Josef Hofmiller
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Josef Hofmiller

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Freising

(1930)

Die Abneigung des Münchners, nordwärts zu wandern, beginnt beim Aumeister; und umgekehrt wird für den Reisenden, der von Norden kommt, Altbayern erst sehenswürdig mit München. Nur so läßt sich verstehen, daß eine so schöne Stadt wie Freising nicht nur unseren meisten norddeutschen Gästen unbekannt bleibt, sondern auch den meisten Münchnern. Wenn die Rompilger, die im Schnellzug an Orvieto vorbeifahren, keine Ahnung haben, welcher Herrlichkeiten sie verlustig gehen, so erklärt sich das aus dem Umstande, daß sie von der herrlichsten Schauseite aller italienischen Dome nichts zu Gesicht bekommen als im Vorüberhuschen eine Kante ihres hohen Giebels. Der Freisinger Domberg hingegen liegt da als ein Wahrzeichen, breit und beherrschend, mit Türmen und geistlichen Gebäuden gekrönt; die gestuften Gärten und schattigen Baumreihen zu seinen Füßen laden freundlich ein, einladend ruht die Stadt dahinter in grüner Mulde, freundlich steigen hinter der langgestreckten Zeile ihrer sonnigen Hauptstraße mit den wohlhäbigen Bürgerhäusern und dem steilen Kirchendach die Villen ihrer jüngsten Bauentwicklung hügelan, dem ununterbrochenen Gürtel ihrer Wälder und Forste entgegen, und gastlich winkt, nur durch diese Talmulde von ihr getrennt, über dem blitzenden Bande der kühlen, fischreichen Moosach, der bewaldete Weihenstephanerberg mit seinen Anstalten für Landwirtschaft, Brauerei, Gärtnerei, seit 1200 Jahren mit Freisings Geschichte verbunden, beide zusammen eine verkörperte philosophische Fakultät der Geistes- und Naturwissenschaften; der eine wie der andre ein mons doctus, ein »gelehrter Berg«. Freising hat in meinem Leben eine zu große Rolle gespielt, und ich habe es zu sehr in mein Herz geschlossen, als daß ich ihm nur mit der Neugier des Städtebummlers gegenüberstehen könnte. Jahre meiner Knabenzeit steigen auf wie geliebte Schatten und reichen ihre Hände denen meiner ersten Verwendung im Lehramt und jenen späteren, wo ich täglich die schattenkühle Lindenbaumreihe des Dombergs hinaufwandelte zu dem alten Gymnasium, von dessen Fenster aus meine Schüler und ich so manchesmal über die himmelhohe Weite der altbayrischen Ebene die Frauentürme suchten und den blauen Kranz des Gebirgs. Und umgekehrt: so oft ich in die Turmstube des nördlichen Frauenturms emporstieg, drängte es mich nicht unwillkürlich zuerst zu jenem Fenster, von dem aus die beiden Freisinger Kuppen zu erspähen waren, mit den blinkenden Mauern ihrer gelehrten Anstalten und den Spitzhauben der Domtürme?

München und Freising gehören zusammen, denn München selbst ist seinem Ursprunge nach nichts anderes als eine Trutzgründung Heinrichs des Löwen gegen das um ein halbes Jahrtausend ältere Freising; Bayerns Geschichte beginnt mit den ersten Bischöfen von Freising und den ersten Mönchen von Weihenstephan, und im Titel des Erzbistums sind heute noch die beiden Namen vereinigt. Rein als geschichtlich gewordenes Städtebild ist die alte Stadt ungemein anziehend: auf dem Berge die geistliche Burg der Fürstbischöfe, in der Talsenke die Siedlung der Ackerbürger und Handwerker, ein Doppelgebilde so charakteristisch wie Bamberg, Wimpfen, Genf oder Bergamo.

Die Bürgerstadt besteht aus einer langen Hauptstraße, die vom Weihenstephaner Berg bis zum östlichen Steilabfall des Dombergs hinzieht, mit der seitwärts ragenden gotischen Pfarrkirche und den kurzen Seitengassen, die zum höhern Gelände gegen das Ampertal zu hinaufleiten. Diese Bürgerstadt für sich schon ist ein reizendes Stück Altbayern: wohl ein Dutzend gemütliche Schenken und Einkehren für Einheimische und Bauern verteilen sich in geziemenden Abständen, nette reinliche Bürgerhäuser mit Giebeln und Traufdächern, wie sie auch in Erding zu finden sind oder in Landshut, reicher Blumenschmuck an den Fenstern, der Straßenzug selbst erfreulich naturgewachsen: oben am Ende platzartig breit, in der Mitte kraftvoll zusammenrückend, dann wiederum da, wo das hübsche neue Rathaus steht, zu einem schön geschlossenen, etwas ansteigenden Schrannenplatz sich weitend, und abermals treten die Häuser rechts und links zusammen zur Straße, die in leichter Krümme bis zum untern Querriegel führt, wo sie sich teilt, links als Landstraße über Neustift nach Landshut, rechts als Fahrgasse hinan zum Dom. Absichtlich nenne ich keine Einzelheiten, denn jenes behagliche Gefühl Mörikes »In ein freundliches Städtchen tret' ich ein« besteht ja nicht aus Einzelheiten, es ist das plötzliche und beglückende Erlebnis eines Ganzen, das sich nicht zerpflücken läßt. Wenn überhaupt man eine seiner Voraussetzungen nennen kann, so ist diese ein organisch gewordenes Stadtbild mit einleuchtenden Längs- und Querstraßen, Plätzen, Gassen, Durchblicken, Ecken. Straßenreihen, die nicht mit der Schnur gezogen sind, sondern die sich im Lauf der Jahrhunderte von selber zusammengewachsen haben wie zu steinernen Hecken; Plätze, entstanden aus breiten Einstellgelegenheiten für Fuhrwerke, Wochenschrannen für Getreide und Kleinvieh, aufgelassnen Friedhöfen, Gelegenheiten für Dulten und Märkte; Querstraßen, deren jede ihre bestimmte Aufgabe hat, den Verkehr mit einem genau abgegrenzten Stück bäuerlichen Hinterlandes zu vermitteln. Dies fühlt auch, wer zum erstenmal nach Freising kommt, mit wohltuender Klarheit: so viel auch im einzelnen im Wandel der Zeiten geändert worden sein mag, das eine, das Kostbarste ist im ganzen unzerstört, jener jahrhundertalte Zug der Hauptstraße, wie ihn, so naturgeworden wie ein Fußpfad durch Wiesen, der Kern des alten München aufweist, vom Isartor durchs Tal, Marienplatz, Kaufinger-, Neuhauser-Straße bis zum Karlstor, nur daß in München noch ein zweiter, ebenso natürlich entstandener, ihn senkrecht schneidet.

Freisings Sehenswürdigkeiten liegen auf dem Domberg, und die größte von ihnen ist der Dom selbst: tausendjährig dem Ursprunge, siebenhundertjährig dem Mauergehäuse nach, romanisch angelegt zur Zeit Friedrich Barbarossas, gotisch überwölbt von Jörg Ganghofer, dem Erbauer der Frauenkirche, festlich aufgehellt durch das frühe, zum großartigen Thronsaal der triumphierenden Kirche neu geschaffen durchs hohe Barock der Brüder Asam. Zwei Rampen führen von der Stadt zu ihm empor: eine steile, von der Einmündung der Münchner Straße her, unter dem hohen Bogen ehemaliger Domherren-Häuser, die unter alten Linden sanft weiterleitet bis zum beschatteten Kruzifix, zu welchem die weniger steile durch die Heiliggeistgasse unter dem Spitzwegtor beim Forstamt mählich hinanbiegt. Wer je einmal an dieser Stelle das vierte Evangelium der Fronleichnamsprozession erlebt hat, die goldbrokatene Herrlichkeit der Dalmatiken der in diesem Jahre zu weihenden jungen Diakone und Subdiakone, die weißen Blüteninseln der kleinen Mädchen, das fröhliche Glänzen der Zunftfahnen, ringsum, tüchergeziert, mit Bildern, Statuen, brennenden Kerzen der steinerne Wall der Gebäude, die lichten Birken davor, die dunklen Wipfel der Linden, die ragende bischöfliche Burg, hinter der weißen Johanniskirche der altersgraue Dom, Teilnehmer und Zuschauer Kopf an Kopf sich stauend die beiden Zufahrten hinab und hinauf bis zu den festlichen Bögen des Fürstengangs zwischen Klerikalseminar und Dom, und dann, nach erteiltem Segen, wie diese tausendköpfige Menge nicht auseinandergeht, eh nicht der letzte Takt der letzten Strophe des »Großer Gott wir loben dich« verbraust ist, – der hat eine Ahnung, was Freising, was Altbayern ist.

Über diesem Vorhof der Natur erhebt sich erst der Vorhof der Architektur: ein einfaches, weiträumiges Rechteck, auf allen vier Seiten mit fester Hand baulich umrahmt, die Stirnseite des Doms so schlicht wie die der nächstbesten lombardischen Landkirche. Nur die beiden Türme sind von archaischer Wucht. Abermals durcheilen wir eine Vorhalle, die innere, dämmerige aus dem Jahrhundert Barbarossas mit den steinernen Bildnissen des Rotbarts und seiner Gemahlin Beatrix von Burgund, dann aber, auf der obersten der acht Marmorstufen, die ins Mittelschiff hinabführen, bleiben wir stehen wie gebannt: die Großartigkeit des ersten Eindrucks überwältigt. Mit einem einzigen Blick umfaßt das Auge die detaillose Erhabenheit eines gewaltigen, durch kein Ouerschiff gebrochenen basilikalen Raums, entlang das Doppeldutzend hoher Pfeilerarkaden und Emporenbögen übereinander rechts und links, hinan die herrlichen dreizehn Stufen zum Priesterchor in voller Schiffbreite bis zur Muschel des dunkelgoldnen Hochaltars mit dem Triumphgemälde nach Rubens, uns zu Häupten das Riesengewölbe des Mittelschiffs mit den Kolossalfresken der Asam. Die ungewöhnliche Überhöhung des Priesterchors ist bedingt durch die unter ihm liegende Krypta, seine ungewöhnliche Länge durch die Bestimmung der Basilika als Domkirche. Die Kühnheit des mittleren Tonnengewölbes aus der gotischen Zeit ist der außerordentlichen Spannweite wegen schon rein technisch eine erstaunliche Leistung. Die Verbindungen ins Innere hinabführenden achtstufigen Podesttreppe mit der säulengetragenen Orgeltribüne und den Emporenstiegen war ein glücklicher Einfall. Aber erst das Barock der Asam verbindet alles einzelne durch das einheitliche Prachtgewand der gesamten Innenarchitektur und fügt als raumschaffendes und raumgliederndes Element die Farbe hinzu: verwandte koloristische Akkorde immer neu, geistreich, dramatisch verbunden, ausgewechselt, gesteigert, goldbronzenes Ockergelb, ein tintorettohaftes Rosa, Violett, Olivgrün, Blau, Purpur, als Gegengewicht die epischeren Tönungen der Korbiniansfresken, das kühle Schimmern der geschliffenen und geäderten Pfeilermarmorierung, alles fest zusammengehalten durch das Weiß der Pfeiler, Leisten, Loggienrahmen, die Stukkaturen der Pfeilerkrönungen, Muscheln, Voluten, Netzwerkgitter, Gipsrosetten, Engelputten, Fruchtkränze.

Wie alle großen alten Kathedralen ist der Freisinger Dom eine durch niemals unterbrochne Überlieferung ehrwürdige Lebensgemeinschaft von Kunstwerken aus allen Jahrhunderten.

Sein Kern ist die alte Unterkirche, von bedeutenden Ausmaßen wie ihr Vorbild von Sankt Zeno in Verona, mit den 24 Säulen, deren mittlere zu den größten Merkwürdigkeiten frühmittelalterlicher Bildnerei zählt. Aus der gotischen Zeit stammen die dreischiffige Vorhalle, der stimmungsvolle Kreuzgang mit seinen Grabplatten und der anmutigen Benediktuskirche, die feine Sakristei, das wundervoll geschnitzte Chorgestühl von 1488, die Beweinungsgruppe des Münchner Meisters Erasmus Grasser. Aus der Nach-Renaissance die edlen Altarblätter aus Peter Candids Werkstatt und die prachtvollen schmiedeeisernen Gitter. Ein Kleinod ist der Abschluß des rechten Seitenschiffs: die Asamsche Johanneskapelle, die in einem Atem mit Weltenburg und der Kirche in der Sendlinger Straße genannt werden muß. Jedes Jahrhundert hat den Freisinger Dom durch den Gestalt gewordenen Ausdruck der ihm eigentümlichen Frömmigkeit bereichert, ungestört sind die meisten dieser Kunstschätze in treuer Hut an Ort und Stelle geblieben. Wir wandeln durch zwölf Jahrhunderte altbayrischer Geschichte, deren Denkmale wohlerhalten an ihrem ursprünglichen Platz stehn in einem unvergleichlichen Raum, der sie steigert und den sie steigern.

Wir verlassen den Domberg, nicht ohne seine beiden feinsten Sehenswürdigkeiten zu begrüßen: die lichtfreudige Johanneskirche aus dem hohen Mittelalter, in ihrer spröden Holdseligkeit auch sie eine bella villanelia, wie Michel Angelo die Franziskanerkirche unter San Miniato nannte. Dann gehn wir auf die schönräumige Terrasse mit den alten Bäumen und den vorgelegten Rustika-Bögen mit ihrer herrlichen Weitsicht vom Watzmann bis zum Säntis, unabsehbar in hundertfältigem Grün davor der Teppich der Hochebene, Pappelalleen, Wälder, Wiesen, Felder, eine aufglänzende Krümme Isar, in dunkler Rahmung der elfenbeinweiße Schrein des Schlosses von Schleißheim, am Südrande des Gefilds von Moor- und Heideland München mit den Frauentürmen im Mittagsdunst verschwimmend.

Grün und buschig steht zur Rechten der Weihenstephaner Berg. Wer möchte seiner Einladung widerstehen und der Einladung der freundlichen, gastlichen Stadt? Sie laden zu einem langen Abschiedstrunk in einer kühlen Schenke. Denn auf beiden Hügeln dieses Parnassus biceps wurde seit Jahrhunderten reines, vollmundendes Bier gesotten und in Weihenstephan steht die Hohe Schule des deutschen Brauwesens: wo immer uns in weiter Welt ein Trunk Bier labt, in Rom oder Kopenhagen, in Kairo, Kapstadt, Buenos Aires – es ist hundert gegen eins zu wetten, daß der Braumeister ein alter Weihenstephaner ist. Weihenstephan bei Freising kennen auch unsere norddeutschen Gäste von Berliner Schankstellen her. Aber sie sollten auch Freising bei Weihenstephan entdecken. Denn neben und vor Bayern-München, dem herzoglichen, kurfürstlichen, königlichen, gibt es ein Bayern-Freising, das geistliche, bischöfliche, und beide zusammen sind erst Altbayern. Bayerns Frühgeschichte spielt sich von der geistigen bis in die Bodenkultur ab zwischen den Stiften von Salzburg, Tegernsee und Freising. Wer Freising nicht kennt, kennt Altbayern nicht.


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