter Beweis für das selige Ende: Unmittelbar nach der Aufflechtung des Leichnams auf das Rad haben sich drei weiße Tauben gezeigt, so flach über das Rad fliegend, daß alle Zuschauer gemeint, sie würden sich auf den Leichnam niederlassen.

Schmidt selbst hatte allerdings dies Wunder nicht wahrgenommen. Er hatte indes hierüber auf der Scharfrichterei den jungen Stoff und die ihm beim Aufflechten behilflich gewesenen Knechte vernommen. Der junge Stoff hatte nur zwei bemerkt. Trotzdem meinte Schmidt, es wären wohl drei gewesen. Diese aber seien der sicherste Beweis für die Seligkeit des Gerichteten.

Schließlich verteidigt sich Schmidt gegen Kahmanns Vorwurf, daß er, Nicolai und Lysius das schriftlich schon vor Jahren abgegebene Geständnis Briesemanns nicht zur Kenntnis der Behörden gebracht hätten.

Kahmann ließ die Sache nicht auf sich beruhen und im Januar 1717 eine 32 Seiten in Quart umfassende Gegenschrift erscheinen:

»Praeliminair Abfertigung der zanksüchtigen Schmäh-Schrifft, so Herr Andreas Schmidt ... anno 1716 am 17. Dezember hat ausgehen lassen«.

Die Schrift ist von einer großen Erbitterung des Geistlichen angefüllt, der eben zum Archidiakonus an St. Marien aufgerückt war. »Würden der Herr Schmidt und der Herr Verleger und Drucker seiner Schrift für ihre Schmäh- und Lästerworte und für ihre ›garstigen Lügen‹ am jüngsten Tage Rechenschaft geben müssen, so würden sie übel bestehen.«

Ein einziger freundlicher Lichtblick in dem totlangweiligen Federkrieg: Kahmann wünscht am Schluß seiner Schrift:

»Dem hochgeneigten Leser zum Neuen angetretenen Jahre Gnade, Heil, Frieden, gute Gesundheit und alles, was Ihm an Seel und Leib in Zeit und Ewigkeit nützlich, nötig, heilsam und seelig seyn mag!«

Der Streit der beiden Geistlichen war damit zu Ende. Kahmann hatte das letzte Wort behalten. In der Verurteilung der Folter, die ja in diesem Fall völlig versagt hatte, bestand damals aber völlige Einigkeit, und das verdammende Urteil der Geistlichen war wohl geeignet, in den weitesten Kreisen dieses Mittel zur Erforschung der Wahrheit noch mehr der Mißbilligung zu überliefern. Insofern hat der Prozeß wegen Ermordung des Heinrich zu der 23 Jahre später von Friedrich unmittelbar nach seiner Thronbesteigung erfolgten Aufhebung der Folter einen Einfluß ausgeübt. Friedrich hatte einen abgestorbenen Baum vorgefunden, den er mit Leichtigkeit fällen konnte.

*

Während dieser Zeit lebte die Witwe Heinrich wieder im Spandauer Spinnhaus, seit einem Menschenalter Sammelstelle für allerlei weibliches Gelichter. Schädliche und unschädliche Irre, Verbrecherinnen, denen man nicht ans Leben wollte, Landstreicherinnen, ungeratene Töchter aus besseren Familien saßen hier unter strenger Zucht bei nicht zu harter Arbeit und ausreichender Nahrung. Den meisten war das Spinnhaus eine Stätte, die sie nur mit dem Grabe noch zu vertauschen hatten. Wenigen glänzte der Hoffnungsstern einer einstigen Rückkehr in die menschliche Gesellschaft. Zu diesen gehörte die Frau Heinrich, die sich durch musterhaftes Betragen seit ihrer Aufnahme eine bevorzugte Sonderstellung zu schaffen verstanden hatte. Dazu kam, daß ein verborgener Einfluß ihr von Anfang an bei den maßgebenden Stellen zugute kam. Sie war ruhig und geduldig. Auch ihre Leidensgenossinnen beklagten ihr hartes Schicksal; den Ehebruch hielt keine von ihnen für ein so grausam zu bestrafendes Vergehen.

Diese Sonderstellung hob sich seit ihrer Rückkehr aus Berlin Ende Oktober 1716. Man munkelte, Briesemann habe schließlich fast alle gegen sie erhobenen Verdächtigungen widerrufen. Gleichzeitig wurde bekannt, daß ihre einzige Tochter in Kursachsen reich verheiratet sei und alle Hebel in Bewegung setze, um die Begnadigung ihrer Mutter zu bewirken. Aber diese Bemühungen schienen erfolglos zu bleiben. Doch war Frau Heinrich seit dem Februar 1717 kaum noch als Gefangene zu betrachten. Der Kommandant v. Hackeborn hatte sie in sein Haus genommen; sie sollte seiner Frau, die ihrer zweiten Entbindung entgegensah, in der Wirtschaft beistehen und seinen einzigen kleinen Sohn, den zweijährigen Friedrich Wilhelm, betreuen. War ohnedies schon der Kommandant darin ziemlich unbeschränkt, wie er die Insassen des Spinnhauses zu behandeln für angezeigt hielt, so kam bei Hackeborn noch seine große Gunst beim König dazu. Diese beruhte auf den wertvollen Diensten, die vor 22 Jahren sein Vater durch Takt und Geschicklichkeit dem Herrscherhaus geleistet. Damals hatte der Kurfürst dem Kaiser zum Kampfe gegen Louis XIV. Hilfsvölker nach Oberitalien senden müssen. Er hatte seinem zweiundzwanzigjährigen Stiefbruder, dem Markgrafen Karl Philipp, die Führung der brandenburgischen Regimenter übertragen und ihm als eine Art Mentor den damaligen Obersten v. Hackeborn als Hofmarschall beigegeben.

Der junge Markgraf, in der Zeit der Muße viel am Savoyer Hof zu Turin verkehrend und als Bruder des Kurfürsten gefeiert und verwöhnt, hatte hier die Bekanntschaft einer munteren Witwe, der Gräfin Salmour, geborenen Marchesa de Balbiano, gemacht. Sie war mehrere Jahre älter als ihr Verehrer. Der blindverliebte junge Markgraf hätte die kokette Frau am liebsten ohne kirchlichen Segen besessen, war aber bei seiner Angebeteten auf hartnäckigen Widerstand gestoßen.

Sie hatte es damit erreicht, daß der prinzliche Verehrer den Segen der Kirche für ein Bündnis suchte, das er am liebsten ohne einen solchen geschlossen hätte. Aber der Marschall v. Hackeborn hatte die Augen offen gehabt und gehandelt. Er hatte sich mit dem Turiner Hof in Verbindung gesetzt und ein Verbot an die Geistlichkeit erwirkt, die Ehe des verliebten Prinzen zu schließen. Als dann die beiden doch auf einem Landgut bei Casale einen Pfarrer mit List dazu bewogen hatten, die Erklärungen, daß sie die Ehe miteinander eingehen wollten, mit anzuhören, hatte Hackeborn mit zugreifender Tatkraft die Vollziehung der nach Ansicht des Paares vollgültig geschlossen Ehe zu verhindern gesucht. Dem sofortigen Erlaß eines in Turin erfolgten Haftbefehls gegen die Frau war bereits ein schleuniger Rückkehrbefehl des Kurfürsten gegen den fürstlichen Gimpel vorausgegangen. Die Befehle hatte Hackeborn ohne allzu große Schonung der zarten Gefühle der Liebenden vollstreckt.

Im Morgengrauen dringt er an der Spitze einiger Offiziere in das Schlafgemach ein. Mit einem gellenden Schrei reißt sich die Frau aus den Armen des Geliebten. Der springt auf, greift zum Degen und zückt diesen gegen Hackeborn. Wuchtig schlägt ihm der Marschall die Waffe aus der Hand, die beim Herabgleiten dem Markgrafen eine leichte Wunde zufügt. Die Gräfin wird in eine bereitgehaltene Kutsche geworfen und in ein benachbartes Kloster gebracht. In der Wut über das klägliche Ende seines Liebestraumes verfällt der Prinz in ein hitziges Fieber, dem er nach drei Tagen erliegt.

Der Marschall brachte die Leiche im feierlichen Zuge nach der Heimat zurück. Der Kurfürst veranstaltete ein glänzendes Leichenbegängnis. Sehr geschickt hatte man im Volke die Meinung verbreitet, der verliebte Prinz wäre bei der Eroberung von Casale ritterlich gefallen. So trauerte alles um den so früh dem Dienste des Mars entrissenen jungen Fürsten, ohne zu ahnen, daß er recht eigentlich im Liebeskampf erlegen. Die Anforderungen der bald nach dem Tode des Markgrafen aus dem Kloster entlassenen Geliebten wurden mit einigen Geldopfern befriedigt.

Bald war von der ganzen Liebesgeschichte keine Rede mehr. Nur die Huld und Gnade, mit der Hackeborn und die Seinen seitdem überschüttet wurden, erinnerte noch an die Rolle, die er in jenem Liebeshandel gespielt hatte. Hackeborn selbst rückte bis zum Generalleutnant auf, und sein Sohn Dietrich war bereits mit kaum 30 Jahren Oberstleutnant und Kommandant von Spandau. Er hatte sich im Jahre 1714 mit der Freiin Lucia v. Loe, aus einem der ersten Geschlechter des eben preußisch gewordenen Herzogtums Geldern, vermählt. Sie überlebte aber ihre zweite Niederkunft nicht und starb am 7. März 1717, nachdem sie am 1. März eine totgeborene Tochter zur Welt gebracht hatte.

Auf ihrem Totenbett hatte sie der Frau Heinrich die Pflege für ihren kleinen Sohn dringend ans Herz gelegt. Tief erschüttert hatte diese ihr gelobt, nach besten Kräften für das zärtlich an ihr hängende Kind zu sorgen.

Anfang Mai 1717 gab ihr der Kommandant einen aus Meißen empfangenen Brief mit der Anzeige ihres Schwiegersohnes von der am 10. April erfolgten glücklichen Entbindung Ursulas von einem kräftigen Sohn. Er sei auf den Namen Christian getauft und werde von seiner frischaufblühenden Mutter selbst genährt. Ursula hatte die Worte hinzugefügt: »Liebste Mutter! Komme bald zu Deinen dankbaren Kindern und zu Deinem kleinen Enkel!«

»Ich bin nicht wert dieses Glücks!« hatte sie beim Lesen tränenden Auges gerufen.

In dieser wehmütigen Stimmung hatte sie nach Meißen geschrieben. Sie habe nur den einen Wunsch: Gott möge sie als schwere Sünderin strafen, aber ihre Sünde nicht an Ursula und den Ihren heimsuchen. Sie getraue sich nicht, dem Kinde in die reinen Augen zu schauen.

August fand diesen Brief etwas übertrieben. »Mein Gott! Sie hat für den Ehebruch doch wahrhaftig genug gebüßt!«

Ursulas Gedanken aber durchblitzte es zum erstenmal: Sollte sie doch eine Schuld an Briesemanns Tat haben?

Aber sie verwarf dies alsbald, peinlich berührt, daß sie auch nur einen Augenblick so etwas denken konnte. Als ihr Gatte sie zärtlich küßte, flüsterte sie ihm getröstet zu: »Ich bin ja so glücklich! Wie danke ich Gott und dir! O, was habe ich vor sieben Jahren in Freienwalde gelitten!«

August sah sie fragend an. Da erzählte sie ihm von einer Begegnung mit Frau Runck und ihrer Schwester, Margaret Müsset. Erfreut sei sie auf beide zugelaufen. Da habe ihr Frau Runck den Rücken gedreht, und ihre langjährige Freundin Margaret ihr zugezischt: »Wir verkehren nicht mit Mördern!«

»Was mußt du Arme gelitten haben! Hast du es der Tante Zorn erzählt?«

»Warum sollte ich die gute, kranke Frau betrüben! Ich habe das und vieles andere heruntergeschluckt. Nun bin ich ja so reich! Habe dich und Christian! Die Margaret lebt immer noch im Hause ihres Schwagers, und ihr Bräutigam, der Advokat ohne Mantel, hat sie sitzen lassen.«

»Ulla, das ist noch lange nicht genug Strafe für das herzlose Geschöpf! Ich gönne der Müsset noch viel Schlimmeres! Sie sollte dafür im Spinnhaus sitzen!«

»Nicht doch, August! Wer so glücklich ist wie ich, verzeiht gern!«

Sie drückte den Kleinen an ihr Herz, der ihr lustig krähend zujauchzte.

Ein Wehmutstropfen war der einige Tage nach Christians Geburt erfolgte Tod des greisen Dr. Zorn. Zu Erben hatte er seine einzigen Verwandten, August Schadebrot und Else Porst, ernannt. Diese hatte die ererbte Apotheke ihres Großvaters an Hans Schrader verpachtet. Lieber wäre sie statt seiner Verpächterin seine Ehefrau geworden. Der aber brauchte Zeit, um sich an den Gedanken – Else statt Ursula – zu gewöhnen.

Ursula schenkte am 11. April 1718 ihrem einjährigen Sohn Christian einen, zu Ehren von Großpapa Zorn, Friedrich getauften Bruder. Da erhielten Schadebrots im Juni ein jubelndes Schreiben Elses: Schrader habe sich erklärt, am 6. Juli solle die Hochzeit sein. Dieser Tag sei ausdrücklich gewählt, weil an ihm vor zwei Jahren Schadebrots, die mit Kind und Kegel feierlich geladen seien, ihre glückliche Ehe geschlossen hätten. Eine so liebenswürdig begründete Einladung konnte nicht abgelehnt werden.

Glückliche Tage verlebte das Ehepaar im Hause Molkenmarkt 4. Feierliche Trauung des jungen Paares in der Nicolaikirche durch den Brautvater Probst Porst. Dann ein glänzendes Festmahl in den zu neuem Leben geschmückten Vorderräumen des alten Erbhauses.

Ursulas Tischnachbar, Diakon Andreas Schmidt, war um Unterhaltung seiner Dame nicht verlegen. Mit ausführlicher Breite erzählte er von der Hinrichtung des Kastellans Runck und des Hofschlossers Stieff, bei der er genau vor vier Wochen als Beichtvater mitgewirkt. Ihre durch viele Jahre fortgesetzte Beraubung der königlichen Schatzkammer, die romanhafte Entdeckung der Täter, des Stieff beim Verkauf einer seltenen goldenen Münze, und des Runck durch einen von ihm verfaßten Anschlag zur Irreführung des Gerichts. Dann der kurze Prozeß und schließlich die Vollstreckung: Kneifen mit glühenden Zangen, Räderung von unten auf ...

Ursula hatte nur mit gelegentlichen »Furchtbar!« »Entsetzlich!« »Gräßlich!« ihren Nachbar unterbrochen. Da fuhr er fort:

»Die beiden haben immerhin als langjährige Diebe ihren schaudervollen Tod nicht ungerecht erlitten. Aber gräßlich war das Geschick ihrer Frauen und der Schwägerin von Runck, der Müsset!«

Fragend sah ihn Ursula an.

»Weil die Weiber keine Anzeige von den Diebstählen trotz der öffentlichen Aufforderung gemacht, mußten sie der Räderung zuschauen und sind dann in das Spinnhaus nach Spandau geschafft.«

»Hört auf! Hört auf!« Ursula stürzte aus dem Saal.

Verlegen sah ihr Schmidt nach. Bald kam sie zurück, mit verweinten Augen, aber jetzt ruhig und gefaßt.

»Vergebt, Hochwürden, aber das gräßliche Schicksal meiner einstigen Freundin hatte mich zu sehr erregt.«

Die Unterhaltung an der Festtafel war aber auf dieses Thema festgefahren. Schmidt rühmte die »erwiesene göttliche Zornmacht« und die »innige Buße« seines Beichtkindes Stieff. Auch erwähnte er das persönliche Eingreifen des Königs.

August fragte, ob es denn in Preußen keinen Kriminalprozeß und kein Kriminalrecht gebe. Der Advokat Ziegler belehrte ihn darauf, es gäbe eine ganz vortreffliche neue Kriminalordnung vom 8. Juli 1717. Aber man verfahre nicht nach ihr, wenn die Tat zu entsetzlich, wie bei einem Diebstahl im Schlosse. Da träte dann an ihre Stelle die schrankenlose Willkür des Königs und seines Kriminalkollegs. Von allen Seiten mischte man sich in das Gespräch: Die Folter habe wieder, da Stieff sie ausgestanden, völlig versagt; die öffentliche Hinrichtung sei zum Abschrecken ungeeignet. Denn die beiden Schloßdiebe hätten vor anderthalb Jahren die Hinrichtung Briesemanns mitangesehen und trotzdem ruhig weiter gestohlen.

Der junge Ehemann sah das Zusammenzucken Ursulas bei Nennung dieses Namens. Er erhob sich.

»Hochverehrte Gäste! Wenn Ihr von Galgen und Rad Euch unterhalten wollt, könnt Ihr dazu eine andere Gelegenheit als meine Hochzeitstafel finden!« Nach einer launigen Überleitung forderte er die Anwesenden auf, ein volles Glas auf die genau vor zwei Jahren vermählten Eheleute Schadebrot zu leeren. »Die lieben Verwandten aus Meißen, sie leben hoch mit ihren beiden reizenden Jungen!«

Allgemein ein brausendes Hoch! Hoch! Hoch! Gläserklingen, und dazwischen ein lauter Ruf der jungen Frau Schrader: »Hans! So nette Jungen wollen wir auch haben!«

Sie konnte noch immer nichts vertragen.

*

Frau Heinrich hatte sich den Besuch in jenen Julitagen dringend verbeten. Ein Abschied nach so kurzer Anwesenheit sei ihr zu furchtbar. Im September aber würde sie sicher entlassen, wie ihr der Kommandant angedeutet, und dann nie wieder von ihnen getrennt werden.

Kurzsichtig ist der Mensch! Wer kann auf die Zukunft rechnen? Eine Ahnung davon überkam die einsame Gefangene, als sie sehnsüchtig nach den Türmen Berlins starrte. Dort waren die ihr liebsten auf der Welt – Ursula und ihre beiden Jungen! »Ich hätte doch nicht so hartnäckig sein sollen!« mahnte ihr Herz. Der Verstand beruhigte: »Was tut der kurze Aufschub!«

Jetzt befand man sich in der Mitte des August. Glühendheißer Nachmittag. Frau Heinrich spielte mit dem dreijährigen Fritz v. Hackeborn im Gärtchen der Kommandantur. Einige Weiber aus dem Spinnhaus jäteten das Unkraut aus den Wegen. Darunter jene Hede Berendt aus Köritz im Amte Neustadt a. d. Dosse, einst als Hexe des Raubmordes an Heinrich, später der Hexerei beschuldigt und im Spinnhaus begraben. Wurden doch Prozesse wegen Hexerei seit zwanzig Jahren nicht mehr zugelassen. Das häßliche alte Weib, ein Bild völligen Stumpfsinns, schien plötzlich zu unheimlichem Leben erwacht. Ihre gebückte Gestalt straffte sich, ihre sonst blöden Augen funkelten. Sie ergriff einen zufällig am Boden liegenden Mauerstein, stürzte sich mit wildem Gebrüll auf den Knaben, die Rechte mit dem Stein zum Schlage erhoben. Verwirrtes Flüchten, Angstgeschrei der Weiber – da wirft sich Frau Heinrich der Rasenden entgegen, stößt den tötenden Arm zurück – der Knabe ist gerettet. Die Raserei der Berendt ist noch gesteigert. »Sie wird selig! Sie wird selig!« brüllend, führt sie einen wuchtigen Schlag gegen die Schläfe der tapferen Frau, dann noch einen – entseelt bricht Frau Heinrich zusammen. Jetzt, als nichts mehr zu retten, überall Hilfsbereite. Die Berendt, plötzlich ernüchtert, läßt sich stumpfsinnig abführen, ihr eintöniges »Sie ist selig, sie ist selig« murmelnd.

Der Kommandant drückte tieferschüttert die erstarrende Hand der Toten. Der herzugeeilte Garnisonprediger Mäbert war zu spät gekommen. Hackeborn besprach mit ihm die Beerdigung der Gemordeten. Mäbert hatte mancherlei Bedenken: Spinnhausgefangene, jäher unbußfertiger Tod, er wisse doch nicht, ob sie nicht in einem Winkel zu verscharren. Da donnerte der Kommandant los: »Wir beide wollen Gott danken, wenn er uns ein so selig Ende bescheert! Ich lasse die Fahne über sie schwenken! Die ganze Garnison soll ihr die letzte Ehre erweisen!«

Der Geistliche, offenbar über die Beseitigung seiner Bedenken selbst zufrieden, hielt zwei Tage später am Grabe der Gemordeten eine zu Herzen gehende Rede über das Bibelwort: »Niemand hat größere Liebe, denn die, daß er sein Leben lässet für seine Brüder«.

Unteroffiziere trugen den mit zahllosen Kränzen geschmückten Sarg zur Gruft. Gesänge der Stadtschüler, alle Geistlichen der Stadt, das ganze Offizierkorps, an der Spitze der Gouverneur Freiherr v. Schwendy, der Pate des geretteten Knaben. Dieser an der Hand seines Vaters, bitterlich weinend, jedem das Bild des Opfertodes vor die Seele rufend.

»Sie ist für dich gestorben! Mache dich in deinem Leben dessen würdig,« mahnte ihn Mäbert. Das ernste Nicken Hackeborns bei diesen Worten des Geistlichen war wie ein Gelübde für seinen Sohn.

In einem ausführlichen Schreiben berichtete der Kommandant dankerfüllten Herzens dem Schwiegersohn der Ermordeten Tod und Begräbnis. Am Schluß die Erklärung der Tat: Lebensüberdruß der Berendt, Befürchtung, als Selbstmörderin nicht selig zu werden. Deshalb ein Mord, um als bußfertige Sünderin, der Seligkeit gewiß, hingerichtet zu werden. Im entsetzlichen Gedankenkreise der Unseligen ein leichter Lichtblick: Sie wollte durch ihr Verbrechen keinen der Seligkeit berauben, daher erst der Versuch, ein unschuldiges Kind zu morden; dann nach der Vereitelung dieses Versuches Mord seiner Retterin, weil sie gemeint, daß diese wegen ihres Opfermutes der Seligkeit gewiß sei. Der Mord – so schloß Hackeborn – werde bald seine Sühne finden; die voll geständige Berendt sei zum Tode durch das Rad von unten herauf verurteilt. Beim Empfang dieses Schreibens werde diese Strafe an ihr bereits vollstreckt sein.

Dieses von dem Kästchen mit Bartholdis Bild begleitete Schreiben und ein gleichzeitig von Kahmann eingelaufenes wurden von Schadebrot in schonender Weise seiner Frau mitgeteilt. Zart empfindend wählte er dazu einen Augenblick, als sie den kleinen Fritz auf dem Schoße wiegte. Der ihr verbliebene Reichtum konnte die junge Mutter am besten über den Verlust der eigenen geliebten Mutter trösten. Und ein Trost ohne Worte war es, als sie laut weinend den kleinen Fritz fester an ihr Herz drückte, und Christian sich ängstlich an ihren Schoß schmiegte. Diesem aber war die Mutter, die er immer nur heiter gesehen, bald unheimlich und fremd, und er lief mit dem Rufe »Papa haben will ich« zu seinem Vater.

Allmählich wurde Ursula ruhiger.

»Ach, sie hat nicht einmal unsere lieben Jungen gesehen!«

Der Gatte tröstete: »Ulla, gerade der Gedanke an unseren kleinen Fritz wird ihr die Kraft zur Rettung des kleinen Fritz Hackeborn gegeben haben!«

Dann küßte er die sanfter Weinende. »Sie ist auch für unsere Kleinen gestorben, die werden jetzt stets nur mit Liebe und Achtung ihrer gedenken können. Da schreibt dir Kahmann einen Trostbrief zum Tode deiner »seligen« Mutter. Er sei seit ihrem Opfertod fest überzeugt, daß er sich schwer geirrt, als er sie der Anstiftung zum Mord für fähig gehalten. Deshalb habe er dem Bruder Schmidt, der dabei richtiger geurteilt, die gern ergriffene Hand zur Versöhnung geboten. In der letzten Predigt habe er der Verstorbenen rühmend gedacht und Gottes reichsten Segen auf ihr Haus herabgefleht. Wenn du ruhiger geworden, lies den deine Mutter und ihn selbst ehrenden Brief.«

Ursula küßte die Kinder und bat ihren Mann, sie zur Wärterin zu bringen und sie zur stillen Sammlung allein zu lassen. Lange saß sie nachdenklich.

»Zwei Schläge an die Schläfe – zwei Schläge – genau, wie es Briesemann getan! Barmherziger Gott! Ist das ein Zeichen, daß sie ihn doch vielleicht zum Morde angestiftet? Hast du ihr darum Zeit zur Buße gelassen und jetzt die Strafe an der Seligen vollstreckt nach deinem Wort:

»Die Rache ist mein, ich will vergelten!?«

 

Ende.


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