Josef Hofmiller
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Josef Hofmiller

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Memmingen

(1927)

Wir fuhren von Buchloe her mit dem Sechsuhrzug, auf einmal, wo die Bahn eine Biegung macht, steht die alte Stadt wieder mit ihren Kirchen, Türmen, Toren, Rauchfängen und Schornsteinen gegen den Abendglanz schwarzgezackt wie ein Scherenschnitt. Die Fabrikschlote mit ihren Rauchwimpeln stören gar nicht. Im Gegenteil, erst sie verleihen dem Bild gegen die Ränder feste senkrechte Abschlüsse; sonst verlief es sich ins Flache. Denn Memmingen gehört nicht zu den Städten, die ihren Reiz einer Sonntagslaune der Natur verdanken, wie Rothenburg der tiefgeschnittenen Furche der Tauber, Burghausen dem Hochgrat zwischen Salzach und Wöhrsee, Dinkelsbühl den erblindeten Spiegeln seiner Weiher und Gräben, Wasserburg der herrischen Umklammerung des Inns. Keine Höhe zeichnet es aus, kein Flußlauf. Was es ist, verdankt es sich selbst.

Zu den unverrückbaren Grundbedingungen von Himmelsstrich und Erdreich, welligem und ebenem Geländ, festem Boden und Wasserläufen kommen bei alten Städten die wandelbaren und dennoch gebietenden ihrer Geschichte: Kirchen, Klöster, Stifte; Burg und Schloß, Veste und Trutzwall; Ratsbauten, Herrenhäuser des Geschlechteradels, Zunftstuben der Innungen, Gassen der Gewerke, Heimstätten der kleinen Leute. Sie alle, auch die geringsten, schaffen die Sprache und färben die Mundart der Baudenkmale, sie zusammen prägen die Schaumünze des Stadtbilds. Auch in diesem Betracht verdankt Memmingen alles sich selber. Kein Fürstensitz wie Neuburg oder Lauingen, keine geistliche Herrschaft wie Dillingen oder Kempten, war es eine freie Reichsstadt mäßigen Umfangs und bürgerlichen Zuschnitts. Wohl gehen die ältesten Siedlungen auf die Kirche zurück, aber schon früh rührt sich in seiner Kraft bewußtes Bürgerwesen und nimmt das Regiment in eigene Hand, schon 1350 hat Memmingen die zivile Gerichtsbarkeit, seit 1403 den Blutbann errungen, seit 1518 stellen Zünfte und Geschlechter abwechselnd den Schultheißen.

Von der Turmaltane von Sankt Martin erblickt man die Stadt zu Füßen. An dieser Stätte ist das Gemeinwesen entstanden; an diese leichte Geländeschwellung lehnen sich die ersten Siedlungen; bis in unsere Tage bildete sie die Bebauungsschranke gegen das Württembergische, wie das birkenbestandne Ried die gen Ottobeuren. Nordwärts hingegen und südlich gegen das fürstäbtliche Kempten zu gebot die Natur kein Halt und stand die Ausdehnung frei. Das Netz der Straßen und Gassen der sich bildenden Stadt wird leicht gekrümmt durch den Stadtbach, leicht gestreckt durch die Hauptverkehrsader nach Ulm, Kempten, Lindau. Denn Memmingen liegt an der Weltstraße von Welschland nach Brabant. Schon 1490 geht die Ordinari-Post von Italien »bis ins Niederland«. Memminger Leinwand, Barchent und Tuch, Sensen und Sägen wandern seit der Staufenzeit nach Venedig, Spanien, Flandern; mit seinem Schwager Anton Welser gründet der Memminger Konrad Vöhlin die »große deutsche Kompanie« und handelt bis Indien. Für den Wochenmarkt aber hat die Stadt ringsum ein wohlhabendes ackerbäuerliches Hinterland; schon die nächste Konkurrenz, Kaufbeuren und Kempten, beeinträchtigt wenig, die entlegenere, Lindau, Augsburg, Ulm, überhaupt nicht. So mußte hier eine selbstgenügsame Stadt entstehen, und diese Stadt mußte bürgerlich werden, zünftig und handeltreibend. Dies ist ihr Gesetz, dies ihre geprägte Form, die sie ausfüllt, ihre Schranke, die sie nicht überschreitet. Zuerst ist die Martinskirche da. Doch alsbald duckt sich unter ihre schimmernden Fittiche ein Markt. Der Markt braucht Zufahrten von Kempten, Lindau, Ulm, auch vom Ried. Damit ist der Stadt, neben und unabhängig von ihrem peripherischen Kern, die Richtungsachse von Süd nach Nord gewiesen. Es gabeln sich sogar zwei durchgreifende südnördliche Straßenzüge nebeneinander, die erst vorm Rathaus wieder zusammenlaufen: Weber- mit Herren-, gleichgerichtet Kemptner- mit Kramerstraße, beide vereint durch die schmalere UImer Straße, unterm Tor ins offene Land hinausdrängend.

An dieser gegebenen Grundrichtung ändert der alte westöstliche Querzug der Westerstraße über den Hauptmarkt durch die Kalchstraße so wenig wie der ihm gleichlaufende neuere vom Bahnhof durch die Maximiliansstraße über den Weinmarkt zum Schweizerberg, wo er sich trotz seiner Breite einstweilen als Sackgasse totläuft. Memmingen ist und bleibt südnördlich gerichtet, was sich auch in der Reihenfolge seiner Bahnverbindungen ausdrückt: 1862 die erste nach Ulm, 63 sofort deren Weiterführung nach Kempten, erst volle 11 Jahre später die über Buchloe nach München. Aber in aller Stille hatte sich um 1300 herum ein zweites geistliches Viertel entwickelt, dem im Nordwesteck gebietenden Sankt Martin schrägüber entgegen: Unser Frauen am Hochrand gegen Haide und Ried. Damit waren nach allen vier Ecken die Grenzpfähle der Stadt ausgesteckt, deren Bauplan sie getreulich füllt und mit Mauern, Bastionen, Türmen und Gräben kräftig umrandet.

Wie entwickelt sich innerhalb solch naturgegebener Umzäunung die Straßenanlage einer schwäbischen Stadt? Dafür gibt es ein Miniaturmodell: die Fuggerei in Augsburg; und eines in größerm Maßstab: Schongau auf dem Natursockel einer ehemaligen Schleife des Lechs. Die Stadt zerfällt in Häuserblöcke von annähernd gleicher Größe, gleicher Höhe, durch Längsstraßen und Quergassen schachbrettmäßig geviertelt. Mit anderen Worten: schon das ausgehende Mittelalter baut übersichtlich und unromantisch wie Mannheim. Das verleiht diesen schwäbischen Nestern, Memmingen, Ulm, Biberach, Mindelheim etwas Einheitliches, aber nicht Eintöniges. Stil hat die Stadt, das einzelne Haus hat keinen, will keinen. Dennoch wirkt dies Ganze traulich, sogar künstlerisch. Denn dieser Bebauungsplan ist mehr durchgefühlt als durchgeführt, im einzelnen ist dem Sonderwillen des Bauherrn Spielraum gelassen, vor allem hat nirgends amtlicher Übereifer die schnurgerechte Frontenflucht erzwungen, welche die blickpunktlosen Straßenschächte des abgelaufenen Jahrhunderts so öde macht.

Aber um die Lebensform dieser schwäbischen Stadt zu verstehen, die innere Notwendigkeit ihrer Entwicklung, die Folgerichtigkeit ihres Ausbaus, müssen wir ihre Urzelle aufsuchen. Das bodenständige oberschwäbische Bauernhaus im Zeilendorf, ob Steinbau oder Fachwerk, ist geräumig, einstöckig mit dreieckigem Giebel, weiß verputzt, schmucklos, nüchtern; kein Erker, keine Lauben, keine Abwalmung. Viel häufiger, wenigstens in der Memminger Gegend, steht es zur Straße mit der Giebelseite senkrecht als mit der Traufseite ihr gleichgerichtet. Schon weil der Hauseingang nicht wie beim altbayrischen Bauernhof in der Stirnwand liegt, sondern an einer Langseite, steht jedes Haus für sich allein, und so ergibt sich, wenn man eine Dorfgasse der Memminger Gegend hinabblickt, Grönenbach etwa, oder Zell, oder Woringen, eine Straßenflucht, deren Häuser in maßgerechter Verjüngung eins nach dem andern vortreten. Steht man in Memmingen am südlichen Ende der platzbreiten Webergasse, so hat man genau das selbe Bild: lauter Einzelhäuser stehen eins hinterm andern bedächtig vor, aber nicht, wie etwa in Mittenwald, ruckartig schiefgestellt mit breit und flach vorgefalteten Dächern, sondern in kaum merklicher langsamer Biegung, saubere weiße Würfel, reinliche weiße Giebel, abgeknappte dunklere Dachsteilen. Wiederum liegt der Reiz dieser Straßen nicht im Einzelbau, sondern im Gesamtbild: nicht in malerischer Buntheit, nicht in zeichnerischer Bewegtheit, sondern in der Wiederholung und damit um so nachdrücklicheren Einprägung der schlichten ursprünglichen Hausform.

Auch innerhalb der geschlossenen Zeile findet sich dies Vorschieben, des einzelnen Hauses zur Abschrägung des Richtungswechsels von Gassen und Straßen in Memmingen derart auf Schritt und Tritt, daß wir uns seiner lang unbewußt erfreuen, bevor wir es erkennend inne werden. Ein einziges Beispiel: Um die sonst zu schroffe Überleitung von der Kalchstraße zum Markt zu gewinnen, rücken bei der ersten Schwenkung schwach nach links auf der rechten Seite drei Häuser nacheinander vor, jedes im rechten Winkel, bei der zweiten Wende nach rechts auf der linken Seite ihrer vier. Ähnlich nicht nur an Dutzenden, sondern an Hunderten von Stellen. Nicht zuletzt darum wirkt Memmingen so schwäbisch.

Aber die Häuser werden notgedrungen nach oben ausgebaut, Stockwerk auf Stockwerk aufgesetzt. Auch hier bleibt das Muster das schwäbische Bauernhaus: um die Tragkraft der Wand zu verstärken, läßt man die Bodenbalken unterm vorkragenden Obergeschoß vorstehen. Diese offenbar uralte Vorbälkung des holzgefügten bäuerlichen Fachwerks wird nunmehr auf den städtischen Steinbau übertragen und bald sogar an Stellen angewendet, wo keine Geschosse vorrucken, daher außen sichtbare Balkenköpfe eigentlich gar nicht berechtigt sind; das heißt, was von Haus aus schmückende Notwendigkeit war, wird spielende Zier. Aus dem balkenbedingten viereckigen Zahnschnitt entwickelt sich durch die rhythmische Wiederkehr der nach unten offenen Vierecke von selber ein primitiver Bogenfries; seine Arkaden werden breiter, ihre Zwischenteile schmäler, der Zahnfries flach, schließlich wird das Motiv in allen erdenklichen Formen abgewandelt bis zu der des maurischen Eselrückens. Gewiß findet es sich vielfach auch anderwärts, aber nirgends gibt es den Straßen so übereinstimmend ein Familiengesicht wie hier, und das ist auch ein Grund, warum keine bayrische Stadt so schwäbisch wirkt wie Memmingen.

Es war nicht überflüssig, zuerst die Grundlagen zu zeigen, auf denen das Memminger Stadtbild ruht, bevor wir uns diesem Stadtbild im einzelnen zuwenden, einem der bei aller Anspruchslosigkeit eigenartigsten, vor allem unversehrtesten. Nur die nächste Umgebung des Bahnhofs macht von ihrem Rechte neuzeitlicher Häßlichkeit maßvollen Gebrauch. Kaum sind wir in der Maximiliansstraße, so nimmt uns die alte Zeit bei der Hand, um uns nicht mehr so geschwind loszulassen. Denn das Gefängnis links ist das einstige Absteigequartier der Äbte von Ottobeuren, der über hundert Meter lange Salzstadel stammt aus dem 15. Jahrhundert, gleich darauf folgt der wipfelgrüne geräumige Hof des ehemaligen Kreuzherrn-Konvents, der größten ehemaligen Klosteranlage der Stadt, und schon stehen wir an der gastlichen Weitung des Wein- und Holzmarkts. Hier tagten ehedem die Zünfte. An der Stelle, wo jetzt die Zweigniederlassung der Bayrischen Handelsbank steht, war das Gildenhaus der Gerber; ihm gegenüber erhebt sich heute noch der mächtigste Fachwerkbau der Stadt, das hochgegiebelte Weberhaus, außerdem das der Zimmerleute, der Metzger, der Merzler, und, links am Eck, das der Kramer, in welchem die aufständischen Bauern ihre geharnischten Zwölf Artikel aufsetzten. Bei aller Schlichtheit wirkt der Platz malerisch mit den niedergehaltenen Akazien, dem Zierbrunnen und dem rebenumsponnenen Doppelgiebel des Weinhauses zum Römischen König; an Dienstagen füllen ihn von altersher die Holzfuhrkarren der Bauern. Noch sind wir erst ein paar hundert Schritt in der Stadt gegangen und schon hat sie uns die unaufdringliche Zweckschönheit ihres Bauens geoffenbart: geschlossene Häuserblöcke, abschließende Durchblicke, Straßen- und Platzseiten gleichsam Wände. Wie hübsch ist der Blick in die Waldhorngasse, wie stattlich rechter Hand in der höheren Kalchstraße der Hintergrund des alten Gasthofs zum Schwanen! Schauen wir nach rückwärts: die breite Front des Bahnhofs; nach vorwärts legt sich das Aichhaus vor. Nirgends jene fatalen Löcher, mit denen das Jahrhundert der Reißbrett-Architekten so freigebig war: man kann im alten Memmingen herumgehen so viel man will, man wird ihrer keins entdecken.

Eine der reizvollsten Stellen des Stadtbildes folgt gleich darauf: das platzähnliche Gebilde, wo sich Kreuz-, Herren- und Lindauer Straße geometrisch nicht mehr faßbar mit dem Weinmarkt vereinigen, im Hintergrund altersgrau und nadelschlank das achteckige Giebeltürmchen, von welchem aus Seni vom gestirnten Himmel seines Herrn Absetzung ablas, der wahrzeichenhaft ragende Turm von Sankt Martin und der Fuggerbau, in dem außer Wallenstein schon Gustav Adolf, der pfälzische Winterkönig und der blendende Max Emanuel abstiegen. Beruht der Reiz dieses Platzes in seinen geselligen Freiheiten nach allen vier Seiten, so liegt der des lindenbeschatteten Kirchplatzes von Sankt Martin, zu dem die schmale Pfarrhofgasse leitet, in jenem versonnenen Schweigen, das nur aus der Umzirkung kirchlicher und geistiger Bauten sanft aufblüht: was die Engländer cathedral precincts nennen. Etwas Kathedralenmäßiges, wie der Nördlinger Daniel und die Georgenkirche in Dinkelsbühl, eignet in der Tat diesem herben Backsteinbau, trotz aller Unbill, die er in leidenschaftlichen Zeitläuften erlitt. Die Jahrhunderte sind nicht glimpflich mit dem ehrwürdigen Münster umgegangen, besonders die Bilderstürmer haben tollwütig gehaust. Desto erfreulicher ist die Behutsamkeit, mit der man seit kurzem seine alten Kalkgemälde bloßlegt. Was jedoch der Kunstfreund in ihm vor allem sucht, ist im Chor das geschnitzte Gestühl mit seinen kernhaften Gestalten, in seiner Art das einzige in Bayern. Aber es sind nicht die zwölf Sibyllen noch die elf Propheten, nicht der Heiland und die Zwölfboten, nicht die kunstreichen Einlegearbeiten, welchen es seinen Ruhm verdankt, es sind die bürgerlichen Holz-Hermen der zeitgenössischen Stifter und Stadtgewaltigen. Im obern Teil geistlich und gelehrt wie das Ulmer, wird dies Gestühl im untern schier trotzig laienhaft, unkirchlich, profan. Vielleicht ist es das Antlitzgetreueste, was Bayerns spätgotische Schnitzerei zum mindesten in einer Kirche gewagt hat. Der sorgenvolle Schultheiß und der ungeberdige Säckelwart, der »Tischmacher« Heinrich Starck und der Holzbildhauer Hans Daprazhauser, die üppige Frau Bürgermeisterin – was für stockschwäbische Figuren! Glaubt man schon in Ulm, wenn man über den Markt geht, noch manchesmal den schönwangigen Frauen und Mädchen Syrlins zu begegnen, so könnten diese Gestalten von Sankt Martin, an denen jede Ader lebt, erst recht heute noch, wie sie sind, in Memmingens Gassen wandeln. Will man sie durch den schärfsten Gegensatz noch deutlicher machen, so braucht man nur den Namen Til Riemenschneider nennen: bei ihm alles ritterlich, vornehm, schlank, anmutvoll, verträumt und spät, hier derbe Erdensöhne voll Mutterwitz, wohlhäbig und stämmig, scharfen Blicks das Dasein meisternd, im Diesseits Bürger und im Schwabenland.

Wiederum ein paar Schritt, und wir stehen auf dem Rathausplatz, im Herzen der freien alten Reichsstadt. Wie sein zünftiger Vetter am Weinmarkt und sein ländlicher an der Schranne, ist er auch zugleich Markt: man muß ihn bloß an einem Dienstag sehen, ein reizendes Stilleben von Blumen, Gemüs, Beeren, Obst, Waldschwämmen, Geflügel, Eiern, Butter, Schmalz. Gute Plätze sind steingewordene Funktion; drum muß man sie sehen, wenn sie ihre Funktion erfüllen, sonst sehen sie aus wie pensioniert. Genau betrachtet ist der Memminger Kräutelmarkt ein Nebeneinander und Ineinander von Plätzen: die eine Piazetta vorm Rathaus preßt sich zu einem Gäßchen zusammen, die andre vor der alten katholischen Pfarrkirche verflüchtigt sich in die Ulmer Straße, hinten erhöht und wuchtig Sankt Martin, die Eckhäuser geben durch zurückweichende Dächer den Blick frei, und die Häuserfronten treten in zwei Kulissen zurück, in der Mitte der lange helle Laubengang des freskenbunten Steuerhauses, keine Gasse reißt in die Mitte ein Loch, sie sind den Seiten entlang geführt oder schließen durch Hintergründe gut ab, gegen Osten alles steil überragend Giebel und Turm der Kreuzherrenkirche: es ist ein naturgewachsenes Platzgefüge, daß den Vergleich mit berühmteren nicht zu scheuen hat.

Das Rathaus aber ist die letzte Steigerung des schwäbischen Bauernhauses im Rahmen einer bürgerlichen Baukunst, die nicht über ihre Verhältnisse lebt: sechsstöckig, Fensterbrauen und Giebel geschwungen, Erdgeschoß schmucklose Rustika, in der Mitte überm Tor durch drei Stockwerke bis zur hübsch gerahmten Uhr ein Flacherker, der sich durch weitre drei Geschosse als Dreieckabschluß eines Oktogons vortürmt, um als achteckiger Haubenturm zweigeschossig ins Blaue zu münden. Links und rechts fünf eckige Erkerturmangeln mit Hauben, wie man sie an ländlichen Schlössern der Umgebung sieht, das Ganze gedrungen ohne Trotz und heiter ohne Prunk.

Hier am Nordwestrand schmiegen sich die geistlichen und patrizischen Bauten zusammen, am Weinmarkt die zünftigen, im Südviertel die der kleinen Leute. In der Südostecke liegt das kirchliche und stiftliche Gegenstück zu Sankt Martin, Unser Frauen, im Schatten seiner Bäume und alter und neuer Pfründehäuser. Auch hier Überraschungen auf Schritt und Tritt – eine Menge netter Giebel, Geschoßvorkragungen, Höfe, Durchblicke, farbige Häuser, Fachwerk, das keck vorspringende Chörlein in der Nonnengasse, die malerischen Quartiere an der Hohen Wacht, der Alten Kasern und an der Mauer bis zum Lindauer Tor, dessen reizendes Plönlein leider das neunzehnte Jahrhundert, statt durch einen Brunnen geschmückt, durch eine Litfaßsäule verschandelt hat. Im Innern von Unser Frauen Wandmalereien, die bedeutendsten Süddeutschlands aus dem ausgehenden Mittelalter. Aber Memmingen bietet so viel, daß ich nur andeuten kann. In welcher Stadt z. B. findet sich noch so zahlreich der geschmiedete Zierat der Nasenschilder, wie sie das Städtische Museum, der Rote Ochse, das Rad aufweisen, der Grüne Baum, Tanne, Hecht, Waldhorn, Gerste, Bräuhaus, der Römische König, Kreuz, Schiff, Einhornapotheke, der Goldene Schlüssel an der Schlossergasse? Wie gut und treuherzig klingen allein die Namen dieser Häuser: Gottfried Keller hätte daran seine helllichte Freude gehabt.

Das Lieblichste haben wir uns zum Schluß aufgespart: den nachgenießenden Rundgang um den Graben. Gleich hinter Unser Frauen empfängt uns die Wölbung des Reichshains, mit dem der grüne Gürtel um die Stadtumfriedung anhebt: da ist der schöngieblige Kempter Torturm: welch malerischer Durchblick fast bis zum Schrannenplatz! Immer erneut sich die Stimmung des Osterspaziergangs aus »Faust« entlang dieser Stadtmauer, mit ihrem schmalen Rain blühender Anlagen davor, zum Lindauer Tor, das mehr ein Haus ist, zum Westertor, das ausschaut wie ein stämmiger Sprößling des Martinsturms, vorbei an guten neuen Amtsgebäuden, mit immer neuen Überschneidungen, Verschiebungen von Türmen, Toren, Giebeln, bis zum hohen Ulmer Torturm, wo es uns wie von selber wieder in die Stadt hereinzieht: wir entdecken eine Art Amberger »Stadtbrille« am Bach, entdecken den alten Einlaß, Schwind hätte ihn nicht traulicher entwerfen können – halt! welch begrünte Freyung betrachtsamen Friedens, dieser liebevoll gepflegte Gartensaal mit edlen Zedern und hangenden Ziersträuchern in der vierfachen Hut von Rathaus, Kirche, Hexenturm und Einlaß, aus dem ein Heckenpfad hinausführt, schmal und heimlich um die alte Stadtbefestigung herum, bis wir, um die Ecke biegend, überrascht vor dem Bahnhof stehen, von dem aus wir unsern Gang durch die alte Reichsstadt antraten.


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