Josef Hofmiller
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Josef Hofmiller

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Ottobeuren

(1927)

Ottobeuren liegt schön. Wie schön, geht einem auf bei öfterem Besuch. Beim ersten sieht man nichts als die Basilika weithin leuchtend ragen am Saum einer grünen Hügelstufe, deren westlicher Rand noch sanft hinaufschwillt, gegen die ehemaligen Amtsgebäude zu, während der östliche sich zum freundlichen Markte niedersenkt, der seinen Hauptplatz zu Füßen breitet wie einen steinernen Teppich, auf drei Seiten umstanden von reinlichen Bürgerhäusern, nicht hoch, ohne andern Anspruch als den, ruhig dies lichte Rechteck zu bilden, mit der hellen hohen Treppe hinauf zur hohen Kirche.

Mit der Zeit wird man inne, wie notwendig der gewaltige Viereckbau des Klosters dazu gehört, aus dem die Kirche blumenhaft hervorwächst, sich ausbreitet, verjüngt, bis die ausgebuchtete Stirnseite Schluß macht, als spräche die Architektur: Nun ist es genug.

Fürstlich hebt sich diese benediktinische Abtei über dem wohlhäbigen Markt, in geziemendem Abstände hinter der schattigen Wölbung alter Linden die niedrigere Umrandung der Amtsgebäude. Verschwenderisch weit schwingt sich von der geschlossenen Siedelung des Marktes die Mulde der Fluren empor zum höher gelegenen planen Gelände gegen Kaufbeuren. Mit Gelassenheit bettet sich die größte Klosteranlage in deutschen Landen in die hügelige Breite einer schwäbischen Voralpenlandschaft. Alles rings um sie, Wiesen und Äcker meilenweit davor, Laubbaumgänge eng daneben, der ansteigende Fichtenwald dahinter, der unermeßliche Himmel darüber, sie wirken nicht nur als Natur, sondern als Architektur. Lebendig steht alles in Licht und Luft, mit gegenständlicher Nüchternheit scheinbar, aber je öfter, je verweilender man das Ganze betrachtet, desto mehr entzieht es sich allen Mitteln, mit denen man es bewältigen möchte, der Leinwand des Malers, der Platte des Lichtbildners, der Ohnmacht des Wortes. Das alles jedoch erschließt sich allmählich. Wer zum ersten Male kommt, sieht den Wald nicht vor lauter Bäumen. Was ihm später eine untrennbare, gewachsene Einheit ist, scheint anfänglich meisterhafte Anordnung vorzüglicher Einzelheiten. Zum ersten Male kam ich nach Ottobeuren vor dreizehn Jahren. Seitdem habe ich es fast jedes Jahr wieder aufgesucht und getrachtet, dahinter zu kommen nach dem blendenden Worte des alten Winckelmann, es genüge nicht zu empfinden, daß etwas schön sei, man müsse auch erkennen, warum es schön sei. Dieser Apfel der Erkenntnis schmeckt nicht süß: hat man dem Verstande den kleinen Finger gereicht, so möchte er die ganze Hand. Vergleiche anzustellen, und von ihnen aus über Ottobeuren zu urteilen, ist eine müßige Zwischenstufe nach der ersten Begeisterung, die man überwindet, weil auch sie zu nichts führt. Wenn man das Werk rein für sich betrachtet und fürs erste den kunstgeschichtlichen Wissenskram zu Hause läßt, wird man still, und das Werk beginnt zu reden. Man versucht nicht mehr dahinterzukommen: Kunst hat kein Dahinter.

 

Die Kirche ist sonderbar groß. Man hätte sich nicht vorgestellt, daß sie so groß ist. Sie ist von innen größer als von außen. Das ist das erste Gefühl: das des Raums.

Zu ihm gesellt sich zugleich ein farbiges: viel Weiß, wenig Gold, lauter zarte Töne, erst gegen den Hochaltar zu wird es bräuner, das Langhaus ist kühl, hell, vornehm. Weiß herrscht. Die Halbsäulen und Wandpfeiler aus Stuck sind so unaufdringlich marmorgetönt, daß alle Farben in ein perlmutterschimmerndes Grau zusammenklingen, mit schwebenden Untertönen von rosa, gelb, ocker, violett. Nichts von goldenem Schwelgen, kein purpurnes Prangen, kein glühender Rausch und dennoch wirken die hellen Senkrechten der Wände, wirken die gestaltenerfüllten dunkleren Flachkuppeln der Gewölbe so farbig wie flandrische Wandteppiche, weil sie zwischen lauter Weiß stehen.

Für einen Barockbau ist die Kirche überraschend hell. Woher kommt das viele Licht? Steht man unter der Eingangsempore, so sieht man nur zwei Fenster des Mittelschiffs, alle andern kann man aus der jeweiligen Tagesbeleuchtung lediglich erschließen. Denn alle Fenster, mächtig hoch und breit, bogenförmig oder gerade abschließend, lassen das Licht in voller Wucht einströmen. Von allen Seiten bricht es herein, ungehemmt, nirgends sind die Lichtquellen durch Kulissen verhüllt, nirgends das Glas getönt, das Licht im Innern ist fast so stark wie das außen, eine Seite wirft es der andern zu, die gibt es, um ihr eignes vermehrt, zurück, so steht alles in einem gleichmäßigen Licht, das nicht nur an bestimmten Stellen mitbaut, sondern den ganzen Raum taghell macht bis in die letzten Winkel. Erst im Priesterchor mit der fensterlos abschließenden Wand des Hochaltars, dem bräunlichen Chorgestühl und der Orgelgewandung, beruhigt sich das siegreiche Licht und wird dienend: dämmernd und feierlich steht der Altar, und dunkel und schön schweben die Schalen der Kuppelfresken.

Erst jetzt besinnt man sich auf die Gegebenheiten und Bedingungen des Bauplans. Eine Basilika, jawohl. Aber nur von außen ist wegen der Pultdächer das Basilikale ausgeprägt. Das Innere wirkt einräumig. Warum nur? Wir besinnen uns auf den großartigsten einräumigen Bau Süddeutschlands, die Michaelshofkirche in München. Ja das ist es: auch hier wird die Raumwirkung erreicht durch den Verzicht auf freie Pfeiler oder Säulen, einzig durch das Mittel von Wand und Wölbung. Was von außen als Seitenschiff erschien, erweist sich innen als Seitenkapellen von mäßiger Raumtiefe, aber, gegen das Mittelschiff zu, von ungewöhnlicher Bogenhöhe, außerdem setzen die Kapellenfenster sehr hoch an und reichen fast bis zur Decke, so daß sie von innen eher wie die einer Hallenkirche wirken. Zudem sind die durch die eingezogenen Streben gewonnenen vier Kapellen rechts und links so schmal, die Bögen rücken so nah an den Mittelraum hinauf, daß sie nicht mehr als Räume für sich empfunden werden, sondern mit dem Hauptraum verschmelzen; dies um so mehr, als vorn der Priesterchor den Kapellengrundriß des Gläubigenraums nur auf dem Papier beibehält, nicht fürs Auge; denn die den Kapellen in der Fortsetzung entsprechenden Räume, Sakristei links und Beichtgang rechts, sind durch das Chorgestühl vom Kirchenraume völlig getrennt; fürs Auge sind sie überhaupt nicht vorhanden. So ist das Innere in der Tat nur ein einziger Raum.

Solange man unter der Eingangsempore steht, wirkt dieser Raum als Langhaus. Man schreitet im Mittelgange langsam, langsam vor: da schieben sich, von rechts, von links in voller Höhe des Langhauses vom Priesterchor her zwei neue, bisher unsichtbare Wände heraus und wachsen in eine ungeahnte Breite, mit jedem Schritt enthüllt sich ein Querschiff von kaum minder gewaltigen Ausmaßen, spannt sich immer breiter, immer lichter, bis man überwältigt unter der Vierung steht: dieses Querschiff, eine Kirche für sich, hat beinahe die Länge des Langhauses, die vier Kreuzarme sind fast gleich, es ist überhaupt kein Langhaus mehr, es ist ein Zentralbau, der Beschauer fühlt sich gebannt inmitten eines magischen Kreises, der sich nach vier Richtungen weitet wie nach einem Steinwurf Wellen im See. Zugleich scheint, ohne daß man sich Rechenschaft geben könnte warum, die mittlere Kuppel um soundsoviele Windungen in die Höhe geschwebt. In der Tat ist sie beträchtlich höher, aber es ist keine Kuppeltrommel da, an der man's messen könnte. Man fühlt sich zutiefst inmitten einer verstandesmäßig nicht faßbaren Raumeinheit, die Riesenschale der Freskenkuppel in schwindelnder Höhe zu Häupten, es ist keine Wand mehr da, denn die lichtvolle ausgebuchtete Stirnseite wie der wandfüllende Hochaltar scheinen durch den Druck des Lichts bis an die entfernten Enden der vier Kreuzarme zurückgedrängt, auch die massigen Pfeiler der Vierung versagen als Anhalt, denn auch sie sind zurückgetreten zu vier überaltarbreiten Rückwänden zwischen je zwei Halbsäulen, steinerne Mittelstücke gleichsam der vier Seiten eines nur in der Phantasie vorhandenen Quadrats, dessen vier Ecken der aus dem Festen ins Vorgestellte verwiesene Raumsinn irgendwo in den Kreuzarmen weiter hinten anzusehen zugleich genötigt und außerstande ist. Nicht minder verliert sich der Blick nach oben in das Kuppelfresko des weitgeöffneten Himmels: an den dunkleren Rändern steht noch gemalte Architektur, stehen Scharen seliger Geister, aber nach der obersten Mitte wird es heller und heller, man erblickt nur Wolken und Aufschwebende zu der im Unendlichen schwebend verharrenden göttlichen Taube.

Unwillkürlich blickt man zurück, um zu faßbaren räumlichen Vorstellungen zu kommen, und im Geiste wenigstens wieder im Langhaus festen Fuß zu fassen – auch diese Möglichkeit versagt, der Zentralbau bleibt: was ist geschehen? Man sucht, vergleicht Gurten und Wölbungen, zählt die Joche, und entdeckt eine jener unscheinbaren Kleinigkeiten, wie sie nur der besonnenste Kunstverstand in die Waagschale legt: die beiden Doppelpfeiler im Langhause zwischen den Seitenkapellen sind schmucklos weiß gehalten, sie haben weder marmorgetönte Bänder noch Halbsäulen; sie sind farbig unbetont, weil sie als Bauglieder unbetont bleiben sollen – darum wirkt von der Mitte aus gesehen das Langhaus quadratisch. Die Basilika von Ottobeuren hat nicht nur durch die Bauanlage ungewöhnlich kraftvolle Gelenke: durch die schmückende Behandlung der Wand, Übereckstellung der Pfeiler, Verkleidung ihrer Kanten, Pfeilerbänder, vortretende Halbsäulen mit reichen Häupterkronen, Gesims und Gebälk hebt sie die Jochträger, und nur sie, so kraftvoll hervor, daß sich senkrechter Wandschmuck und senkrechte Wandstützen decken.

Damit sind wir um einen Schritt weiter. Erst von hier aus erschließt sich das Geheimnis der farbigen Wirkung, des Verhältnisses von Weiß und Nichtweiß. Schon beim Eintritt ist uns die Höhe der breiten Pfeilersockel aufgefallen. Wir stellen uns davor hin: weit über mannshoch! Schmucklos weiß, bilden sie, rechts und links stetig fortlaufend, eine weiße Grundleiste, auf welcher erst die farbigen Senkrechten der Pfeiler und Säulen ruhen. Durch diese betonte weiße Leiste werden die farbig behandelten Hauptteile der Wände um etwa zweieinhalb Meter in die Höhe geschoben.

Aber das ist erst die halbe Lösung des Rätsels, warum der Raum so unwahrscheinlich hoch herauskommt. Unwillkürlich suchen wir über der Hauptumwandung die entsprechende zweite Verspreizung nach oben und siehe! sie ist da, sogar mehr, überraschend mehr. Die Halbsäulen nämlich tragen über ihren Knäufen gleich hohe kämpferartige Aufsätze, diese eine wiederum gleich hohes, kraftvoll ausladendes Gebälk, hinter welchem eine vierte gleich hohe weiße Leiste zurücktritt, aus welcher sich erst die Gurten der Bögen und die Zwickel der Flachkuppeln herauswölben. Diese kämpferartigen weißen Gebilde mit den weißen Leisten und dem vorstehenden scharf geschnittenen weißen Gebälk führen bandartig breit rechts und links, sich jeder vortretenden Halbsäule, jedem übereck gestellten Pfeiler anschmiegend, mit den Achteckabschlüssen des Querschiffs mitlaufend, von ganz hinten bis ganz nach vorne, bis sie von der fensterlosen Wand des Hochaltars dämmerhaft aufgesogen werden, denn ihre Aufgabe ist erfüllt. Sie wirken als ruhige Reifen, die das Gehäuse über den Pfeilern und unter dem Gewölbeansatz zusammenhalten, wie unter den Pfeilern die ruhigen Leisten der Sockel. Alles, was senkrecht stemmt, ist farbig. Alles, was waagrecht trägt, ist weiß. Der Raum ist Einer und läßt sich nicht teilen. Darum sind die Seitenkapellen von so geringer Tiefe, darum die Vierungspfeiler abgekantet, darum der Priesterchor nicht durch eine Brüstung abgegrenzt, darum duckt sich der Kreuzaltar wie ein Hase in der Furche in die sieben niedrigen Stufen zum Hochaltarraum, so daß er zwar ganz leise gliedert, aber an ihm rechts und links vorbei, über ihn hinauf quillt, über ihn herunter stürzt der Raum, erfüllt das Querschiff, gleitet die Eckpfeiler entlang zurück zum Eingang, fließt, sich stauend, wieder nach vorn, und alles strömt, und alles ruht.

Von hinten gesehen, rücken Säulen und Pfeiler gegen den Hochaltar zu scheinbar enger zusammen, erstes Joch, Kanzeljoch, Querschiffjoch, Presbyteriumsjoch, Hochaltarsäulen, sodaß in der Verkürzung ein Langkreis entsteht; noch täuschender umgekehrt, von vorne nach dem Eingang zu, weil sich dessen Stirnwand nach außen vorwölbt. Darum stehen die vier mächtigen weißen Bogengurten festlich hintereinander wie Triumphpforten.

Noch habe ich kein Wort von der berühmten Ausstattung gesagt. Wer zum ersten Male nach Ottobeuren kommt, sieht nur sie. Wer die Schönheit des Raumes erfaßt hat, übersieht sie beinahe. An sich ließ das ungeheure Gehäuse des Mauerwerks jede raumschmückende Ausgestaltung zu: Renaissance mit kassettierter Decke; frühes Barock, mit Wessobrunner Akanthusornamenten wie in Vilgertshofen oder Friedrichshafen; hohes Barock im Stile der malerischen Ausstattung des Freisinger Doms; frühesten Klassizismus in der Art von Wiblingen oder Rot in Württemberg, mit den jeweils sich selbst ergebenden Abwandlungen im einzelnen.

Nun ist die Ausstattung der Basilika von Ottobeuren bekanntlich ein Glanzstück des Rokoko: Altäre, Taufstein, Kanzel, Chorgestühl, und diese Ausstattung bringt in das großangelegte Ganze eine seltsame Unruhe. Die Harmonie des Eindrucks von Ottobeuren setzt sich aus mehr Spannungen zusammen als sich beim ersten Eindruck enthüllen, und es ist von hohem Reize, sich über die wichtigsten der Gegensätze klar zu werden, die sich gegenseitig in wunderbarem Gleichgewicht halten. Nicht nur, daß die Kirche von außen die Vorstellung einer dreischiffigen Basilika erweckt, während sie innen ein einziger Raum ist; nicht nur, daß dies lateinische Kreuz ein so selbständig entwickeltes Querschiff aufweist, daß es zum achsrechten griechischen Kreuz wird: die hoheitvolle Würde dieses strengen Grundrisses schien jede Ausschmückung zuzulassen, nur eine nicht: Rokoko. Dem Rokoko wird alles Spiel und Reigen, alles kokett, übermütig, ausgelassen, galant (die barocke Zwischenstufe: das Aufgeregte, Pathetische, Theatralische ist hier übersprungen). Man kann sich kaum einen detailloseren Grundriß einer Barockkirche denken, keinen auf den ersten Blick einleuchtenderen. Und keine Ausstattung, die dieser detaillosen Ruhe der Grundanlage durch wimmelnden Überreichtum an Einzelheiten, ihrer ernsten Größe durch geistreiche Zierlichkeit, ihrer geometrischen Klarheit durch Lockerung, Sprengung, Aufhebung, Verspottung jeder regelmäßigen Figur ein stärkeres Gegengewicht böte. Ich habe einmal versucht, die Gestalten der Heiligen und Engel, nur unter der Vierung, zu zählen, Vollfiguren, Putten, Gebälkträger, Köpfe – ich habe nicht zu Ende gezählt, weil ich mir sagte, es sei spießig, einer künstlerischen Ausstattung, die schwebt, flattert, flirrt, schwirrt, wie eine grande volière, rechnerisch auf den Leib zu rücken. Welcher Einwand ließe sich ernstlich ausspielen gegen diese reizenden Putten, die Purzelbäume schlagen, kopfstehen, sich in Vorhänge verwickeln, zwischen Falten hervorlugen, Verstecken spielen, sich schelmisch vermummen? Man muß sie nehmen wie sie sind, Kinder des heitersten aller Jahrhunderte, muß sie gern haben wie gaukelnde Schmetterlinge, wie mozartische Koloraturen. In der ganzen Ausstattung gibt es keine gerade Linie, keine regelmäßige geometrische Figur, keinen Kreis, kein Rechteck, keinen Würfel, alles ist Willkür und Laune: Muschel, Schaumkrone, Wogengekräusel, Brandungswelle, Laubgewind, knisternde Seidenfalten, gebauschter Samt, Fruchtgehänge, Ranken, Blattgewirr, Wolkenschleier, alles scheinbar gesetzlos und dennoch einem allgemeinen Gesetze dienstbar, das der Beschauer wohl gefühlsmäßig ahnt, ohne es mit dem Verstande zu fassen. Zärtlich umgaukeln die Engelreigen die nachgedunkelten Altarblätter in den mattgoldenen Rahmen. Das Wort bleibt uns im Munde stecken, wenn wir zwischen dem derberen Zierwerk und der geschliffenen Eleganz des Figürlichen unterscheiden wollen, die Ausstattung ist so vollkommen heiter und frei, daß nur ein Griesgram wagen möchte, diese Rosenketten kritisch zu zerpflücken.

Es mögen etwa zehn Jahre sein, wir hatten den württembergischen Pfaffenwinkel abgewandert, Rot an der Rot, Ochsenhausen, Biberach, Steinhausen, wo der junge Dominikus Zimmermann zum ersten Male schüchtern zum Baugedanken der Wieskirche ausholt, Schussenried, Weingarten, Wolfegg, – zum Schluß wollten wir die Probe auf Ottobeuren machen: als Raum hielt sich daneben nicht einmal Steinhausen! Die Chorgestühle – dabei muß man diese württembergischen Ehorgestühle kennen – wie weggeblasen neben denen von Ottobeuren! Das herrliche dunkle Braun der schweren Eiche, die vergoldeten Lindenholz-Reliefs der Füllungen, der unerschöpfliche Esprit, mit dem die eingelegten Schmuckfelder die Kunstform des Vierbogenrahmens abwandeln, das mattleuchtende Gold der Karyatiden, Putten, Hermen, des flammenleicht aufzüngelnden Gitterwerkes, die geistreiche Verbindung von Orgelgehäuse mit Chorgestühl, die köstlichen Durchblicke auf die Deckengemälde oben in den Orgel-Lettnern zu beiden Seiten, vor allem aber diese achtzehn Reliefs selber, ein ins Rokoko übersetzter Ghiberti: hier streckt jede Beschreibung die Waffen, es ist das letzte Wort eines Handwerks, das höchste Kunst geworden ist, es ist rätselhaft, was ein Schreinermeister aus Villingen und ein Holzbildhauer aus Riedlingen da vollbracht haben, dazu gibt es kein Seitenstück, nicht nur in deutschen Landen.

Und doch ist eine allerletzte Steigerung vorbehalten: leise schwebt ein flötenhafter Ton hauchzart zwischen den Gewölben, eine Figur perlt auf, eine zweite spiegelt sie, sie reichen sich die Hände, trennen sich, neue Gefährtinnen schwingen sich aus unerschöpflichem Grunde, die Stimmen werden zahlreicher, der Klang voller, ein Manual antwortet dem andern wie ein Chor von Knaben einem Chor von Mädchen, sie schweigen beide eine bange Pause lang, da wird das volle Werk tönend und dröhnend wie mit Bachischen Zinken und hohen Drommeten, die Luft zittert, die Wände scheinen zu beben, plötzlich wird es wieder ganz still, über das dunkelste Register spannt sich ein leuchtendes wie ein Regenbogen über die betränte Flur, da, in der mittleren Lage setzt die Vox Humana ein und das alte Werk fängt an zu singen, selig schwebt die unirdische Stimme zwischen braunsamtener Tiefe und himmlischem Licht, als offenbarte das große Fresko tönend sein Geheimnis.

Ottobeuren ist nur zu verstehen aus der großartigen Baugesinnung des ehrwürdigsten Ordens des Abendlandes. Benediktus von Nursia gestaltet die Einsiedlerkolonie um in eine betende und tätige Gemeinschaft, die sinnvoll einem Ganzen dient. Die Klöster seines Ordens sind die legitimen Erben der römischen Villa. Äbte sind Herrscher, und Herrscher bauen. Ein Benediktinerabt, der nicht irgendwie Bauherr, Restaurator, Instaurator wäre, ist schwer denkbar.

Kaum hat der Abt Rupert II. seine Regierung angetreten (1710), so faßt er den kühnen Plan, das vollbesetzte Kloster und die schöne spätgotische Kirche niederzulegen, um beide von Grund aus neu aufzurichten. Am 5. Mai 1711 wurde der Grundstein des Ostflügels gelegt, am 2. Januar 1715 bereits der fertige Bau bezogen. Die Konventualen fühlten sich wie in eine neue und offene Weltgegend versetzt. Zellen von dieser Behaglichkeit bei allem mönchischen Verzicht auf Besitz hatte es noch nicht gegeben. Der Weg, der von den gemeinsamen Schlafräumen der ursprünglichen Regel zur Zelle, gar zu diesen Zellen führt, ist lang. »Inveni portum, spes et fortuna valete«: wofern dies Wort unsichtbar über jeder Pforte eines Klosters steht, so steht im Geist über jeder Benediktinerzelle: »Nusquam tota quies nisi cella codice Christo« oder, wie es der nämliche Thomas von Kempen in seinem niederrheinischen Missingsch noch anheimelnder ausdrückt: »In omnibus requiem quaesivi sed nusquam inveni nisi in hoekskens cum boekskens.«

Alle Ottobeurer Zellen sind gleich. Jede enthält einen Wohnraum von ziemlicher Tiefe, der sich gegen die Außenwand zu teilt in einen Schlafalkoven und eine Studierkemenate, beide durch Türen abzuschließen: die im Norden einzig mögliche Lösung des Kartausengedankens, wie er im Süden in den beiden Certosen bei Pavia und im Ema-Tal bei Florenz am schönsten verwirklicht ist. Bei allem Raumbehagen sind die Zellen asketisch einfach. Die Korridore hingegen sind durch ihre Breite, Höhe, Länge und durch ihre vornehmen Stuckarbeiten und Malereien wahre Festsäle, weit, heiter, lichtvoll.

Von 1715 bis 1724 wurden zunächst zwei weitere Flügel im Norden und im Süden aufgerichtet und durch einen ansehnlichen Quertrakt verbunden; sodann ein kürzerer Zwischentrakt, der unten den Speisesaal enthält, im ersten Stock das Museum, im zweiten die herrliche Bibliothek; zuletzt der schloßartige Empfangs- und Gästeflügel im Westen, die weiträumigen Ökonomiebauten und die Wohnhäuser für die Beamten.

Es war durchaus folgerichtig, wenn der Abt zuvor das Kloster erneuerte und dann erst die Kirche. Denn die Kirche blüht aus dem Kloster hervor. Alles ist von Anfang an auf sie hin angelegt, sie ist die Krönung des Baugedankens, sie sein letzter Sinn. Sie ist die Mittelachse des gewaltigen Vierecks mit seinen vier Innenhöfen. 1731 legt Abt Rupertus den Plan zu ihrem Neubau seinem Kapitel vor, das ihn in weiser Vorsicht, bis sich die Finanzen des Konvents erholt haben, um ein Jahrfünft verschiebt. 1716 sieht er den Bau begonnen, 1740 muß er das kaum über die Grundmauern gediehene Werk seinem Nachfolger überlassen. Geplant zur tausendsten Wiederkehr der Karolingischen Stiftung (1764), kann die Einweihung erst zwei Jahre später vollzogen werden. Nachdem er so den Plan seines großen Vorgängers noch würdig unter Dach gebracht, starb Abt Anselmus das Jahr darauf.

Warum ich nur von der Kirche gesprochen habe? Warum kein Wort vom Kloster, seinen Höfen und Kreuzgängen, Winter- und Sommerabtei, Treppenhäusern und Amigonis Fresken, Refektorium, Bibliothek, Kaisersaal? Weil es dies alles auch anderswo gibt: in Sankt Florian, Melk, Klosterneuburg, Kremsmünster. Den Ottobeurer Raum aber gibt es nur einmal. Das Ottobeurer Chorgestühl gibt es nur einmal. Die Ottobeurer Orgel gibt es nur einmal.


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