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VII.

Frau Heinrich hatte die wunderbare Rettung vom Tode ihrer Tochter zu verdanken.

Seit der Rückkehr aus Freienwalde hatte Ursula schwere Tage verlebt. Die Ungewißheit über das Schicksal ihrer Mutter war entsetzlich. Im November hatte sich die Meinung verbreitet, daß die Sache ihrer Mutter sehr gut stünde. Sie würde demnächst entlassen werden.

Da warf am zweiten Adventssonntag eine schwere Ohnmacht ihre zweite Mutter, Frau Zorn, aufs Krankenlager. Ihre Kräfte nahmen von Tag zu Tag ab. Ihr Schwager, der alte Arzt Bartholomäus Zorn, wußte ebensowenig wie die von dem besorgten Gatten noch hinzugezogenen Ärzte, dem schleichenden Fieber Einhalt zu gebieten.

»Unsere Kunst ist zu Ende, ihre Lebensfeuchte Die nach damaliger Anschauung das Leben bedingende Menge und Zusammensetzung des Blutes. ist verbraucht; man muß es Gott anheimstellen«, versicherten sie ehrlich und hilflos. Sie selbst war fest davon überzeugt, daß es mit ihr zu Ende gehe. Sorglich bestellte sie ihr irdisches Haus. Bis in alle Einzelheiten bestimmte sie ihre Begräbnisfeier. Eingehend besprach sie die Trauerkleider für Ursula und Else Porst. Die beiden Mädchen mußten die für sie zurechtgemachte Tracht zur Probe anziehen. Da standen beide in den langen weißen, eng anliegenden Gewändern mit schwarzem Vorstoß und der weißen haubenartigen Kopfbedeckung mit den das halbe Gesicht verhüllenden Schleiern. Vom Bett aus gab die Kranke ihre Ratschläge zu Abänderungen den weinenden Mädchen kund.

»Nun habe ich alles Irdische besorgt«, meinte sie. Sie wünschte dann nicht weiter mit weltlichen Dingen behelligt zu werden.

Ein Schweres war der frommen Dulderin noch vorbehalten. Am 10. Februar teilte ihr der Gatte erschüttert mit, daß Ursulas Mutter zum Tode verurteilt sei und am 20. Februar hingerichtet werden sollte.

»Sage es möglichst schonend dem unglücklichen Mädchen, ich selbst bin dazu außerstande!«

Frau Zorn war allem Irdischen schon weit entrückt. Sie hielt die Verurteilte für glücklich, dem Jammertal der Erde so bald entzogen zu sein. Aber das Zureden ihres Mannes und die Versicherung, daß Frau Heinrich das Todesurteil als ungerecht verwünsche und zum willigen Ergeben in ihr Schicksal und in die Fügungen Gottes nicht gesinnt sei, stimmten sie um.

In schonender Weise bereitete sie Ursula mit ihrer sanften Stimme, liebevoll ihre Hand haltend, darauf vor, daß sie in wenigen Tagen zwei Mütter verlieren werde.

»Füge dich in Gottes Willen, mein geliebtes Kind«, schloß die Kranke.

Wie erstarrt hatte Ursula alles mitangehört. Schweigend eilte sie auf ihr Zimmer, um die Schwerkranke nicht zu erregen.

Da war ihre Fassung vorbei. Mit einem verzweifelten Schrei sank sie zu Boden.

»Mutter! Meine Mutter!« schluchzte sie in einer an Raserei grenzenden Leidenschaft des Schmerzes.

»Aber sie dürfen es nicht! Die Blutgierigen! Ihr dürft meiner Mutter nichts antun!«

Sie ballte die Fäuste. Sie erhob sich – ein Gedanke schien ihr blitzartig zu kommen.

»Ich rette sie! Ich muß sie retten!«

Sie überlegte. »Ich gehe zum König. Der wird, der muß helfen. Der darf nicht eine Unschuldige ermorden lassen!«

Eine wundervolle Ruhe und Zuversicht überkam sie.

»Gottes Wille regiert die Welt, sagt die gute Kranke,« flüsterte sie, »aber doch wird zu ihr Arzt auf Arzt geholt. So darf auch ich für meine Mutter Hilfe holen.«

Sie sann hin und her, wie sie es am besten und schnellsten machen müßte. Dann beschloß sie, den Dr. Zorn, den älteren, aber viel rüstigeren und tatkräftigeren Bruder ihres Pflegevaters, um Rat zu fragen.

Dieser sagte ihr sofort seine Hilfe zu, setzte zunächst einige Bittschriften an den König auf, der darin im Namen Ursulas und der Familie Zorn um Begnadigung der Frau Heinrich gebeten wurde. Auch Frau Zorn unterzeichnete die eine Bittschrift. Es war die letzte Schrift von ihrer Hand. Zu Ursula sagte sie:

»Ich werde Gott bitten, deine Mutter noch nicht sterben zu lassen, wenn sie noch nicht reif zur Seligkeit. Doch Gottes Wege sind nicht unsere Wege.«

Dr. Zorn riet dann Ursula, mit den Bittschriften zum Minister Bartholdi zu gehen. Er könne ihr durch seinen langjährigen Patienten, den alten Kammerdiener Jean, eine Audienz beim Minister verschaffen. Ihn möge sie bitten, die Sache beim König zu befürworten. Dies sei der einzige Weg zum Versuch einer Rettung.

Auf Jeans Bitten war der Minister bereit, Ursula am Vormittag des 14. Februar zu empfangen.

Am Tage zuvor rief Frau Zorn, die schon Stunden hindurch in Bewußtlosigkeit gelegen:

»Freude! Freude! Freude! Maria wird mir in kurzem geläutert zu Gottes Thron folgen!«

Nach diesen Worten fiel sie wieder in Bewußtlosigkeit, aus der sie nicht wieder erwachte.

Wie dem sehnenden Kinde die Tür zum Weihnachtszimmer, hatte sich die Paradiesespforte der frommen Dulderin geöffnet.

*

Am nächsten Vormittag ging Ursula, von tausend Gefühlen des Schmerzes und der Angst gemartert, zum Minister.

Als der alte Jean sie im Traueranzug sah, riet er ihr, die unförmige Trauerkappe abzulegen.

»Sie hindert Euch am Sprechen. Und weint nur ja nicht! Das ist Seiner Exzellenz widerwärtig.«

Er führte sie in das Arbeitszimmer des Ministers.

»Ich weiß, was Ihr wollt!« rief er der Eintretenden entgegen, »und kann Euch keine Hoffnung machen.«

Sein Blick streift die vor ihm Stehende – heftet sich auf ihr Gesicht – wird starr. Wie von einer unsichtbaren Gewalt gezogen, erhebt er sich – seine Lippen scheinen Worte formen zu wollen –, kraftlos sinkt er mit einem gurgelnden Ton in den Sessel zurück.

Jean stürzt auf seinen Herrn zu, gibt ihm ein Glas Wasser, winkt Ursula, sich zu entfernen. Bartholdi reißt sich mit aller Kraft zusammen.

»Bleiben! Bleiben!« flüstert er.

Er richtet an die ängstlich Verwirrte eine Reihe von Fragen: Wann ihr Geburtstag sei, wann ihre Mutter sich verheiratet habe, ob sie dieser ähnlich sähe? Ursula gibt verlegen Antworten. Sie weiß nicht, was diese Fragen zu bedeuten haben. Ihre Verwunderung steigt, als der Minister mit leisem Lächeln fragt, ob sie das Grübchen am Kinn von der Mutter oder dem Vater geerbt habe? Sie bricht in leises Weinen aus. Nach dem Grund der Tränen gefragt, stottert sie, daß ihre Mutter sie so gern auf das Grübchen geküßt habe. Ihre Eltern hätten es nicht. Sie sähe genau wie ihre Mutter in ihrer Jugend aus, das hätte diese ihr oft gesagt.

Der Minister sieht sie lange an. Seine Züge werden immer freundlicher.

»Du bittest um das Leben deiner Mutter?«

Sie reicht ihm die Bittschriften.

»Laß sie nur einstweilen. Würde denn deine Mutter mit einem Mord auf dem Gewissen weiterzuleben imstande sein?«

»Meine Mutter hat keinen Mord begangen!« ruft Ursula in stolzer Abwehr.

»Es spricht sehr vieles gegen sie, mein Kind.«

»Ich weiß, daß es eine Unmöglichkeit ist. Sie war immer gut gegen jedermann.«

»Würdest du dann ihre Strafe als gerecht erkennen, wenn sie schuldig wäre?«

»Dann würde meine Mutter selbst nicht mehr leben wollen!«

Der Minister sinnt lange nach.

»Nun gut. Bleibt deine Mutter dabei, den Mord zu bestreiten, so will ich selbst den König um ihr Leben bitten.«

Mit einem Jubelschrei stürzt sich Ursula Bartholdi zu Füßen und bedeckt seine Schuhe mit wilden Küssen ihrer brennenden Lippen. Erschüttert beugt sich Bartholdi zu ihr nieder, hebt sie auf und küßt sie auf ihr weiches Goldhaar.

»Ich muß dir, mein liebes Kind, sehr wunderlich vorgekommen sein und will es dir erklären: Du gleichst Zug für Zug einem jungen Mädchen, das ich vor vielen Jahren sehr, sehr lieb gehabt habe. Sie hat mich unendlich glücklich gemacht. Lange schon ist sie mir entrissen. Als ich dich heute sah, wurde die Vergangenheit in mir lebendig, und ich glaubte, ihren abgeschiedenen Geist vor mir zu sehen. Daher meine Erschütterung und meine Fragen, die dir wohl recht wunderlich vorgekommen sind?«

Ursula nickte.

»Warte nur ruhig das weitere ab. Du bist ja ein verständiges und tapferes Mädchen. Mir darfst du vertrauen.«

»Das tue ich von ganzem Herzen und werde Euch bis an mein Ende lieben!«

»Da könntest du mir einen großen Gefallen tun: Schenke mir eine Locke deines Haares! Auch sie, der du in wenigen Jahren völlig gleichen wirst, schenkte mir einst eine Locke. Sie ist mir verlorengegangen und oft mit Schmerz von mir vermißt.«

Er reicht ihr eine kleine Schere. Sie aber hält ihm ihren Lockenkopf entgegen. Verwundert sieht sie, daß er ihr eine große Strähne abschneidet und in einem Kästchen seines Schreibtisches verwahrt. Dann nimmt er aus dem Kasten einen schimmernden Ring und gibt ihn ihr.

»Den wollte ich einst deinem Ebenbild für seine Locke geben. Sie meinte aber, ich habe sie schon überreich beschenkt. Ich weiß jetzt, wie recht sie gehabt. Doch das verstehst du wohl wieder nicht?«

»Nein«, sagt Ursula. »Was wird aber mit meiner Mutter?«

»Sage ihr, was wir zusammen beredet. Gesteht sie den Mord nicht ein, so bleibt sie am Leben. Sie wird dann – was ihr nur recht sein kann – auf unbestimmte Zeit nach Spandau geschickt. Ist die Sache später vergessen, heiratest du einmal – womöglich einen Nicht-Berliner, – so wird sie begnadigt. Dann mag sie in deinem Haus ihre Enkel dir großziehen helfen. Doch das hat wohl noch Zeit«, meint er lächelnd. »Aber du nimmst ja den Ring nicht?«

Ursula stottert verlegen, sie wisse nicht, wie sie solche Gnade verdient habe.

»Wenn du ihn denn nicht für deine Locke willst, die mir als Erinnerungszeichen an reines Glück unendlich viel wertvoller ist, so nimm ihn als Zeichen, daß du meinen Worten blind vertrauen kannst. Trage ihn zur Erinnerung an einen Mann, der dir die Mutter retten wird.«

»Ich vertraue Euch fest und werde täglich in meinem Morgen- und Nachtgebet zu Gott flehen, daß er Euch glücklich machen und reich segnen möge!«

»Das tue, mein Kind,« sagt der Minister gerührt und reicht ihr zum Abschied die Hand, die Ursula in heißer Dankbarkeit an die Lippen führt.

*

Lange sah ihr Bartholdi sinnend nach. In den Augen, die niemand je weinen gesehen, schimmerten Tränen.

Dann befahl er seinen Wagen zum König.

Am selben Abend kam der von ihm bestellte Stadtrichter Helwig mit den Akten des Prozesses zu ihm. Der Minister teilte ihm mit, daß dem König jetzt noch Bedenken gekommen wären, ob die Angeklagten wirklich den Mord verübt. Seine Majestät meine, daß, wenn keine Rettung mehr zu erwarten, beide den Mord gestehen würden, falls sie schuldig. Wenn sie aber bis zuletzt bestreiten würden, seien sie – nach Ansicht Seiner Majestät – unschuldig. In diesem Falle sei dann das Hallesche Urteil auf lebenslängliche Ausscheidung aus der menschlichen Gesellschaft an beiden zu vollstrecken.

Bescheiden wies der Stadtrichter darauf hin, daß es hoch bedenklich sei, eine solche Komödie zur Beruhigung des ängstlichen Gewissens aufzuführen. Der endliche Gerichtstag mit dem Stabbrechen, die Übergabe an den Scharfrichter als neue Folter wolle ihm nicht in den Kopf.

Kalt bemerkte Bartholdi, man habe sich dem Willen Seiner Majestät zu fügen, der mit Sicherheit ein Geständnis auf dem Schafott erwarte.

»Verschafft ihm diese Beruhigung. Ihr haltet sie doch auch für schuldig?«

»Exzellenz, es ist ein eigen Ding. Da wird in Frankfurt, Halle und in Berlin stets gefolgert: Sie haben Ehebruch getrieben, ergo haben sie gemordet. Ich halte diesen Schluß nicht für zwingend. Ich wohne seit vielen Jahren den Hofkürschners gegenüber und kenne die Leute. Sie haben außer der ältesten drei Kinder gehabt, dürftige Geschöpfe, die es nicht schnell genug hatten, dieses irdische Jammertal zu verlassen. Nur die Älteste – –«

»Ich kenne sie. Die war heute vormittag mit Bittschriften bei mir. Ein auffallend schönes Mädchen.«

»Genau wie sie sah ihre Mutter aus, eine Tochter des verbummelten Prokurators Zielefeld. Doch ich langweile Euer Exzellenz.«

»Nicht doch. Nun, und warum beurteilt Ihr ihren Ehebruch milder?«

»Sie war ganz arm, da vermittelte ihre Vatersschwester eine Bekanntschaft mit dem Hofkürschner, der sich blind in sie verliebte. Das arme junge Ding willigte in die Heirat. Sie mochte dann aber denken, daß sie sich zu billig verkauft. Da schenkte sie sich vorher einem schönen Offizier. In der Ehe ist sie ihrem Gatten treu geblieben. Ich habe jede alte Klatschbase im Marien- und Nicolaiviertel vernommen – nichts, gar nichts hat sich ermitteln lassen, ja, sie galt allgemein bis zum Verrate der Magd für eine tugendbelobte Gattin. Ihre Kinder – außer der Ältesten – trugen ja auch deutlich mit ihrem zu kurzen Fuß den Stempel der Abstammung vom Kürschner.«

»Wie konnte sich die Frau dann aber mit Briesemann einlassen?«

»Der hübsche Mensch mag sie irgendwie an ihren Verführer erinnert haben, vielleicht auch hat er ihrer Eitelkeit geschmeichelt, denn sie ist auf ihre Schönheit stolz – oder sie wollte endlich einmal wieder ein gesundes Kind haben. Alle solche Feinheiten lassen sich auf der Folter nicht erpressen!«

Bartholdi nickte bejahend.

»Da ich nun ihren Ehebruch milder beurteile, Exzellenz, wird mir auch ihre angebliche Teilnahme am Morde zweifelhaft. Der Geselle mag sie vielleicht falsch verstanden haben. Er mag ihre gelegentlichen Seufzer über den immer wunderlicher werdenden Gatten als Aufforderung gedeutet haben, sie von ihm zu befreien. Oder es ist Eifersucht dazugekommen. Der verliebte Mensch gönnt sie vielleicht eher dem Henker als einem anderen.«

Der Minister unterbrach ihn:

»Ihr werdet also in der Posse Eure schwere Rolle spielen.«

Der Stadtrichter verbeugte sich zustimmend:

»Ich hoffe sogar, daß die beiden jetzt festbleiben.«

»Auch ich«, meinte Bartholdi, »gönne ihnen das Leben. Sorgt dafür, daß ihre Seelsorger sie nicht zu einem falschen Geständnis drängen. Informiert die Geistlichen über den königlichen Willen, sprecht mit dem Scharfrichter und teilt mir schleunigst den Verlauf der Sache mit. Ich muß dem Könige dann sofort berichten. Der mitgelaufene Pöbel wird doch keine Unruhen machen, wenn nicht geköpft wird?«

»Da hängt viel vom Wetter ab. Ich glaube es aber nicht. Es besteht auch viel Teilnahme für die Verurteilten. Manche glauben fest daran, daß ein Räuber zwei Geldsäcke entwendet und den Meister vor oder nach dem Raube erschlagen habe.«

Mit einem gnädigen Nicken entließ der Minister den Stadtrichter.

Als der die schön gewundene Treppe hinabstieg, dachte er: Ein gewitzter Kerl ist doch der Bartholdi! Der entsetzlich verschleppte und verfahrene Prozeß gibt ihm die Gelegenheit, nun auch den Rest unserer städtischen Gerichtsbarkeit zur Lächerlichkeit zu machen. Desto bequemer kann er ihr dann samt Fakultäten und Folter den Garaus machen. Was wird er aber an ihre Stelle setzen? Die arme Frau Heinrich hat den Vorteil von seiner feinen Politik. Aber er hörte kaum hin, wie ich alles zu ihrer Entschuldigung vorbrachte – was ist dem vornehmen Mann auch eine ehebrecherische Kürschnerfrau! Er kennt sie ja nicht wie ich!

Da irrte nun der Stadtrichter. Bartholdi hatte bei der Unterredung nicht an Prozeßverkürzung, Aufhebung der Folter, Aufhören der Fakultätsbefragung gedacht. Ihm stand, als Helwig von der bräutlichen Berlinerin sprach, jener nie vergessene Maiabend deutlich vor Augen. Sie hatte ihn also für einen auf der Abreise in das Feld befindlichen Offizier von der Kolonie gehalten und wohl längst zu den Toten gezählt. Als Helwig von Entschuldigungen für die Ehebrecherin sprach, sah er sie vor sich, wie sie ihm im Abendsonnenschein eines seligen Tages und in der Morgenröte des folgenden als Venus erschienen war. Und wie sie ihm dann mit glückstrahlendem Erröten für die Erinnerung gedankt, die er ihr mit dem kleinen Liebesgott hinterlassen. Heute früh hatte er dieses damals von ihr mit stolzer Freude empfangene Kind als ein verjüngtes holdes Ebenbild der Mutter gesehen und sich zu ihm wie noch nie zu einem Menschen hingezogen gefühlt. Mein Kind, mein Kind, dachte er schmerzlich, zu dir bekennen darf ich mich nicht – aber was ich tun kann, dein Leben glücklich zu gestalten, das soll geschehen. Heute habe ich für deine Mutter getan, was ich konnte. Dann blitzte es durch seine Gedanken: Hätte ich damals die Holde dauernd an mich gefesselt, und wäre es durch das Eheband! An ihrer Seite wäre ich vielleicht glücklicher geworden als mit meiner ewig kränkelnden und darum immer mißvergnügten Frau, die mir keine Kinder schenken konnte. Die wird wohl ihre Freundinnen zum nächsten Freitag eingeladen haben, um bei einer Tasse Schokolade von unseren Fenstern aus den Zug zur Hinrichtung bequem begaffen und beschwatzen zu können. Ahnte sie, daß ich jetzt darüber grüble, ob ich an der Seite der Hauptperson dieses Zuges nicht glücklicher als mit ihr geworden wäre! Auf Ursula könnte jeder Vater stolz sein, sie hätte meinen verdorrten Stamm fortgesetzt – Glück und Segen, wo heute Enttäuschung und Quälerei!

Der frühe Winterabend war hereingedunkelt, und immer noch wanderte der Minister ruhelos im Gemache umher. Jetzt war sein Gewissen erwacht. Jene Frühlingsnacht – süße Erinnerung bisher, jetzt grausame Anklägerin. Mit allen Künsten weltmännischer Überlegenheit, Erweckung von Neugierde, Eitelkeit und Sinnenlust hatte er eine unbescholtene, reine Jungfrau verführt. Der Schande zu entgehen, ihrem Kind einen Vater zu geben, hatte sie die Ehe mit dem betrogenen Kürschner geschlossen. Nie hatte sie sich darin glücklich gefühlt – so folgte der Ehebruch dem Betruge und der Mord dem Ehebruch. Bartholdi schauderte: »Meine Schuld! Meine Riesenschuld! Und ich, der Urheber all dieses Unheils, habe das Todesurteil über die Minderschuldige unterzeichnet! Barmherziger Gott, gehe nicht mit mir ins Gericht! Oder suche doch die Sünde des Vaters an meinem unschuldigen Kinde nicht heim!«

Er schrieb einige Zeilen und gab sie dem mit angezündeten Leuchtern eintretenden Jean zur sofortigen Bestellung an Dr. Zorn. Auf dem für Ursula einliegenden Zettel standen nur die Worte: »Mein liebes Kind, die Sache ist, wie wir sie besprochen, erledigt. Gesteht deine Mutter nicht, so bleibt sie dir erhalten. Schließe mich in dein Gebet ein!« Eine Unterschrift fehlte. Das Mädchen drückte den Zettel dankerfüllt an die Lippen, sank in die Knie, und ein heißes Dankgebet stieg zum Vater im Himmel auf.

Mit rührender Unermüdlichkeit hatte Ursula ihre Wohltäterin während des vierteljährigen Krankenlagers gepflegt. Jetzt über das Geschick der eigenen Mutter beruhigt, widmete sie sich den Vorbereitungen zur Beisetzung. Dieselbe war auf den 20. Februar, also den Tag der Hinrichtung – wunderbares Zusammentreffen! – um 4 Uhr nachmittags anberaumt. Ein Mahl sollte sich nach Berliner Brauch an die kirchliche Feier dann im Haus anschließen. Da wurden die seit Jahren verschlossen gehaltenen Prunkzimmer des Oberstockes gelüftet und instand gesetzt. Nach Frau Zorns dringendem Wunsch sollte bei ihrem Begräbnis nicht gekargt werden. Die Freude, mit der sie selbst aus dem irdischen in ein besseres Leben eingehe, sollte von möglichst vielen geteilt werden. Der gebrochene Witwer hatte Ursula gleich nach dem Tode seiner Frau die Schlüssel zu allen Behältnissen und damit die Herrschaft im Hause anvertraut. Vielleicht geschah es in der liebreichen Absicht, das junge Mädchen durch die Fülle der so auf sie einstürmenden Pflichten von der Grübelei über das gräßliche Schicksal ihrer Mutter abzulenken.

Am Abend des 19. Februar führte Pfarrer Lysius die ihm auffällig gefaßt erscheinende Ursula zu ihrer Mutter, um von dieser Abschied zu nehmen. Auch Frau Heinrich war merkwürdig ruhig. Lysius sah darin eine Wirkung der von ihm gespendeten geistlichen Tröstungen. Er irrte aber. Helwig hatte schon am Tage vorher der Witwe eine Andeutung gegeben, daß sie noch auf dem Schafott begnadigt werden würde, wenn sie bei ihrem Bestreiten des Mordes bliebe. Sie hatte zu dieser Erklärung verächtlich gelächelt: »Ich habe mit dem Morde nichts zu tun, aber es ist wunderlich, einem zum Lohn für ein Geständnis den Tod zu versprechen.«

Da hat sie eigentlich recht, dachte Helwig.

Noch am Vormittag des 20. Februar hatte Ursula dann von der Begnadigung auf dem Schafott Nachricht erhalten. Jetzt völlig über das Schicksal ihrer Mutter beruhigt, konnte sich das schwergeprüfte Mädchen den letzten Vorbereitungen zur Beisetzung von Frau Zorn widmen.

Am Nachmittag erschienen zahlreiche Freunde des Hauses, meist ältere Männer und Frauen, im stillen Heim am Molkenmarkt. Ursula und die elfjährige Elisabeth, von einigen Mädchen in tiefster Trauertracht unterstützt, boten Süßwein spanischer Herkunft in kleinen Gläsern und Konfekt an. Punkt 4 Uhr begannen die Glocken der nahen Nicolaikirche ihr ernstes Trauergeläut. Der langjährige Hausgenosse, Diakon Joh. Schmidt, segnete die Leiche bei ihrem Ausgang. Dann trugen acht Angestellte Zorns den auf eine Bahre gestellten Sarg die Treppe hinab. Vor der Tür empfing ihn die Kurrende des Berlinischen Gymnasiums mit dem Choral: »Laßt uns nun den Leib begraben ...« Als der Zug die benachbarte Nicolaikirche betrat, begrüßte ihn der Choral: »Ich fahr' dahin in Fried' und Freud'! ...«

Nach einem längeren Gebet predigte Lysius. Er sprach über eine Stunde. Unter Gesang wurde dann der Sarg in das seit den letzten Tagen ausgebesserte Grabgewölbe getragen und in einigem Abstand vom Sarge der ersten Gattin Zorns aufgestellt. Zwischen beiden wollte der Witwer selbst einst ruhen. »Hoffentlich recht bald«, sagte er denen, die ihn zu trösten versuchten. Gegen 6 Uhr waren die Leidtragenden wieder im Trauerhaus. Der Witwer dankte jedem der Erschienenen für seine Teilnahme. Den Frauen ward beim Abschied je ein Päckchen mit Backware oder Konfekt »auf den Heimweg« oder »für die lieben Kinder« mitgegeben. Einige der vertrauteren oder geehrteren männlichen Trauergäste wurden gebeten, dem trauernden Witwer an diesem Abend die Ehre zu einem Teller Suppe zu geben. Zorn war durch den Tag so ermattet, daß sein Bruder ihn auf seine Bitte als Wirt beim Trauermahl vertrat. Den beiden jungen Mädchen verbot die Sitte die Gegenwart beim Mahle der Männer. Auch der Löffel Suppe stimmte nicht ganz, denn er bildete nur den Eingang zu einem Mahl von vier Gängen. Eigentlich waren es zwölf Gänge; da war ein Rinderbraten, links von gebratenen Hühnern, rechts von gefüllten Tauben, eine süße Eierspeise von Gelees und Reistörtchen umgeben. Man konnte diese zwei Gänge ebensogut als sechs rechnen, aber dem strengen Luxusgesetz von 1705 war damit genügt. Die Üppigkeit bei Trauermahlen sollte eingeschränkt werden, aber man umging es durch Einordnen der kleineren Gänge als Beilagen der vier erlaubten Hauptspeisen.

Der aus dem wohlbestellten Keller Zorns reichlich gespendete Wein löste bald die Zungen der Tafelnden. Da die Hauptleidtragenden fehlten, wahrte man nicht allzu ängstlich die traurigen Mienen mitleidenden Jammers. Da meinte Archidiakon Ritner, behaglich seinen Alikante schlürfend:

»War doch ein jammervoller Anblick heute, der alte Zorn zwischen den beiden Mädchen! Er hat neun Kinder gehabt, und von allen ist ihm nur die einzige Enkelin Porst übriggeblieben.«

»Ja, und die kleine Heinrich ist auch die einzig Überlebende von fünf Kindern«, ergänzte Hilfsprediger Dieterich.

»Na, lieber Bruder, die hübschen Kinder werden wohl mit der Zeit neue Sprossen reichlich treiben. Sie sind ja auch mit äußeren Glücksgütern gesegnet.«

»Bruder Dieterich,« rief Kahmann, »die kleine Heinrich ist ein gutes, frommes Mädchen. Wer heiratet aber die Tochter einer ehebrecherischen Mörderin!«

»Wahre deine Zunge, Bruder Kahmann!« rief Andreas Schmidt. »Wer darf die Mutter eine Mörderin heißen! Das Gericht und der König haben sie nur als Ehebrecherin gestraft.«

»Ich nenne sie so!« rief Kahmann mit erhobener Stimme, »und du würdest sie auch so nennen, wenn dir Gott es gegeben, tiefer in die Herzen der Menschen zu blicken!«

Da war Schmidt an der empfindlichsten Stelle seines Selbstbewußtseins angegriffen. Ein grimmer Streit der beiden Geistlichen entbrannte, bis Kahmann sich schließlich erzürnt entfernte.

Der Hofkastellan Runck hatte bisher mehr getrunken als geredet. Jetzt bemerkte er, daß Kahmann nicht ganz unrecht habe. Denn die Heiratsaussichten der Ursula seien recht schlecht. Er wisse aber einen Ausweg: Zorn solle nach Ablauf des Trauerjahres die kleine Heinrich heiraten, dann werde sie etwa 16 Jahre sein und könne später als steinreiche Witwe Zorn die beste Partie nach eigener Wahl machen.

»Sie ist ja nur 50 Jahre jünger als Zorn«, lachte einer. Ein anderer meinte, daß ihre Mutter ihr ja das Beispiel gegeben, wie eine junge Frau sich in der Ehe mit einem alten Mann zu helfen habe. Ringsum Gelächter. Auf den schwerhörigen Dr. Zorn glaubte man keine Rücksicht nehmen zu brauchen.

Rektor Bodenburg vom Grauen Kloster bemerkte aber zu seinem Nachbar, dem Subdirektor Frisch:

»Ich gehe nach Haus. Widerlich, wie hier beim Todesmahl einer braven Frau über den Witwer und über das unglückliche Kind, die Ursula, gespottet und gewitzelt wird.«

»Ich habe auch meine Zeichen, daß ich genug habe.«

»Wieso?«

»Nun, ich gebe mir immer beim Trunk ein leichtes Rechenexempel auf. Kann ich das nicht mehr lösen, so gehe ich nach Hause. Da wurde eben vom Altersunterschied Zorns und der kleinen Heinrich gesprochen. Er ist 68 und sie 15 Jahre – ich bekomme nun nicht heraus, wieviel jünger sie ist.«

»Da bin ich doch trinkfester«, lachte Bodenburg. »Sie ist siebenundfünfzig Jahre jünger.« – Er hatte auch genug.

Die beiden Pädagogen entfernten sich nach herzlicher Begrüßung. Bald folgten die übrigen Gäste.

*

Am nächsten Morgen kam Schuster Lüdicke zum Stadtrichter.

»Ick wollte man fragen, wat nu jeschehn soll.«

»Was meint Er denn, Meister?« entgegnete Helwig erstaunt.

»Na, Briesemann und die Frau sind doch jestern freijesprochen. Der Mörder von Heinrich is also nich entdeckt. Da liejt die Blutschuld weiter uf die Stadt und uf mein Haus.«

»Gott hat sich offenbar selbst die Rache vorbehalten.«

»Herr Stadtrichter, so mögen de Prediger reden. Dat dürft Ihr aber nich als Richter! Ick habe in de Nacht von Heinrichen jeträumt; mit den zerschmetterten Schädel kam er an und rief immerzu: »Wo de hundert Taler sind, da is ooch mein Mörder!« Schrecklich war et! – Wat werdet Ihr nu tun?«

»Nichts, Meister Lüdicke. Gott weiß, in wieviel Händen das damals vermißte Kleingeld seitdem gewesen ist! Doch ich habe zu arbeiten, Meister, vielleicht sprechen wir ein anderes Mal weiter darüber.«

»Ihr wollt mir los sein, Herr Stadtrichter! Die Stadt will also ihren Bürgern nich mehr helfen – da werd ick sehn, ob der König uns hilft! Juten Morgen!«

Helwig sah dem sich ärgerlich entfernenden Meister gedankenvoll nach. »Soweit sind wir also gekommen, daß ein alter Bürger jetzt beim König ein Recht sucht, das ihm die Stadt nicht leisten kann! Na, der König wird ihm auch nicht helfen können. Heinrich, Heinrich! Hätte dich der Teufel lieber auf andere Weise geholt!«


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