Josef Hofmiller
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Josef Hofmiller

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Altbayrischer Bauernadel

(1932)

Am schönsten war das Hineinkommen nach Bayrischzell zu der Zeit, da noch keine Bahn ging, und am allerschönsten natürlich zu Fuß. Durch das alte Schliersee war man bald durch, dann ging die schmale Straße hart am See, dann kam schon gleich das weiße Leonhardikirchl zwischen den Bäumen, dann macht die Straße ein scharfes Eck, und vor uns liegt der Wendelstein, und das Leizachtal wird sichtbar. Zuerst gehen wir noch den Hachelbach entlang, der zwischen der Brecherspitz und dem Jägerkamp durchs Josephstal herunterschießt, aber gleich hinter Aurach kommt sie daher, die Leizach, schon ein richtiges starkes Wasser, und die Berge rücken enger zusammen, bald sind wir am Jodlbauern in Hagenberg vorbei, der die schönste Hausmalerei hat im ganzen Tal, Geitau gehört schon in die Pfarrei, jetzt sind wir in Osterhofen. »Bayrischzell sicht ma kam vor lauta Äpfibam«, nur der spitzige Kirchturm verrät es. Das war das alte Zell, vor der Eisenbahn.

Die einzige Verbindung mit der Welt war damals der offene Postwagen, der von Schliersee um fünf Uhr abfuhr und Punkt sieben pomadig über die Brücke beim Zeller Schulhaus rumpelte, grad recht zum Abendessen. Aber bald kam ein blaues Privatauto, bei dem wir immer wetteten, wo ihm der Schnaufer ausgehen würde, hernach kam das braune Postauto, dem ging der Schnaufer nimmer aus, und zuletzt wurde das ganze Tal lebendig mit Arbeitern und Bahngleisen, und jetzt fahren lange Züge hin und her, und Bayrischzell ist ein stattlicher Ort geworden mit Gasthöfen, und kein Mensch kann das Lied mehr zu Ende singen: »schad, daß's koane Häuser hat, sunst war's ja glei a Stadt!«

Die neue Zeit baut Bahnhöfe und Gasthöfe, aber Bauernhöfe baut sie wenig, und es ist gut, daß im Leizachtal schon ein paar Dutzend der prachtvollsten von ganz Bayern stehen, hinzu kommen schwerlich mehr neue, man muß froh sein, wenn die alten Geschlechter noch auf dem Hof sind und es noch nicht so weit gekommen ist wie vielfach anderwärts, wo die Bauern bestenfalls noch die Hausknechte ihrer Höfe sind – gehören tun sie einem Fabrikanten aus Sachsen oder Rheinland.

Im Inntal liegen sie auch verstreut, diese stolzen Bauernhöfe im Tal oder auf den grünen Vorstufen des Mittelgebirges, der Regauer von der Regau, der Rechenauer von der Rechenau, der Seebacher von Seebach, der Hochecker von Hocheck, der Schweinsteiger von Schweinsteig, der Mühlauer von Mühlau, der Zaglacher von Zaglach, der Becherngruber von Becherngrub, der Watschöder von Watschöd, der Waller von Wall, der Stuffer von Oberstuff, der Sattelberger von Obersattelberg und wie sie alle heißen. Aber was ist das Inntal für ein breites, stolzes Tal mit einem starken Verkehr seit tausend Jahren neben dem weltabgeschiedenen Leizachtal! Wer das Leizachtal schon gekannt hat, richtig gekannt, nicht bloß mit dem Rucksack oder mit den Skiern ein paarmal durch, hat das freilich schon gewußt.Man muß bloß einmal am großen Frauentag, am 15. August, in Birkenstein gewesen sein, wo das ganze Tal zusammenkommt, dann hat man eine Ahnung, was das heißt:

»es gibt ja nur a Leizachtal alloa,
von Miesbach bis zum Wendelstoa«,

und man muß die Bauernhöfe ein wenig kennen, vom grünen Kessel der bayerischen Zell an bis hinaus gegen Westerham, wo die Leizach in die Mangfall mündet, wo das Tal breit und üppig wird und das »goldene Tal« heißt. Aber nicht vom »goldenen Tal« handelt das Buch, das neben mir auf dem Tisch liegt, sondern vom oberen Leizachtal, von den Pfarreien Bayrischzell, Fischbachau, Elbach, Au bei Aibling und Niklasreuth. Das Buch ist eine Beschreibung wert. Es ist so dick wie ein Meßbuch, auch fast so hoch und so breit, hat 832 Seiten und heißt »Chronik des oberen Leizachtales«, geschrieben von Joseph Brunnhuber, Hauptlehrer in Elbach, verlegt von den Gemeinden Fischbachau und Hundham, gedruckt von Georg Ultsch in Birkenstein. Die Bauern von Fischbachau und Hundham haben wirklich in diesen harten Jahren der Nachkriegszeit kurzerhand die Übernahme des Verlages beschlossen und dadurch nicht nur das großartigste Heimatbuch geschaffen, das seit Jahrzehnten herausgekommen ist, sondern auch ihrer Heimatliebe und ihrem Heimatstolz ein Denkmal gesetzt, stolzer als eins aus Stein und Erz.

Auf 34o Seiten ist jeder Hof beschrieben, vom Zillerbauer in Bayrischzell bis zum Zanken bei Wörnsmühl, wie lang der Hof sieht, woher sein Name kommt, wer zuerst urkundlich auf ihm nachzuweisen ist, wer alles auf ihm gesessen ist, wie die Frauen geheißen haben und woher sie gekommen sind, wann die Besitzer geboren und gestorben sind, wann die Hochzeit war, ob und wann das Anwesen zertrümmert worden ist, von wem, ob und wann abgebrannt, wieder aufgebaut, verkauft, zurückgekauft, wer jetzt darauf ist, und noch eine ganze Menge, was je mit dem Hof vorgekommen ist. Auch da begegnet uns der stolze Bauernadel, wo noch Haus- und Familiennamen gleich ist, die Stöger von Stög, die Deisenrieder von Deisenried, die Bacher zu Bach, die Mainwolf vom Mainwolf, die Kloo vom Kloohof. Oft ist der Hausname jünger als das Haus selbst, noch öfter aber ist er viel älter als die Namen der jetzigen Besitzer. Die höchste Siedlung im Leizachtal z. B., die beiden Höfe in Hochkreut, 989 Meter hoch, werden schon um 1200 genannt, und die ältesten Besitzer, ein Klaus Mumolf und sein Bruder Konrad, schon 1481. Seit 1659 sitzen die Huber auf dem Valtlhof. Aber die Larcher sind schon seit 1532 auf dem Larcherhof, die Kloo seit 1528 auf dem Kloohof, den jeder kennt, der von der Zell nach Birkenstein gegangen ist, die Mainwolf seit l452 auf dem ihren, die Rieder seit l343 auf dem Riederhof in Osterhofen. Seit 1451 gibt es die Zach in Bichl, seit 1453 die Jodlbauer in Hagenberg, seit 1469 die Jedl von Deisenried, seit 1538 die Gschwendtner in Oberachau, der Kloohof wird schon 1085 genannt, die Sixt, Steffl, Mair im Dorf seit 1218, die Buchenberger seit 1270, die Dorflinde von Elbach wird schon I507 erwähnt, aber sie ist sicher viel älter; die jetzige freilich ist ganz jung, sie ist erst 87 Jahre alt.

»Namen sind Kleinode«, schrieb mir Ludwig Thoma einmal: »mir ist es immer ein Genuß, wenn ich im ,Tegernseer Blatt' Preisverteilungen bei oder nach Viehausstellungen lese. Wenn der Quirin Lidschreiber, Jager am Eck, oder der Korbinian Höß, Hagn von Elmau, aufgeführt wird, so tut sich mir eine ganze urbehagliche Heimatchronik auf.« Was hätte Ludwig Thoma erst zu dieser urbehaglichen »Heimatchronik« gesagt, hätte er sie noch erleben dürfen! Sicher hätte er ihr den Ehrenplatz in seinem Bücherkasten angewiesen, neben Andreas Schmellers Bayerischem Wörterbuch, aber zuvor wäre sie wochenlang auf dem Ahorntisch in seiner Stube gelegen und hätte stark nach Latakia-Tabak geduftet.

»Diese festfußenden, breiten, wohlgefügten Häuser geben den Eindruck des Soliden, ja des Selbstherrlichen und Stolzen. Es sind zumeist Bauernpatrizier, wenn man so sagen darf, uralte Geschlechter, deren Namen sich nicht selten schon in Urkunden des 10. oder 12. Jahrhunderts finden und in graue Vorzeit zurückdatieren, die unter diesen Dächern wohnen. Wenn so ein regierender Bauer sagt: Georg heiß ich, Seebacher schreib ich mich und der Schweinsteiger bin ich – so liegt darin Selbstbewußtsein und Kraft. Solche Orte sind die reinsten Reservoire der Kraft für die Menschheit, und was draußen im Lebenskampf zersetzt wird, findet häufig von ihnen aus gesunden Nachschub.« Der Mann, der dies schrieb, war nicht umsonst einer der vertrautesten Freunde Wilhelm Leibls; es ist der Arzt Julius Mayr in Brannenburg, dem wir die feinen Wanderbilder »Auf stillen Pfaden« und die beste Leiblbiographie verdanken.

Es ist erstaunlich viel Bauernleben, Menschenleben gefaßt und gebunden in den Seiten dieser Chronik, und wer sich die lohnende Mühe nimmt, hin und zurück zu blättern und zu verfolgen, wie die Familien sich verschwägern und versippen, bekommt ein ähnliches Gefühl, wie wenn er in den alten isländischen Geschlechterbüchern liest. Nur dann versteht man, daß bei den großen Treffgelegenheiten des Tales in Wirklichkeit alle eine große Familie bilden, alle näher oder entfernter irgendwie miteinander verwandt sind, verwandt durch Abstammung und Blut, verwandt durch die auf dem Land in hohen Ehren gehaltenen Patenschaften der Taufe und der Firmung.

Nicht einmal die Hälfte des mächtigen Bandes ist es, die von der Beschreibung der Höfe ausgefüllt wird. Es steht noch eine Menge darin. Auf die Familiengeschichte folgt die Heimatgeschichte: Besiedlung und Rodung, Einführung des Christentums durch die ersten Glaubensboten, geistliche und adelige Grundherren, Dienstadel und Bürger, Grenzen, Pfarrsprengel, Reformation, Pfarrpfründen, Zehentrechte, Stolgebühren, Beschreibung der Kirchen, Nennung der Pfarrherren und Hilfspriester, Aufhebung des Klosters Fischbachau, Kunstgeschichte, Schulgeschichte, Kriegsnöte von der ältesten Zeit bis zum Weltkrieg. Und wiederum folgt die Darstellung des Bauernstandes und seiner Lasten: Zehent, Stift, Stiftpfennig, Gilt, Leibgedingsgeld, Abgaben, Scharwerk, Steuern, Gebühren. Darstellung der kirchlichen und religiösen Gebräuche: Jahrtage, Bittgänge, Bruderschaften. Darstellung der Bewirtschaftung von Grund und Boden; Dienstboten, ihre Löhne, ihre Kost. Wasserrecht, Fischrechte, Hochwasser. Von Bergen und Almen, Jagen und Wildern, Haberfeldtreiben. Verkehr, Gewerbe, Gesundheit, Kulturgeschichte, Tracht, Musik, Mundart und zu guter Letzt: Vom Wald.

Es ist eine unsägliche Arbeit, die Joseph Brunnhuber mit dieser Chronik geleistet hat, und sein Werk ist dem Volke des Leizachtals »zu Ehr und Vorbild«. Eine solche Arbeit kann nicht belohnt werden; sie trägt ihren Lohn in sich selbst. Wie man jetzt schon vom Allgäu sagt »Der Reiser«, vom Lechrain »Der Leoprechting«, von der Oberpfalz »Der Schönwerth«, so wird man in Zukunft vom Leizachtal sagen: »Der Brunnhuber«.


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