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VIII.

Das große Trauermahl am Abend des 20. Februar bildete einen Abschluß für das Haus Zorn. Es war während der ersten Ehe des Apothekers und in den ersten Jahren seiner zweiten oft die Stätte froher Geselligkeit gewesen. Seitdem dann Frau Zorn der Welt entsagt, war das Haus doch immer noch häufig von den Geistlichen besucht worden. Auch Geschäftsfreunde des Hausherrn waren noch ab und zu am wohlbesetzten Tisch erschienen. Das war jetzt zu Ende. Zorn löste sein Handelsgeschäft auf, nur seine vom Großvater schon betriebene Apotheke behielt er. Die Geistlichen, die wesentlich von Frau Zorn angezogen und verwöhnt worden waren, kamen seltener. Mit ihr hatten sie regelmäßig über religiöse Fragen disputieren können; jetzt hörte ihnen der Witwer stumm beipflichtend zu, und das wurde ihnen auf die Dauer langweilig.

Frau Zorn hatte als Jungfer Bernhard so gut wie nichts in die Ehe gebracht, also auch irdisch Geld und Gut nicht hinterlassen können. Ein rührendes Schreiben fand man nach ihrem Tode in ihrem Schreibpult; sie bat darin ihren Mann, ihre ganz einfach gearbeiteten Kleider den Hausarmen zu geben. Den einzigen Besitz, den sie auf Erden gehabt – die Liebe ihres Mannes – vermache sie Elisabeth Porst und Ursula Heinrich. Den beiden Mädchen legte sie es dringend ans Herz, dem alten Mann treue Liebe und Dankbarkeit zu erzeigen, damit sie alle im Jenseits einander wiederfinden könnten.

Aber die fromme Frau hatte ein himmlisches Gut hinterlassen; in ihrem Schreibpult fand man ganze Stöße von Bemerkungen über die von ihr in den letzten 15 Jahren gehörten Predigten. Meist waren sie nur flüchtig niedergeschrieben, manche auf einzelnen Zetteln, andere mit schwierig zu entziffernden Abkürzungen. Da überließ der Witwer die Geschäfte in der Apotheke immer mehr seinem langjährigen Provisor und mühte sich, diese Gedanken und Ausführungen der Verstorbenen zu sammeln und zu sichten. Hierbei halfen ihm sein Schwiegersohn Porst und der langjährige Freund und Beichtvater der Familie Lysius. Sie bewogen den Witwer auch, die Sammlung in den Druck zu geben. Das zweibändige Buch erregte in frommen Kreisen Berlins, aber auch weit in Deutschland ungewöhnliches Aufsehen. Da besang der berühmte Magdeburger Dompfarrer Winkler die fromme Verfasserin in einem langen Lied:

 

»Du gingst mit stillem Geist in der Verleugnung hin.
Sahst immer auf dein Herz, bewahrtest deinen Sinn
Mit stetem Kampf und Fleiß ...«

 

O, teure Zornin, o, wie schön ist dein Geruch,
Wie schön dein Glanz und Licht bei denen, die im Buch
Des Lammes geschrieben stehn!

 

Wohl dir, du reiner Geist! Was ich von dir verlange
Zum Abschied, ist (ach, gib mein Gott, daß ich's empfange),
Dein Segen sei bei mir, dein Sinn sei mir vermacht!«

 

Derselbe dichtete auch auf sie das von Porst in sein Gesangbuch aufgenommene Lied: »Ringe recht, wenn Gottes Gnade ...« Noch heute ist es unter Nr. 501 im Berliner Gesangbuch zu finden; von den ursprünglich 23 Strophen sind nur fünf geblieben. So war das Andenken der Gerechten noch lange in Segen lebendig.

Aber die kleine Porst klagte ihrer älteren Freundin Ursula, daß sie aus den dicken Büchern der Großmutter sich nicht zurechtfinde. Ursula tröstete sie damit, daß es ihr genau ebenso gehe.

»Ich muß immer daran denken, wie liebreich sie mich aufgenommen und mich getröstet hat, als ich meiner Mutter entrissen wurde. Da haben mir ihre Gebete lange nicht soviel genützt wie ihr Beispiel. Ich glaubte ihr, weil ich fühlte, wie gut sie es mit mir meinte.«

Else zog hieraus die Lehre, daß sie sich mit den beiden Bänden der Frau Zorn nicht zu beschäftigen hätte.

Im allgemeinen war die Erziehung der beiden die in Berlin gewöhnliche für Töchter des höheren Bürgerstandes: Lesen, Schreiben und Rechnen bei einem alten Magister, der mit seiner Frau eine Mädchenschule unterhielt. Viel Religion, viel Lernen von Kirchenliedern. Aber Ursula hatte sich von ihrer strebsamen Mutter manche Kenntnisse angeeignet. Diakon Kahmann hatte sich für das aufgeweckte Mädchen in der Predigerstunde interessiert und gern ihre Fragen ausführlich beantwortet. Sie hatte manches aus der Geschichte und Erdkunde gelernt und das Gelernte während des Aufenthalts im Zornschen Hause aus den Tischgesprächen mannigfach vertieft und erweitert. Das meiste hatte sie von den beiden betagten Brüdern Zorn gelernt. Der Arzt hatte in den Krankenhäusern und Lazaretten Oberitaliens seinerzeit gearbeitet. Sie konnte ihn nicht genug nach seinen damaligen Erlebnissen ausfragen. Ihre Wangen glühten, wenn der gefällige Mann erzählte. Dann sah sie Mailands Marmordom mit dem Blick auf die Alpenkette, die Vermählung des auf dem Bucentaur stattlich daherfahrenden Dogen von Venedig mit der Adria. Dann träumte sie vom Liebesglück und Liebesleid der Veroneser Romeo und Julia. Auch der jüngeren Elisabeth war das Wissen und Streben der älteren Freundin vielfach zugute gekommen. Beide Mädchen, Ursula weit über den Durchschnitt, Elisabeth gut beanlagt, konnten es an Kenntnissen mit den Altersgenossinnen ihres Standes aufnehmen. Außer dem Hause hatten sie fast gar keinen Verkehr, nur beim Vater der Elisabeth, der sich wieder vermählt hatte, waren beide bisweilen zu Gaste. Ein inniges Verhältnis zwischen Elisabeth zu ihrer Stiefmutter und ihren Stiefgeschwistern entwickelte sich aber nicht.

Mit ihrer Mutter wechselte Ursula nicht selten sehnsüchtige Briefe, den Besuch der Tochter in Spandau hatte sich die Mutter verbeten, die mit baldiger Begnadigung rechnete.

Zwei stille Jahre seit dem Februar 1711 waren so verflossen. Da starb am 25. Februar 1713 der erste Preußenkönig. Eine neue Zeit begann für Preußen. Die Trauerfeierlichkeiten für den Verstorbenen zeigten auf lange Zeit zum letztenmal königlichen Pomp und königliche Pracht den staunenden Berlinern. Dann setzte der neue König, nüchtern, ernst und zielbewußt, die harthändige eherne Pflicht und rastlose Arbeit an Stelle des flimmernden, weichlichen Scheins. Gleich nach seinem Regierungsantritt beriet er mit Bartholdi Mittel zur Abhilfe der schreienden Mißstände in der Rechtspflege. »Die schlimme Justiz schreit zum Himmel, und wenn ich dem nicht abhelfe, mache ich mich vor Gott verantwortlich«, meinte er. Unbewußt bewegte sich der junge Fürst hier in einem Gedankenkreis, in den ihn seit Jahren Bartholdi geführt hatte. Denn dieser, an Menschenkenntnis den König weit überragend, hatte es verstanden, den polternden Biedermann zu spielen. Klagen über das sich zum Abfall neigende Justizwesen, über den verdunkelten Glanz des königlichen Wahlspruchs, des suum cuique. Leise Andeutungen, daß er, Bartholdi, wohl der geeignete Helfer sein könnte. Und Friedrich Wilhelm, der Todfeind der Unwahrheit in jeder Art, sagte sich: Das ist kein Schönfärber, Blender oder Schmeichler; das ist ein Ehrenmann, der schwindelt nicht, der nimmt kein Blatt vor den Mund, obgleich er als Justizminister für die Verlotterung verantwortlich ist. So hatte Bartholdi einen glänzenden Sieg errungen. Einen Pyrrhussieg. Der kränkliche Mann – gestellt vor eine Riesenaufgabe! Dazu der feste königliche Wille, kein Geld für die notwendigsten Verbesserungen zu bewilligen. Da wurden kleine, unzureichende Mittel versucht. Die bisher ganz unkontrollierten Vertreter der Parteien und ihre Verteidiger in Strafsachen, die Prokuratoren und Advokaten, wurden schärfer angefaßt. Es gab deren so viele, daß sich in Berlin zwei Advokaten von sechs Sachen ernährten. Und sie ernährten sich gut, denn ihnen gehörten die schönsten Häuser. Auf Kosten ihrer Klienten trieben sie dann Üppigkeit und Schwelgerei. Jetzt beschränkte man ihre Zahl, stellte den Gestrichenen anheim, »eine Profession zu ergreifen«. Die Verbleibenden erhielten Patente und sollten – wie die Geistlichen – eine modeste Kleidung tragen. Man hatte in ein Wespennest gegriffen, die »modeste Kleidung« war so bescheiden, daß sie geschmacklos wirkte. Bei den Advokaten ein längerer, bei den Prokuratoren ein kürzerer schwarzer Mantel entstellten ihre Träger. Diese sannen auf Abhilfe. Da wurde unter einem Mantel von anderer Farbe der befohlene schwarze getragen. Oder der vorgeschriebene war von so leichtem Stoffe, daß er wie ein Band aufgewickelt und in die Tasche gesteckt werden konnte.

Dies Versteckspiel weckte die Spottlust der Berliner. Eines Tages kam Elisabeth Porst jubelnd vom Weihnachtsmarkt auf dem Schloßplatz. Ein hölzernes Gebilde von sechs Zoll hielt sie in der Hand – einen Advokaten mit dem in die Tasche gesteckten Mantel! »Es ist der letzte,« rief sie, »der Generalfiskal Duhram hat die kleinen Scheusale beschlagnahmt.« Aber die kindliche Freude, eine Seltenheit zu besitzen, war verfrüht. Der König hob auf die Beschwerde des Drechslers sofort die Beschlagnahme auf und kaufte selbst in großer Menge solche Männchen. Schmunzelnd verschenkte er sie in seinem Tabakskollegium. Der verständige Gedanke Bartholdis, den Anwaltstand zu heben, wurde so durch die königliche Spottlust vereitelt. Die Befolgung wurde durch strenge Strafen erzwungen. Dann Bittgesuche einzelner, sie im Gnadenwege vom Tragen des Mantels zu entbinden. Meist erfolglos. Dann ein Ausnahmefall – ein Roman im nüchternen Berlin! Margaret Müsset, einst mit Ursula befreundet, verlobte sich mit einem Advokaten. Das eitle Mädchen wollte aber die Verlobung auflösen, denn eine lächerliche Person könne sie nicht heiraten. Ihr Schwager, Kastellan Runck, hätte die Hausgenossin gern unter die Haube gebracht. Seine inständige Bitte, dem Verlobten das Tragen des Mantels zu erlassen, wurde abgeschlagen. Erneutes Gesuch. Dann der Bescheid des Königs: »Der Kerl soll Hoffiskal sein und kann so ohne Mantel seine Advokatenstreiche machen.«

Die Sache hatte ein Nachspiel: Der neu ernannte Hoffiskal löste seine Verlobung auf; es habe ihn verletzt, daß die Braut ihn nicht mit dem Mantel habe heiraten wollen. Der Bräutigam ohne Braut und Mantel hatte die Lacher auf seiner Seite, die Braut hatte für den Spott nicht zu sorgen.

Wütender Haß der Anwaltschaft gegen Bartholdi, auch sonst Mißerfolg auf Mißerfolg. »Warum das Ziel so weit und der Atem so kurz?« seufzte er schmerzlich, wenn der König ihm Aufgabe über Aufgabe stellte: Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten, Prozeßreform zur Abkürzung des Verfahrens. Dazu keine Unterstützung, weder beim König noch bei den jammervoll bezahlten Beamten. Lebenslang hatte er sich in der Hofgunst gesonnt – jetzt fühlte er, wie ihm der enttäuschte Fürst sein Vertrauen entzog, wie der Kammergerichtsrat v. Katsch ihn schon bei Lebzeiten beerbte. Polizeiliche Willkür an Stelle des Rechts. Enttäuscht, verbittert, verlor sein geschwächter Körper jede Widerstandskraft. Dazu die nagenden Gewissensbisse. Das zerstörte Leben der einst von ihm Verführten, die ungewisse Zukunft seiner reizenden Tochter raubten ihm die Ruhe der Nächte. Seit dem Frühjahr 1714 kränkelte er. Mit seiner Gattin hatte er sich immer mehr auseinandergelebt. Sie kümmerte sich kaum um den Leidenden, der sich in gesunden Tagen auch wenig um die unschöne, launenhafte Gefährtin gekümmert. Am Morgen des 28. August 1714 fühlte er das Herannahen des Todes. Mit Mühe entnahm er einem Kästchen eine goldglänzende Locke.

»Mein Kind, mein Kind«, flüsterte er, die Locke an seine bleichen Lippen führend. »Der Vater im Himmel gebe dir alles Glück und allen Segen!«

Er hielt die Locke noch in der Hand, als ihn sein treuer Jean nach kurzer Abwesenheit entseelt vorfand. Jammernd rief er die Gattin zum Verstorbenen.

»Entfernt und verbrennt die Haare«, sagte sie tränenlos kalt zum weinenden Diener. »Wie gelebt, so gestorben«, knirschte sie zwischen den Zähnen. »Die Erinnerung letzter sündiger Lust noch in erstarrter Hand!«

Wenige Stunden später empfing sie ein nicht unterzeichnetes Schreiben. Darin war ihr geraten, den Leichentext aus Nahum 3, Schlußvers, zu wählen. Beim Nachschlagen in der Bibel fand sie die Stelle:

»Niemand wird um deinen Schaden trauern, noch sich um deine Plage kränken, sondern alle, die solches von dir hören, werden mit ihren Händen über dich klappen. Denn über wen ist nicht deine Bosheit ohne Unterlaß gegangen.«

»Das wird einer von den Advokaten gewesen sein«, dachte sie. »Der feige, tückische Bube ahnt nicht, daß auch ich diesen Text mit Recht hätte wählen können.«

Im Hause Molkenmarkt 4 löste die Todesnachricht andere Gefühle aus. Als hier Zorn den beiden Mädchen die Nachricht mit dem Zusatz mitteilte, daß die ganze Anwaltschaft wie von einer Last befreit aufatme, brach Ursula in lautes Weinen aus. Elisabeth Porst bemerkte, der Minister müsse doch ein grundschlechter Mensch gewesen sein, da sein Tod als eine Befreiung vom Übel aufgefaßt werde. Da wurde die sonst so gehaltene Ursula maßlos zornig.

»Schweig!« rief sie zur erschrocknen Kleinen. »Du mußt mich gar nicht lieb haben, daß du so über diesen Mann sprechen kannst! Sonst würdest du ihn segnen! Er hat meine Mutter vom Tode gerettet. Ach, und er war so unendlich gut zu mir.«

Sie schluchzte, die Erinnerung an die schwerste Stunde ihres Lebens überwältigte sie.

Mit liebevollen Worten suchte Else sie zu beruhigen.

»Verzeih', ach verzeih'! Süße Ulla! Daß ich auch daran nicht gedacht habe!«

»Ja, siehst du Else, ihm verdanke ich mein Leben. Ich hätte vor drei Jahren den Tod meiner Mutter und den deiner Großmutter nicht überlebt. Wie sehr habe ich den edlen Mann verehrt! Ich werde zu seiner Trauerfeier gehen.«

Der alte Zorn aber meinte, daß dies kaum anginge, da Bartholdi als Reformierter in der bei ihrer Gründung von ihm unterstützten Parochialkirche werde beigesetzt werden. In diese könne Ursula als Lutheranerin nicht gehen. Sie aber bat so lange, daß der gute Mann es endlich gestattete. Ursula solle sich aber tief verschleiern. Auch die kleine Porst erbettelte sich die Erlaubnis, um Ursula zu versöhnen.

»Ich will auch gar nicht hinhören, was der Prediger dort sagt«, meinte sie. Und es war ihr ernst mit diesem Versprechen.

So nahmen die beiden an der Trauerfeier in einem Winkel der Parochialkirche teil. Hof und Beamtenwelt erwiesen dem Verstorbenen die ihm nach dem Stande gebührenden Ehren. Pfarrer v. Stercky feierte in glänzender Rede seine Verdienste. Aber die innigsten Gebete für ihn stiegen aus dem tief erregten, dankerfüllten Herzen Ursulas empor.

»Ulla, du warst die traurigste in der ganzen Kirche,« sagte Else nach der Feier, »ich habe sonst keinen weinen gesehen.«

*

Mit Bartholdis Tod war der brennende Justizeifer des Königs erlöschen.

Im Waffenlärm schweigen Gesetze und Gesetzgebung. Der Tod Louis XIV. und die immer deutlicher zutage tretende Ohnmacht Schwedens zeigten Ziele. Da zogen preußische Truppen im Bunde mit Rußland, Dänemark und Hannover nach Vorpommern, um diesen schwedischen Besitz zu erwerben. Gleichzeitig legte der König die Axt an die Wurzel des alten Feudalstaates. Seine Erfolge hatte er im Grunde den Juristen und Theologen zu danken. Seit fast 200 Jahren hatten sie der unbeschränkten Fürstenmacht die Wege gebahnt. Rechtsgelehrte hatten dem Kurfürsten von Brandenburg die Rechte der römischen Cäsaren beigelegt. Die Geistlichen hatten über diese Stellung noch den mystischen Weihrauch des Gottesgnadentums duften lassen. Reformierte und Lutheraner stritten jetzt in gelehrten Abhandlungen, beide bewiesen, daß nach ihrem Bekenntnis ein Landesherr am sichersten seine Untertanen beherrschen könne.

König Friedrich Wilhelm zog aus diesen Lehren die letzten Folgerungen. Es wurde ihm nicht allzu schwer. Der Adel und die Immediatstädte wachten immer weniger über die Wahrung ihrer Privilegien. Man buhlte um Ehren und Gnaden bei Hofe oder man suchte Schutz beim König, Schutz – den man früher sich selbst gewährt hatte.

Zu den Bittstellern gehörte auch der Bürger und Schuhmachermeister Lüdicke. Anfang Januar 1715 wandte er sich an den König mit der Bitte, nun endlich doch den Mörder des Heinrich zur Strafe zu ziehen. Nur so könnte der Fluch von seinem entwerteten Haus genommen werden. Der König sandte dieses Bittschreiben dem Geheimen Staatsrat. Am 11. Januar, also genau am Todestag des Heinrich, wurden die Beichtväter des Briesemann und der Witwe, Andreas Schmidt und Lysius, zu einem Bericht aufgefordert: Sie sollten sich erklären, ob sie ihre damaligen Beichtkinder am Morde für unschuldig hielten. Die beiden Geistlichen berichteten unter dem 23. und 25. Januar. Beide führten aus, daß sie nach dem genauen Verkehr mit den Verurteilten vor vier Jahren keinen Zweifel hegten, daß beide am Morde unschuldig seien. Schmidt schließt seinen Bericht:

»Vor Gott und dem Lande können Ew. Majestät mit dem Gewissen entschuldigt seyn, massen sie als ein gerechter Landes-Herr alles gethan, was zu erdenken gewesen, das Blut vom Lande und Stadt zu heben, es wäre auch die grösseste Wolthat gewesen, die Eure Majestät denen inhaftierten thun können, wenn sie als schuldige des Mordes dadurch wären offenbahr worden, als welche dem Verderben in dem schröcklichen Gerichte Gottes, das künftig ist, wären durch die Busse entsühnet worden ...«

Schmidt und Lysius waren der Meinung gewesen, der König wolle von ihnen erfahren, ob noch irgendein Verdacht gegen die Ehebrecher wegen des Mordes vorhanden sei. Im Falle der Verneinung würden jene beiden vollständig begnadigt werden. Lysius deutete in vorsichtiger Weise dies der darüber hocherfreuten Ursula an.

Dies war aber ein Irrtum. Ihr Bericht hatte eine andere Folge. Dem Geheimen Staatsrat wurde vom König aufgegeben, die nach dem Kurfürstentum Sachsen weisenden Spuren der Mörder auf diplomatischem Wege zu verfolgen. Das von Lüdicke mit unermüdlichem Eifer Ermittelte war dürftig genug. Seine Quelle war ein zum Weihnachtsmarkt 1714 nach Berlin gekommener Kalauer Schuster, dessen Sohn Kutscher im Dienst der Prinzessin Lubomirska war. Dieser Kutscher habe erzählt, daß er bei der Abfahrt der Dame im Januar 1710 einen jungen Menschen aus der Stadt mitgenommen habe. Der habe Schade oder so ähnlich geheißen und sei mit dem Diener seiner Herrin befreundet gewesen. Der Mensch sei sehr lang und in der Gegend von Dresden zu Hause gewesen; dahin sei er damals gefahren. Seitdem habe er ihn nicht wieder gesehen. Der Diener habe vor vier Jahren die Prinzessin bestohlen und sei – soviel er wisse – auf der Flucht schwedischen Werbern in die Hände gefallen. Weiteres hatte Lüdickes Gewährsmann nicht anzugeben vermocht, sein Sohn wäre jetzt bei der Prinzessin in Warschau.

Auf die Anfrage des Geheimen Rats kam im Juni 1715 eine Antwort aus Dresden. Man hatte den Kutscher vernommen; der hatte die Angaben seines Vaters bestätigt. Der diebische, aus dem Dienst gelaufene Diener habe Georg Müller geheißen und sei in der Meißener Gegend zu Hause gewesen. So viel man gehört, sei er vor einigen Jahren in schwedischen Kriegsdiensten bei Tönning gefallen. Der Geheime Staatsrat glaubte, den Behörden in Dresden und Warschau die weitere Verfolgung der nach Meißen führenden schwachen Spur überlassen zu sollen. Man legte die Akten beiseite.

Durch eine Hintertür erfuhr Lüdicke das Ergebnis.

»Die faulen Sachsen werden ooch nischt rauskriejen. Eener soll dod sein, aber ick ruhe nich, bis ick den andern Halunken ufjestöbert habe. Denn soll er Lüdicken kennenlernen!«

Noch enttäuschter als Lüdicke war Ursula. Sie hatte mit Sicherheit die Freilassung ihrer Mutter erwartet. Da traf es sich gut, daß der alte Dr. Zorn zu seinem Bruder, dem Apotheker, sagte:

»Schicke doch wieder, wie vor fünf Jahren, die beiden Mädchen nach Freienwalde. An deiner Stelle ging ich mit ihnen. Du wirst auch älter, und eine Ausspannung schadet dir nicht. Dein alter Provisor versteht den Kram so gut wie du, und ich kann ihm auf die Finger gucken.«

Die Weigerung des alten Apothekers war keine ernstliche, auch ihm war ein Wechsel willkommen. Die Reise war für Anfang August beschlossen, da es vorher dort zu voll sei. Aber seit dem Tode König Friedrichs, des Begünstigers und regelmäßigen Besuchers des Bades, war in den Hofkreisen jede Teilnahme dafür wie weggewischt. Das niedliche Schlößchen am Brunnen zeigte deutliche Spuren des Verfalls, statt des rauschenden Lebens einförmige Stille. So erhielt auch Zorn sein früheres Quartier in der Mühle wieder.

Die dicke Müllerfrau begrüßte die Gäste. Sie versicherte Zorn, daß er seit der letzten Anwesenheit schrecklich alt und klapprig geworden und wohl nicht mehr lange mitmachen werde.

»Aber Eure Frau« – sie wies auf Ursula – »hat sich gut herausgefuttert, der kiekte ja dunnemals der Dod aus de Oogen. Is dat bei det eene Kleene jeblieben?« fragte sie, auf Else zeigend.

Die lachte hell auf: »Müllern, meine Mutter ist kaum vier Jahre älter als ich!«

Die Schwachsichtige erkannte ihren Irrtum. »Det freit mir. Wat soll son oller Mummelgreis, der den Dotenjräber von die Schippe jefallen is, ooch mit son junget Blut. Na, Meechens, denn macht ihn man bald zum Urjroßvater!«

Die Mädchen lachten. Dem alten Zorn war aber diese zwanglose Erwähnung seiner Hinfälligkeit heftig in die Glieder gefahren. Er fühlte seine Gebrechlichkeit und war daher froh, daß sich der Brunnenarzt Gohl mit seiner jungen Frau der beiden Mädchen annahm. Gohl hatte als Brunnenarzt fast gar nichts mehr zu tun, seine Besoldung als Leibarzt hatte er beim Regierungswechsel verloren. So hatte er sehr viel freie Zeit, und das kam Ursula und Else zugute, derer sich auch Frau Gohl mit liebenswürdiger Gefälligkeit annahm. Noch weniger als der Arzt hatte ein junger Apotheker, Johann Schrader, zu tun, ein Frankfurter, der während der Brunnenzeit in Freienwalde die von Gohl verschriebenen Tränklein zu brauen hatte. Gohl hatte aber kaum Gelegenheit, etwas zu verschreiben, und so hatte Schrader eine angenehme Freizeit. Ursula schien mit dem ersten Blick sein Herz erobert zu haben. Er folgte ihr auf allen Wegen. Ärgerlich, daß die Angeschwärmte nur in steter Begleitung von Else Porst zu sehen war. Eigentlich hätte er zu der hübschen braunlockigen Else mit ihrer gedrungenen Gestalt viel besser gepaßt. Ursula überragte fast um Haupteslänge den kleinen, immer vergnügten Frankfurter. Mit seinem runden Kopfe, den schwarzen, listig und fröhlich in die Welt blickenden Augen und seinem Bäuchlein sah er neben der stattlichen Ursula noch dürftiger als sonst aus. Aber ihr zuliebe bekämpfte er seine Bequemlichkeit und bestieg die mit Buchen bestandenen Höhen in der Nähe des Brunnens. Ursula nahm aber den jungen Mann kaum ernst. Es schien ihr Spaß zu machen, wenn er erhitzt und keuchend neben ihr trippelte. Gohl hatte im verlassenen Schlößchen einige Federbälle und Schläger aufgestöbert. Sie mochten vor Jahren in der Glanzzeit des Bades von Herren und Damen des Hofes zum Federballspiel benutzt sein. Jetzt war es ein hübscher Anblick, wenn die beiden Mädchen und Frau Gohl in hellen, weiten, über das Knie reichenden Sommerkleidern auf der zum Spielplatz gewählten Wiese beim Brunnen die bunten Federbälle in die Luft warfen und sie mit dem Schläger geschickt auffingen. Daran beteiligten sich auch Gohl und Schrader. Letzterer war meist der Verlierende, Ursulas Augen verwirrten ihn, wie er ihr mit einem heißen Blick zuflüsterte. Sie lachte:

»Achtet dann eben besser auf den Ball als auf die Augen!«

»Das ist unmöglich,« versicherte er.

Dann kamen kalte, unfreundliche Regentage, an denen vom Federballspiel und Spazierengehen keine Rede war. Die waren dem alten Zorn die liebsten. Da erzählte er in stiller Behaglichkeit seinen aufhorchenden, holden Reisegefährtinnen aus seiner Jugend. Von der Pracht Nürnbergs und Augsburgs, ja sogar vom strahlenden Zauber der stolzen Königsstadt Paris. Der verbrauchte Greis lebte auf. In seine halberloschenen Augen trat wieder jugendliches Feuer. Es kostete der aufmerksamen Zuhörerin Ursula Mühe, den sich fast fieberhaft erregenden Greis wieder auf nüchternen Gesprächsstoff zu bringen.

Der verliebte Schrader aber benutzte die Regentage, um in seinem Laboratorium zwar keine Heiltränke, aber ein Schönheitswasser nach einem von ihm selbst verbesserten alten Rezept zu brauen. Aber als er es Ursula verehren wollte, blitzte sie ihn schelmisch an:

»Meint Ihr, daß ich es so nötig habe?«

Schrader stutzte. »Ich war ein Esel! Gebt es der kleinen Else, die kann es gebrauchen.«

»Was habt Ihr nur gegen das gute Kind?«

»Sie ist mir, wie selten ein Mensch, unangenehm. Ewig ist sie an Eurer Seite, man kann mit Euch kaum ein Wort reden, so albert sie dazwischen. Neulich wäre ich beinahe grob gegen sie geworden!«

»Um Gottes willen! Das liebe Kind!«

»Ja, Kind! Kinder sollen in der Kinderstube bleiben und nicht überall den Erwachsenen lästig fallen!«

»Mir ist sie niemals lästig gefallen.«

»Weil Ihr ein Engel seid! Das bin ich nicht.«

Ursula lachte. Eine weitere Unterhaltung wurde durch die stets störende Else unmöglich. Hocherrötend dankte sie mit einem Knix, als Schrader ihr das Wässerchen verehrte. Dann empfahl er sich.

»Gott befohlen, ich werde versuchen, das verschmähte und wirklich ganz unnötige Schönheitswasser durch etwas anderes zu ersetzen.«

Auch die deutschen Dichter wurden vom immer verliebteren Schrader zum Sturm auf Ursulas Herz herangezogen. Da fand er ein von einem Hofkavalier bei seiner Wirtin vor Jahren liegengelassenes Bändchen: »Herrn von Hofmannswaldau und anderer Deutschen auserlesene und bisher ungedruckte Gedichte«, bei Thomas Fritsch in Leipzig erschienen. Mit schmelzender Stimme und verliebten Äuglein trug er daraus ein Gedicht »An Clorinde« vor. Auf Ursula starrend, schloß er begeistert:

»Komm, komm und folge meiner Lehre,
Die Venus hat es auch getan
Und tausend mehr! – Was ist die Ehre?
Ein kluges Nichts, ein bloßer Wahn!«

Ein »wie reizend!« aus Elses Munde belohnte ihn. Er machte aber ein töricht erstauntes Gesicht, als Ursula bemerkte:

»Liebe Else, du hast hoffentlich die unartige Albernheit nicht verstanden.«

Bald danach erschien er mit einem zierlichen Päckchen.

»Das Geschenk ist nicht so süß wie die Beschenkte.«

Es waren sogenannte Morsellen, stark gewürztes Zuckerwerk in niedlichen Vierecken, wie es die Apotheker zu Neujahr Ärzten und Kunden zu verehren pflegten.

»Dies ist aber nur für Euch bestimmt und nicht für den kleinen Störenfried!«

Ursula dankte kühl. »Ihr ahnt nicht, wie herzensgut Else ist, und wie nett sie immer von Euch redet.«

»Nun, dann mag sie ein Stückchen abbekommen,« entschied Schrader großmütig.

Ursula hatte leider an Morsellen nie einen Gefallen gefunden, deshalb gab sie Schraders Geschenk trotz seines Verbots an Else, die es vergnügt aufknabberte. Aber nicht alles.

Eines Abends im gemeinsamen Schlafzimmer mußte Ursula laut lachen:

»Else! Du trägst ja eine Morselle auf deinem Herzen! Das klebrige Ding ist ausgelaufen. Das ist köstlich! Das muß ich Schrader erzählen, solche Ehre ist ihm gewiß noch nie zuteil geworden.«

Else kicherte: »Und Ringe gehören auf die Finger und auch nicht aufs Herz! Ich habe dir nur nachgeahmt, weil du Bartholdis Ring auch da trägst!«

»Du hast recht. Es war eine Feigheit von mir. Ich werde ihn von jetzt ab auf dem Finger tragen. Ach, übermorgen ist es schon ein Jahr her, daß der gute, edle Mann gestorben!«

Eines Abends war Schrader bei Zorn. Als die jungen Mädchen bereits ihr Schlafgemach aufgesucht hatten, saß er noch lange mit dem Alten bei einer Flasche Wein. Sie hatten viel miteinander zu tuscheln. Beim Abschied versprach Schrader, am nächsten Tage mitzuteilen, ob alles in Ordnung.

»Sagt aber den Mädchen nicht, was wir vorhaben! Sie sollen überrascht werden.«

»Keine Silbe«, rief Schrader und drückte kräftig Zorns Rechte.

Am nächsten Nachmittag – Zorn hielt gerade sein gewohntes Mittagsschläfchen – erschien Schrader bei den jungen Mädchen. Er bat sie, jenem zu sagen, daß das Bestellte morgen um 12 Uhr vor der Mühle sein werde. Plötzlich bemerkte er an Ursulas Hand den glänzenden Ring. Er betrachtete ihn mit steigender Verwunderung. Dann fragte er mit erregter Stimme:

»Wißt Ihr, daß der Ring seine 2000 Taler wert ist? Woher habt Ihr ihn?«

Ursula, verwundert über diesen ungewohnten Ton, erklärte kurz, der Wert des Ringes sei ihr ganz unbekannt. Er sei ihr nur als Erinnerung an einen ihr sehr teuren Mann unschätzbar. Da mischte sich Else in das Gespräch: Der Freiherr von Bartholdi habe ihr den Ring geschenkt, als Ursula ihn um das Leben ihrer Mutter gebeten. Bis jetzt habe sie ihn auf dem Herzen getragen.

»So, so!« sagte Schrader und entfernte sich überraschend schnell, da er noch ein eiliges Heilmittel zu mischen habe.

»Else, du bist doch ein ganz schlechtes Mädchen! Du durftest nicht sagen, wo ich Bartholdis Ring getragen habe! Ich war drauf und dran, ihm zu erzählen, wo du seine Morselle aufbewahrt hast!«

Die Kleine fing an zu weinen. »Ach, Ulla, dann wäre ich vor Scham gestorben. Ich hätte ihm nie wieder unter die Augen treten können!«

Der alte Zorn lächelte verschmitzt, als ihm die Bestellung Schraders ausgerichtet wurde. Am nächsten Tage hielt um die Mittagsstunde ein Bauerngefährt vor dem Haus. Zorn forderte die Mädchen auf, ein paar Flaschen Wein, Brot, Schinken und Eier einzupacken. Die erstaunten Mädchen, dem herrlichen Sommertage zu Ehren in schneeweißen, mit Spitzen und bunten Bändern aufgeputzten Kleidern, waren in übermütigster Stimmung.

»Ulla, du siehst wie eine glückliche Braut aus«, rief Else begeistert.

Der alte Zorn schmunzelte. »Ja, ausgeputzt habt Ihr euch! Wenn die Brautkutsche nur etwas weniger stuckerte und der Weg etwas weniger sandig wäre!«

Nach einer Stunde war Sonnenburg erreicht. Die Pferde wurden in dem dürftigen Kruge eingestellt. Ein Junge des Wirts, mit den Eßvorräten beladen, führte die kleine Gesellschaft. Es ging durch einen prächtigen Buchenwald auf schmalem Weg zu einem im Sonnenlicht blitzenden, einsamen See von klarer, blauer Farbe. Von allen Seiten umschlossen ihn bewaldete Höhen. »Det is der Baasee«, sagte der Junge, »doch Fische sin nich drin.« Die Mädchen jauchzten, auch Zorn, der so vieles im Leben gesehen, war von der eigenartigen Schönheit überrascht.

»Es ist, als sei ein Stück vom Himmel auf die Erde gefallen!«

Bald aber überkam ihn die Müdigkeit in der Hitze des Sommertages, und er suchte sich ein schattiges Plätzchen zum Schlummern. Die jungen Mädchen schlenderten indes Arm in Arm, von dem kleinen Bauernburschen geleitet, rings um den See und stiegen dann zu einer Aussicht auf eine der Anhöhen. Außer Hörweite des Alten begannen sie zu singen. Hell schallten Ursulas Alt und Elses heller Sopran durch den Wald:

»Es ist ein' Ros' entsprungen –«

Daß dies eigentlich ein Weihnachtslied und bei der Augusthitze nicht recht am Platz, störte die fröhlichen Sängerinnen nicht. Ebensowenig, daß das danach angestimmte

»Ein feste Burg ist unser Gott –«

als Trutzlied der Reformation auch nicht recht in den idyllischen Frieden dieser Waldeinsamkeit paßte. Dunkelblauer Himmel mit weißen Federwölkchen, würziger Tannengeruch, ein warmer, leiser Windeshauch. Dazu die fröhlichen Stimmen glücklicher Menschen. Ursula flüsterte zu Else: »Das Leben ist doch schön! Und ich wollte so oft verzweifeln.«

Da hörten sie ihren Namen rufen und eilten zu Zorn zurück. Er war ärgerlich, die Mücken hätten ihn im Schlafe gestört. Er wurde immer unruhiger. Schließlich fiel es den beiden auf, und sie fragten ihn, was er denn habe. Da erzählte er ihnen, Schrader habe herauskommen und den Nachmittag mit ihnen verleben wollen. Ursula meinte, er werde wohl noch kommen, oder er habe eine Abhaltung. Else aber fing zu weinen an, er werde wohl krank geworden sein oder auf dem einsamen Wege durch den Wald von Räubern erschlagen. Zorn verwies ihr diese Annahme als Unsinn. Er werde sich die Sache anders überlegt haben, da hatte er aber nicht die Fahrt erst anregen sollen.

Ursula lachte. »Dafür können wir ihm doch nur dankbar sein. Nie sah ich etwas schöneres als den stillen blauen See!«

Else aber kam immer wieder auf ihre düsteren Prophezeiungen zurück, bis Zorn ihr ärgerlich den Mund verbot. Die beiden waren auch in geärgerter Stimmung auf dem ganzen Heimweg. Else wollte sogleich nach der Rückkunft Erkundigungen nach dem Ausgebliebenen anstellen, aber Zorn sagte, daß es Sache des jungen Menschen sei, sich zu entschuldigen, und daß man ihn wohl am nächsten Morgen am Brunnen treffen werde.

Am nächsten Vormittag erzählte am Brunnen Dr. Gohl, daß Schrader ganz früh am gestrigen Morgen eine Fahrgelegenheit nach Frankfurt benutzt habe. Er wolle seine Stelle in der dortigen Apotheke wieder antreten, auf dem Brunnen sei ja kaum noch Arbeit für ihn.

»Mich hat dieser plötzliche Aufbruch überrascht, auch der Grund erschien mir nicht recht stichhaltig. Hat er sich etwa bei Eurer Enkelin eine Absage geholt?«

»Davon weiß ich nichts.«

»Es fiel mir nur auf, daß er mir keine Grüße für Euch auftrug!«

»Lieber Doktor, wer kennt junge Leute aus! Er mag in Frankfurt ein Schätzchen haben, das ihn zurückgerufen hat.«

»Das kann sein. Er sprach neulich mit mir davon, daß er sich selbständig machen und verheiraten wolle. Meine Frau meinte, daß er an Eure Ursula dabei gedacht.«

»Na, die Frauen, lieber Doktor, spinnen ja gern solche Verlobungsgeschichtchen. Ich glaube es nicht.«

Der gute Zorn hatte aber nach seiner letzten Unterredung mit Schrader mit einer Verlobung sicher gerechnet. Er war jedoch überrascht, daß Ursula auf seine Mitteilung von der plötzlichen Abreise ruhig meinte: »Er hätte uns doch Lebewohl sagen können.« Else aber stürzte laut weinend aus dem Zimmer.

Mitte September kehrten sie nach Berlin zurück. Die Müllersfrau versicherte dem alten Zorn, sie freue sich, ihn im Himmel wiederzusehen, denn auf ein Wiedersehen hier auf Erden könne sie nicht rechnen. Er schaue ja noch schlechter aus als bei seiner Ankunft.

»Müllern, das sollte Sie nicht sagen. Sie bringt ja Ihren Brunnen in Mißkredit!« lachte Ursula, um durch Scherz der taktlosen Bemerkung die Spitze abzubrechen.

»Sie hat ja recht, Ursula!«

»Nein, das blinde Huhn hat unrecht! Sie hat mich bei unserer Ankunft für Elses Mutter gehalten, seitdem werden ihre Augen nicht besser geworden sein!«

»Nun, wie Gott will!« flüsterte Zorn wehmütig.


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