Josef Hofmiller
Franzosen
Josef Hofmiller

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Ergänzungen zu den »Bemerkungen«

(aus dem Nachlasse)

(A)

Am Anfange des Französischen steht eine Katastrophe, eine der größten, die wir kennen. Das Gallische wird vernichtet, mit Stumpf und StilHofmiller hat zweifellos mit Absicht »Stil« geschrieben und dem Sinne nach gemeint. D. H. ausgerottet. Es verschwindet so völlig, wie wenn es nie dagewesen wäre. An seine Stelle setzt sich das Latein, wie wenn es von je dagewesen wäre. Es kommt eine Art erster Blüteperiode zustande, aber in einer fremden, einer Kunstsprache. Das Volk hat keinen Teil daran.

Folgt die Überrennung durch die Franken. Der Gallier hat seine Sprache preisgegeben, der Franke gibt sie ebenso preis. Beide sind sprachlich Apostaten. Ein zweiter außerordentlicher sprachlicher Verlust tritt ein mit der Bildung des Früh-Neufranzösischen. Neue Invasion des Lateinertums durch den frühen Humanismus. Abermals wird das Volk ausgeschaltet. Eine weitere durch den Humanismus des 16. Jahrhunderts: derselbe Vorgang. Literatur als Sport einer dem Volk entfremdeten Kaste. Neue Sprachverluste durch das 17. und 18. Jahrhundert. Das französische Wörterbuch des »Grand Siecle« auf ein Mindestmaß reduziert, ganz abstrakt. Die Sprache wird fast zum Klischee; ihre Adern sind verkalkt. Die Revolution rottet die führende Schicht aus. Französische Romantik ist alles andre als volkstümlich; reine Literatenbewegung. Kein Volkslied wird erneuert, kein Volksbuch. Das Mittelalter als Dichtung bleibt tot. Was ausgegraben wird, ist das Mittelalter als dekorative Atrappe. Die sprachliche Entwicklung zerläuft in die Breite. Sie kann sich nicht durch Rückkehr in eine Tiefe erneuern, denn die Tiefe ist verschüttet. Keine aus dem Genius der Nation geborene Wiederentdeckung der eigenen Vergangenheit, weil alle Brücken zu dieser Vergangenheit radikal abgebrochen.

Ist es ein Wunder, wenn sich der Franzose verzweifelt an ein Lateinertum klammert, das er sich erst erfinden und zurechtmachen muß? Nachdem er alles zerstört hat, was sich in das Schema dieses abstrakten Lateinertums nicht fügt, bleibt ihm nichts andres übrig. Er ist Lateiner nicht durch Abstammung nicht durch Wahlverwandtschaft, sondern aus Armut. Nicht aus Wahlverwandtschaft: denn was ihn zum Lateinertum treibt, ist nicht eine Liebe, sondern ein Haß: der Instinkthaß alles Germanischen.

Aber nicht nur der Gallier hat seine Sprache preisgegeben fürs Danaergeschenk des Lateins, nein auch der Franke. Der eine ist so gut ein Apostat wie der andre. Der Gegensatz »Maske und Gesicht« drückt den Vorgang nicht scharf genug aus. Es ist viel mehr als bloß Preisgabe des Gesichts, wenn ein Volk so völlig und restlos seine Sprache dahingibt. Es ist ein Proton Pseudos, auf deutsch eine heillose Lüge von Anbeginn. So klammert sich der Franzose verzweifelt an ein Lateinertum, mit dem er innerlich nichts gemein hat. Es ist sein einziger Halt. Es bleibt ihm nichts übrig, als Lateiner zu werden, immer mehr sich selbst in all seinen Lebensäußerungen zu latinisieren.

Cäsars Eroberung Galliens ist in ihren Wirkungen eine der radikalsten Taten der Weltgeschichte. Durch sie ist das Keltentum als direkter Kulturfaktor aus der europäischen Kultur für immer ausgeschaltet worden, weil durch sie die Voraussetzung einer eigenwüchsigen Kultur, nämlich die Sprache, vernichtet wird. Alles Keltische spricht von nun an eine fremde, ihm von einem Eroberer aufgezwungene Sprache. Dabei müssen die keltischen Stämme nach allem, was wir schließen können, gerade fürs Sprachliche außerordentlich begabt gewesen sein. Der alte Cato charakterisiert die Gallier: Duas potissimum res Gallia sequitur: rem militarem et argute loqui. Militarismus und Literaturismus (ich verstehe darunter den literarischen Betrieb um seiner selbst willen, Sprachgesellschaften, Akademien, Kritik, Kritik der Kritik usw.): beide im Italien der Renaissance zuerst in kleinerem Maßstabe gewissermaßen probiert, dann in Frankreich ins Große, zentral Organisierte gesteigert. Es wäre der Untersuchung wert, inwieweit französische, italienische und provenzalische Literaturgeschichte starke Analogien aufweisen; ob man z. B. nicht die italienische Literatur vielfach als eine solche der Gallia cisalpina auffassen und durch Analogien erklären könnte.

Das Keltogallische war kein günstiger Nährboden fürs Latein. Erst das Spät-Mittelfranzösische wird ein guter Nährboden für die Invasion des Lateins.Stenographische Notiz auf einem losen Blatt: »Verdrängung des Germanischen: 'Westgoten, Burgunder, Franken, Normannen. Die Gallier fühlen sich damals schon als die Vertreter der älteren Kultur und nennen sich Romani

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Man könnte den Unterschied zwischen den beiden Hauptbestandteilen des französischen Wortschatzes auch so fassen: das Neufranzösische besteht aus zwei Sprachen, einer natürlichen langtie d'oil, und einer gelehrten langue d'oc. Von der ersten aus gesehen, ist die zweite eine Art Esperanto, von der zweiten aus gesehen die erste ein Patois. Um die zweite zu verstehen, genügt es, Latein zu können; um die erste zu begreifen, muß man Romanist sein.

Dieser Radikalismus des Sprachlichen zeigt sich heute noch am Werk in bestimmten Eigentümlichkeiten der Pariser Aussprache, z. B. der Neigung, statt des hellen a fast ein englisches ä zu sprechen; oder statt des offenen e in les, mes, ces usw. ein geschlossenes; das l in il vor Konsonant verstummen zu lassen. Auch die Verdrängung des Zungen-R durch Zäpfchen-R gehört hierher.

Andererseits besitzt das Französische heute noch nur zwei Möglichkeiten, seinen Sprachschatz zu erweitern: entweder Argot-Wörter, oder Fremdwörter aus den antiken Sprachen: Le francais littéraire recoit annuellement un immense apport de grec et de latin, dont pas un millieme peut-être n'entre dans le langage courant, tandis que le francais parlé crée ou emprunte à l'argot une foule de termes qui ne pénètrent pas le Dictionnaire de l'Académie. (Brunot, Origines de la langue frangaise, in Bd. I, p. XLVII von L. Petit de Julleville, Histoire de la langue et de la littérature francaise.)

Die letzte große Invasion des Lateins in ein schon sehr geschwächtes Französisch ist der Jargon der Revolution. Man lese sich einmal gewisse Teile der Reden Mirabeaus laut vor; man hat fast den Eindruck wie bei manchen Engländern des achtzehnten Jahrhunderts: Lateinisch mit den Mitteln einer modernen Sprache. Eben dieser Jargon wird mehr und mehr derjenige der französischen offiziellen Öffentlichkeit: Presse, Parlament, aber auch Bürgerkunde, Moralunterricht usw.; das Blutloseste, Papierenste, was mit den Mitteln einer heutigen europäischen Sprache zu machen ist. Man lege neben amtliches Nordfranzösisch eine Probe von gutem amtlichen Südfranzösisch (nicht Provenzalisch, z. B. Berichte der Marseiller Handelskammer); oder man lese gar Mistrals Autobiographie in seiner eigenen nordfranzösischen Übertragung, um die ganze Kluft zwischen Jargon und Sprache zu erkennen. (Auch die ganze, seit der Revolution grassierende Georgolatrie, das theatralische Spiel mit den Sinnbildern der Erde, der Landwirtschaft, der Fruchtbarkeit – le geste auguste du semeur – ist künstlicher Jargon, nicht künstlerische Sprache.) Durch die Notwendigkeit, auf die sprachlichen Reserven einer toten Sprache zurückzugreifen, wenn es neue Wörter bilden will, erhält das Französische, je gebildeter es ist, einen desto gespenstigeren Charakter: lauter revenants...

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Das heutige Französisch ist eine Mischsprache in viel höherem Grade, als Nichtphilologen und die Franzosen selbst glauben. Es hat seine Fremdwörter, wie das Deutsche, sicher nicht weniger an Zahl. Wenn sie dem sprachlich ungelehrten Franzosen nicht als solche zum Bewußtsein kommen, so beweist das nur, daß er zu seiner Sprache von vornherein nicht jenes unmittelbare Verhältnis hat wie der Germane oder der Slawe. Den Kern des Französischen bilden die aus dem Volkslatein durch natürliche lautliche Abschleifung entstandenen Wörter. Aber dazu kommen eine Menge Wörter, die nicht aus dem Volkslatein stammen, sondern aus dem literarischen; sie sind nicht von Anfang an vorhanden, sondern werden vom vierzehnten Jahrhundert an in Menge hergestellt; nicht abgeschliffen, sondern dem Lateinischen nachgepaust, und zwar, vom Standpunkt des natürlichen Französisch aus, vielfach falsch und stümperhaft, jedenfalls rein äußerlich; ihr Vokalismus und Konsonantismus ist unfranzösisch, er steht dem Italienischen viel näher, noch näher dem Lateinischen. Das Französische macht auf den sprachgeschichtlich Gebildeten ungefähr den Eindruck wie der Sockel des Cola-Rienzi-Denkmals in Rom, oder, geologisch gesprochen, wie Breccien. Das sprachliche Material ist nicht nur ganz ungleichmäßig verwittert, es gehört überhaupt ganz verschiedenen Zeiten an, die Formen differieren um ein Jahrtausend, die später importierten Wörter zeigen noch scharfe Ecken und Kanten gegenüber den alten, die alles Relief verloren haben, obwohl sie aus einer viel älteren Schicht des Lateins stammen. Diese paradoxe Erscheinung, daß die jüngeren Wörter des Französischen aus einer älteren Sprachschicht stammen als die alten, bringt etwas innerlich Zwiespältiges in die Sprache. Die Nomina gehören zum Teil einer anderen Sprache an als die Verba; die Abstrakta einer anderen als die Konkreta; das macht besonders die Sprache der Dichtung blutarm und innerlich stillos.

Von da aus gesehen präsentiert sich die Fremdwörterfrage im Französischen ganz anders als man gewöhnlich annimmt. Was den Gegensatz besonders grell macht, ist vor allem der Umstand, daß alle natürlich gebildeten Wörter möglichst kurz sind, alle künstlich fabrizierten dagegen ihre ursprüngliche lateinische Länge bewahrt haben. Das Französische gleicht nicht etwa einem Blumenstrauße, der die Blumen verschiedener Jahreszeiten gleichzeitig enthält, Schneeglöckchen und Schlüsselblumen neben Mohn, Malven, Herbstzeitlosen und Astern, sondern einem Strauße, der frische Blumen und solche aus Stoff oder Papier auf Draht vereinigt. Dies scheint mir der eigentliche Grund zu sein, warum das Französische unfähig ist zur großen Lyrik, zur Übersetzung der Bibel, Homers, Shakespeares ...

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Eine Analogie zu den beiden Bestandteilen des Neufranzösischen gäbe das heutige Griechisch; aber Reinsprache und Volkssprache nicht gesondert, sondern durcheinandergemengt.

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Das Französische unfähig zum Altertümlichen. Es hat keine Patina. »Ich hatt einen Kameraden«; »Keinen bessern findst du nit«; »Habe nun, ach, Philosophie«; »Die schönste der Jungfrauen sitzet«; alles französisch unmöglich. Es hat keine altertümlichen Endungen, keine volkstümlichen Auslassungen von Lauten.Das Trauliche fehlt. Nicht eine der Balladen Percys ist ins Französische übersetzbar. Es gibt nur eins: die Schriftsprache. Alles andre ist Argot oder Patois. (Natürlich elidieren die französischen Volkslieder und die ihnen nachgeahmten Kabarettcouplets viele stumme e; aber kein Dichter würde sich trauen, das nachzumachen. Ebenso wie die albernsten Hiatus-Regeln noch in voller Kraft sind; dabei ist der ganze Begriff Hiatus fürs Französische lächerlich und nichts als eine Magistermarotte.)

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Das Französische hat seinen Hauptvorzug in allem,, was hübsch, zierlich, niedlich ist. Wenn es pathetisch werden will, übernimmt es sich und kommt nicht übers Deklamatorische hinaus. Es widerstrebt dem langsamen Tempo. Sein natürliches Tempo ist presto; das deutsche andante ist schon wesentlich schwieriger; ein adagio wie im Italienischen auf die Dauer nicht durchzuführen, dafür reicht der Atem nicht; ein lento, largo, grave, wie im Spanischen, auch im Englischen, völlig unmöglich. Was der Sprache versagt ist, ist auch dem Gedanken versagt.

Wenn die rhythmische Grundtendenz des Italienischen ausgesprochen trochäisch ist (vgl. den klassischen Vers der italienischen Oper), die des Deutschen ausgesprochen asymetrisch-rhythmisch (alter Hebungsvers, mittelhochdeutsche Verschleifungen, Hans Sachsischer Knittelvers bis in den ersten Teil des Faust hinein, Hölderlin, Zarathustra), so ist die des Französischen bei langsamem Sprechen unrhythmisch, bei rascherem jambisch-anapästisch. Im wesentlichen finden sich alle im Neufranzösischen möglichen rhythmischen Varianten schon in der Eulalia-Sequenz des 9. Jahrhunderts.

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Adolf Dirr (»Linguistische Probleme in ethnologischer, anthropologischer und geographischer Beleuchtung«, Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien, Band XL, 1910) betont, daß schon das älteste Keltisch außergewöhnlich abgekürzt und verschliffen, »zersprochen« sei, so daß Hirt (Indogermanen I, 20) sich habe fragen müssen, »ob nicht das merkwürdige Zusammenschrumpfen der französischen Sprache auf denselben Gründen beruhe wie der gleiche Vorgang im Keltischen«. Tomaschek (zitiert bei Dirr) nennt als Zeichen des »Zersprechens« einer Sprache: »Bestreben nach Vereinfachung der Formen, nach Beseitigung aller komplizierten Satzverhältnisse, nach Nivellierung und Uniformierung«. Dirr fügt hinzu: »Brechung betonter und besonders betonter langer Vokale« und verweist auf die furtiven Vokale des Arabischen; der Germanist erinnert sich, daß, wo germanische Dialekte von einer keltischen Bevölkerung mitübernommen werden, ähnliche Brechungen vor sich gehen wie im Altenglischen und noch im jetzigen Südbayrischen und Südschwäbischen. Weiter: »Alle Südsprachen (Keltisch, Romanisch, modernes Iranisch, Vulgärgriechisch, Albanisch) nehmen im Vergleiche zu den Nordsprachen (Slawisch, Litauisch, Germanisch, mit Ausnahme des Englischen, das von Kelten gekürzt ist) bedeutend mehr zu analytischen Mitteln des Ausdrucks Zuflucht, als diese.

Die Flexion ist bis auf geringe Reste verschwunden, das Konjugationssystem ist ärmer geworden. In den Südsprachen ist der Satz wortreicher geworden. Sie sind auch vokalreicher und schieben Vokale da ein, wo ihrem Gefühle nach zu viele Konsonanten stehen. (Umgekehrt zerstören sie intervokale Konsonanten oder schwächen tonlose zu tönenden ab.) Der Südländer spricht auch mehr in Sätzen als in einzelnen Worten.«

Die neufranzösische Fortentwicklung zeigt eine Tendenz zum Radikalismus; der Franzose geht bis ans Ende; er schleift ein Wort ab bis aufs äußerste, bis weitere Kürzungen überhaupt nicht mehr möglich sind. Lehrreich z. B. die Behandlung des mouillierten l im Italienischen und Spanischen gegenüber dem Französischen, wo es schließlich zu einem scharfen Jot-Laute wird (interessant noch der vergebliche Widerstand Littrés, der in allem Sprachlichen gute Instinkte besaß, gegen diese Tendenz). Soweit es sich um volkstümliche Bildungen handelt (im Gegensatze zu den gelehrten, durchgepausten Wörtern), möchte man von einem stenophonischen Grundtriebe des Französischen sprechen. Ein Charakteristikum des keltischen Munds ist die Tendenz zur Mouillierung im weitesten Sinn. Keltisch ist die Tendenz, u wie ü zu sprechen (Brunot, P. d. J., S. LIX ff.), keltisch vor allem die Tendenz zur Nasalierung (LXIII).

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Im Italienischen und Spanischen wirken die nach dem Lateinischen durchgepausten Wörter, die auch in diesen Sprachen vorhanden sind, nicht stillos wie im Französischen, weil die beiden Sprachen als solche dem Französischen gegenüber eine wesentlich ältere Stufe des Lateins darstellen, und weil die lateinischen Betonungsgesetze nicht so schmerzhaft verletzt werden wie in vielen mots savants.

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Rivarol, dem man die auch heute noch lesenswerte Schrift De l'universalité de la langue française verdankt, hat auch über das Verhältnis des Französischen zu anderen Sprachen nachgedacht: On dirait que la langue française est composée d'une géometrie tout élémentaire, de la simple ligne droite, tandis que les courbes et leurs variétés infinies semblent avoir présidé à la formation des langues grecque et latine. Es steckt eine richtige Beobachtung in dem Satze, der zuerst nur ein geistreichelnder Einfall scheint; aber die Folgen, die sich daraus ziehen lassen, sprechen nicht für das Französische. Was Rivarol am Italienischen nicht paßt, ist das Tempo: La prose italienne, composée de mots dont toutes les lettres se prononcent, et roulant toujours sur des sons pleins, se traîne avec trop de lenteur. Son éclat est monotone, l'oreille se lasse de sa douceur et la langue de sa mollesse: ce qui peut venir de ce que, chaque mot étant harmonieux en particulier, l'harmonie du tout ne vaut rien. Was Rivarol unter Harmonie versteht, zeigt der Satz: L'e muet, semblable à la dernière vibration des Corps sonores, donne à la langue française une harmonie légère qui n'est qu'à elle. Am Italienischen hat er vor allem auszusetzen des formes cérémonieuses, ennemies de la conversation. Am Spanischen stört ihn das Largo und Grave des Tempos: La Majesté de sa prononciation invite à l'enflure, et la simplicité de la pensée se perd dans la longeur des mots et sous la plenitude des désinences.

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Um sich über Wert und Charakter des Französischen als Sprache klar zu werden, gibt es vor allem zwei Vergleichsmöglichkeiten: Wie verhält es sich zum Latein, und welchen romanischen Dialekten steht es am nächsten?

Man kann die Entwicklung des Lateins zum Vulgärlatein nur als Verfall auffassen. Das Sprachgebäude sieht ruinös aus wie nach einem Erdbeben: Stützen herausgerissen, ganze Stockwerke teils eingestürzt, teils durcheinandergeschoben; von Deklination kaum noch die Rede, die Konjugation verstümmelt usw. Wenn eine ausgesprochen synthetische Sprache ausgesprochen analytisch wird, so ist diese Entwicklung Verfall, und nicht dieser Verfall Entwicklung. Diesen grammatikalischen Verfall stellen alle romanischen Sprachen ziemlich gleichmäßig dar. Die lautliche Weiterentwicklung des Vulgärlateins zu den einzelnen romanischen Sprachen hingegen zeigt unbestreitbare starke Unterschiede Am nächsten dem Latein ist das Italienische geblieben, zugleich am reinsten; es ist am wenigsten verschliffen und zersprochen, und wenn es auf den lateinischen Wortschatz zurückgreift (z. B. wenn Carducci, weil ihm lodola zu niedlich ist, an einer Stelle ruhig schreibt alauda), empfindet man es als vollkommen natürlich; es sticht nicht ab vom sonstigen Sprachgut wie ein fremder Flicken, weil dieses Sprachgut verhältnismäßig wenig verwittert, und vor allem schön verwittert ist. Nicht ganz so günstig steht gegenüber dem Latein das Spanische, aber auch seine Patina ist prachtvoll. Ungefähr gleich steht das Provenzalische und Katalonische. Dann aber ist es ein weiter Schritt zum Portugiesischen und Rumänischen, die stark verwittert sind und keine schöne lautliche Patina aufweisen, und der weiteste zum Französischen, dasam verwittertsten und verschliffensten ist, gleichviel ob man es mit dem Latein vergleicht oder mit den anderen romanischen Sprachen. Am nächsten steht es verhältnismäßig gewissen piemontesischen Dialekten, die man sich nur in französische Orthographie umschreiben braucht, um Nähe und Grad der Verwandtschaft zu erkennen. Wenn man das Französische mit dem Italienischen oder Provenzalischen vergleicht, läßt sich nicht bestreiten, daß der keltische Boden für die Entwicklung des Lateins offensichtlich viel ungünstiger war als der italische, ligurische, aquitanische. Im keltischen Mund ist das Latein bis zur Unkenntlichkeit zersprochen und zerschliffen worden. Das eigentliche, echte, alte Französische, also ohne die Buchwörter, ist ausgesprochenes Patois, und zwar das ausgesprochenste unter allen romanischen Sprachen: keine andere hat die Tendenz, das konsonantische Gerippe der Wörter zu zerstören in diesem Grade; keine andere ist so radikal in der Vokalisierung von Konsonanten; keine nasaliert so viel, keine mouilliert so bis ans äußerste, bis es nicht mehr weiter geht, – alles geradezu Kriterien der Patoisierung! Wenn man definieren wollte, was Patoisierung sei, käme man auf nichts andres heraus, als Verschleifung des Sprachguts durch Vokalisierung, Diphtongierung, Nasalierung, Mouillierung. Les parlers locaux restés dans l'ombre sont des patois, ceux qui sont élevés à la dignité littéraire sont des dialectes (Darmesteter). Das spontan entwickelte Französische ist im 12. Jahrhundert fertig und mit seinem Latein zu Ende. Die Sprache kann nicht mehr weiter. Das wird nicht als Mangel empfunden, solange sie nur für den Verkehr des Alltags und zu dichterischen Zwecken gebraucht wird; sobald es sich jedoch darum handelt, schwierigere, tiefere geistige Inhalte auszudrücken, reicht sie nicht aus.

Hier zeigt sich der Hauptunterschied zwischen Französisch und Deutsch: die Schaffung des abstrakten Wortschatzes ist eine der größten Leistungen des Deutschen. Eucken, in seiner »Geschichte der philosophischen Terminologie im Umriß«, zeigt, wie schon der erste große Übersetzer der Deutschen, Notker, ebenso geschickt wie kühn lateinische Fachausdrücke entweder durch bereits vorhandene Wörter der Volkssprache widergibt, oder das Fremde möglich getreu eindeutscht (z. B. individuus – unspaltig). Wenn wir heute sagen: erfahren, begreifen, verworren, zusammen, Ende, Bild, unendlich, vernehmen, Mut, Welt, Ewigkeit, Seligkeit, Wesenheit, Anschauung, Mehrheit, Minderheit, Bildung, richtig, Schein, scheinbar, Vernunft, vernünftig usw., so bedienen wir uns lauter Wörter, die Notker geschaffen, wenigstens für die wissenschaftliche Sprache erobert hat. Meister Eckhart verdanken wir: Einigkeit, Empfindlichkeit, Ewigkeit, Freiheit, Gottheit, Grundlosigkeit, Klarheit, Hoheit, Innigkeit, Lauterkeit, Mannigfaltigkeit, Menschheit, Möglichkeit, Natürlichkeit, Sinnlichkeit, Unbegreiflichkeit, Ursprünglichkeit, Verständlichkeit, Verworrenheit, Vollkommenheit, Wirklichkeit; angeboren, Begierde, Begriff, Bezeichnung, Bildung, eigentlich, Eigentum, erscheinen, Vorsatz, empfinden, grundlos, Hindernis, einbilden, ausbilden, Eindruck, Einfluß, inwendig, auswendig, Mitleiden, Neigung, Schöpfung, Unsinn, Unvernunft usw. Luther schafft u. a.: Bedingung, Bildnis, Empfindung, folgen, freiwillig, Gelegenheit, Gewissen, Pflicht, deutlich, Erscheinung usw. Jakob Böhme: Zweck, Auswicklung (für unser Entwicklung), Begreiflichkeit, Unendlichkeit, Vielheit, Naturrecht, Vernunftschluß, Wohltun, Wohlwollen (zitiert bei Hermann Hirt, Etymologie der neuhochdeutschen Sprache).

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Im 14. Jahrhundert beginnt die Latinisierung als Doktrin und System (2, 541): Brunot stellt fünfhundertsiebenundvierzig neu importierte Wörter fest, wobei er ausdrücklich hervorhebt, seine Liste sei bei weitem nicht vollständig (2, 545 ff.). Dazu kommen die schon zu dieser Zeit einsetzenden zahlreichen Gräzismen (gegen hundert).

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Es ist ein Symbol, was uns in der Legende des heiligen Ludwig überliefert wird. Durch Berührung seiner Reliquien wird ein Taubstummer geheilt; aber, o Wunder! er spricht nicht seine heimatliche burgundische Mundart, sondern tadelloses Französisch, »comme s'il fût né à Saint-Denis« (Brunot, P. d. J., II, 461): Die Provinz verliert die Sprache, und als sie sie wieder gewinnt, spricht sie Pariserisch.

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Grundtendenz der französischen Aussprache: Ausscheidung aller Diphtongues, zunehmende Nasalierung; Konsonantenverdrängung: affaiblissements, réductions, amuïssements, tout a long développement diminue progressivement et le nombre et l'importance des consonnes dans les mots (II, 474) ... la prononciation de l'ancien français: ... plus agréable que la nôtre ... plus riche en voyelles, surtout en voyelles pures (d. h. weniger Nasale), et en diphtongues, il ne connaissait pas ces groupes de consonnes que nos mots empruntés, et particulièrement nos mots savants ont réeintroduits dans le français. Il avait déjà ce défaut grave que l'accent tonique de tous les mots ... se trouvait également sur la finale, lui interdisant par conséquent ces modulations qui donnent tant de grâce et de variété à d'autres langues (Brunot, P. d. J., II, 474).

Mais la vraie caractéristique du vieux français par rapport au français moderne, c'est qu'il est infinement plus pur que la nôtre de ces mots latins et grecs qui, dans la suite, ont été importés au masse, à peine francisés (II, 476).

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Die Einführung lateinischer Fremdwörter beginnt mit den ältesten Sprachdenkmalen. Nicht einmal das Rolandslied ist frei davon. Im 12. und 13. Jahrhundert nimmt der Import rapid zu (la proportion s'augmente rapidement II, 477). Brunot zählt an gelehrten Wörtern, die sich vor dem 14. Jahrhundert finden, 272 auf. Dennoch sagt er, ist der Unterschied zwischen dem älteren und dem jetzigen Französisch »immense«, die beiden Lexika sind völlig verschieden; nicht nur, daß neue Wörter dazu gekommen sind, nein, die alten werden unnötig verdrängt (non seulement adjonction, mais substitution II, 478). Das ist vor allem ein großer Verlust für die Dichtung, wegen der Reime; die alten, verdrängten Wörter reimten auf den Stamm, die neuen auf die Endung (II, 481). Außerdem macht der Deklinationsschwund Zusammensetzungen unmöglich (II, 479). Schon das Altfranzösische ist arm an Abstrakten, sie werden in der Folge gelehrt gebildet (II, 489). Die altfranzösische Syntax hatte fast noch den Reichtum und die Geschmeidigkeit der griechischen (II, 501): wie dürftig ist die neufranzösische! Es kann noch lateinische Perioden nachbilden (II, 505), hat keine engen Regeln, besitzt »eine Synonymik der Syntax« (ibid.).

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Die Franzosen haben kein Verhältnis zu irgend einem Dialekt. Eine mundartliche Dichtung gar, wie bei uns Klaus Groth, Reuter, Hebel usw. ist dort völlig unmöglich; daher auch eine Erneuerung und Verjüngung der Schriftsprache durch die Mundart. Schon bei Molière, ja schon im Maître Pathelin werden die Dialekte nur zu derbkomischen Wirkungen verwendet: die Mundart ist bereits zum Patois geworden, das der korrekt Gebildete verachtet und lächerlich findet.

(B)

Eine ganz bestimmte Gattung der psychologischen Erzählung ist in Frankreich vorzugsweise von Frauen gepflegt worden. Hierher gehört, als ältestes Stück der Art, der Eliduc der Marie de France. Es ist im Grunde schon der Typus Princesse de Clèves der Madame de Lafayette im 17. Jahrhundert, der im 19. Jahrhundert verflacht bei Octave Feuillet, verderbt bei Marcel Prévost, verkünstelt bei Paul Bourget zu finden ist. Im Gegensatz zu dem theoretisierenden, psychologisierenden Typus des Jehan de Thuin usw. ist dieser rein künstlerisch und will nichts als ein Herzensschicksal erzählen. Es ist die Grundform der modernen Novelle, aber ohne »Falken«; ihr Wesentliches ist die Feinheit, Sanftmut und leise Trauer der Erzählung eines unabänderlichen Geschehens. Am Ende dieser Reihe steht Maeterlinck. Bei ihm wird der Typus ganz unschuldig und ganz raffiniert, zugleich sehr kindlich und das Geschehen beklemmend bis an die Grenze des Schauerromans.

Hier (in Eliduc) ist auch das Dreieck Liebender, Geliebte, Gemahl(-in) zum erstenmal vollendet dargestellt. Die ganze spätere Literatur wird nicht müde, dieses Motiv zu variieren, nicht im Roman, nicht im Drama. Es ist das Motiv der französischen Literatur.

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Eines der ersten Werke der französischen Humanistendichtung ist die Übersetzung der Pharsalia des Lucan um 1240 durch Jehan de Thuin. An dieser Übersetzung sind drei Dinge beachtenswert: 1. daß ihr Verfasser aus dem Hennegau stammt, 2. daß es eine Übersetzung in Prosa ist, 3. daß diese älteste aller französischen Prosaübersetzungen (von religiösen Texten abgesehen) dem schwulstigen Spanier gewidmet ist. Damit ist der erste Schritt gemacht auf dem Wege, der bei Corneille und Racine schließlich anlangt: antike Quelle, vorzugsweise die Autoren der Verfallzeit, die Handlung aufgefrischt durch eine interessante Liebesnebenhandlung (hier Cäsar und Cleopatra).

Dieser Jehan de Thuin ist schon ein Vorläufer nicht nur des Rosenromans, sondern auch der Scudéry und der späteren und spätesten französischen Liebesscholastik. Er unterscheidet genau zwischen Liebe, die aus den Augen, und solcher, die aus dem Geiste stammt (le savoir), und aus Güte, und klagt bereits über den Verfall der Liebe.

Diese Psycho- und Physiologien der Liebe in Prosa und Versen gehören zu den charakteristischen Werken der französischen Literatur, von Jehan de Thuin bis Stendhal und Paul Bourget. Sie lassen darauf schließen, daß in diesem Lande von Anfang an die Literatur in höherem Grade von Frauen beeinflußt wird als anderswo.

In diesen französischen Liebesromanen, schon welcher Euphuismus! z. B.: Cligès:

C'est mon vouloir qui mal devient,
maistant ai d'aise en mon vouloir
que doucement me fait souffrir,
et tant de joië en mon ennui<
que doucement malade suis.
Nest-ce point un mal hypocrite,
qui doux me semble et tant m'angoisse?

Das Oxymoron als tropischer Ausdruck eines seelischen Zustands findet sich am frühesten im französischen Mittelalter, nicht nur früher, sondern auch reiner. Daneben wirkt selbst der Euphuismus des jungen Shakespeare schwulstig. Andrerseits ist hier die seelische Voraussetzung dessen, was später Preziösentum heißen wird.

Die ganze Liebesscholastik Wagners im 2. Akte des Tristan steckt schon im Cligès des Chrétien de Troyes; z. B.:

Er:

Ici mon coeur, et là mon corps,
c'est pourquoi je suis revenu,
mais mon coeur à moi ne revient,
ne veux ni ne puis le reprendre ...

Ihre Antwort:

Sans coeur je vis et sans coeur suis,
jamais en Bretagne ne fus,
et cependant mon coeur sans moi
s'y engagea ne sais comment; ...

il y fut tant que vous y fûtes,
et avec vous s'en éloigna ...

Er:

Dame, ils sont donc ci avec nous,
nos deux coeurs, comme vous le dites,
car le mien est votre à jamais.

Sie:

Ami, et vous avez le mien,
l'un à l'autre conviennent bien.

Dabei welch realistische Besonnenheit: um keinen Preis möchte Fénice von Cligès ein Kind, es könnte ihm schaden, er könnte enterbt werden. Welcher Takt zugleich und welche Beherrschung! Alles schon sehr zivilisiert, sehr alt. Das Spontane überall gebändigt durch Hemmungen des Verstandes. Bei aller Leidenschaft sehr kühl.

Vous ne pouvez sans moi mourir,
ni moi sans vous ne puis périr.
Votre mort je vois devant moi,
et sais que tôt mourir je dois.

Diese Übersetzung aus dem mittelalterlichen Tristan in modernes Französisch zeigt, wieviel von der Freiheit der älteren Sprache in die jetzige zu retten wäre, brächte man nur den Mut auf mit den Regeln zu brechen. Das heutige Französisch kennt diesen Ton nur noch im Volksliede. Stücke, wie der Jean Renaud sind die letzten spärlichen Überbleibsel dieser Kunstgattung (des 8-silbler-paarweis reimenden mittelalterlichen Romans).

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A. Jeanroy bei L. Petit de Julleville (I, 367) stellt fest, daß fast alle Förderer der ersten Generation der höfischen Lyriker dem Norden, Osten und Nordosten angehören, nur ausnahmsweise den westlichen und südwestlichen Provinzen. Genau so verhält es sich mit den Dichtern selbst: Picarden, Artesier, Flamen, Lothringer, Champagner, Burgunder, ein einziger Franzose aus ...; der châtelain de Couci. Erst in der zweiten Generation tauchen Dichter aus dem Westen auf.

Jeanroy stellt auch fest, daß, als der Adel der höfischen Lyrik müde ist, sie sich erst recht verbreitet in dem reichen Bürgertum der nördlichen Städte: abermals Picardie, Artois und Flandern; letzter Glanz in Arras.

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Zwischen 1223 und 1230 kompiliert ein uns unbekannter Verfasser in den Faits des Romains Sallust, Sueton, Lucan, Cäsar und dessen Fortsetzer. Wie früh beginnt in Frankreich bereits die humanistische Tradition!

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Die chanson de geste blüht im 11. Jahrhundert, hält sich noch im 12., aber schon zu Beginn des 12. Jahrhunderts taucht das höfische Epos auf, durch das die chanson de geste sehr rasch verdrängt wird. An Stelle der großen Form (assonierende epische Couplets) der chanson de geste treten die paarweis reimenden 8-Silbler der neuen Gattung, an denen sich das Ohr jedoch ebenfalls bald abhört: der Weg für die Prosa ist frei, (ähnliche Entwicklung in Deutschland), für den ritterlich-galanten Prosaroman (Typus Amadis), den Vorläufer der verschiedenen Arten des modernen Romans. Man könnte eine Geschichte des Männerideals entwickeln von der Reise Karls nach Konstantinopel bis zu Dumas' Drei Musketieren und Maupassants Bel Ami.

(C)

Die Größe einer Literatur steht und fällt mit dem Anteil, den die ganze Nation daran nimmt; dabei ist es durchaus nicht notwendig, daß jedes einzelne Werk mit starker Teilnahme rechnen dürfe. Worauf es ankommt, ist, daß ein literarisches Interesse nicht nur in der Hauptstadt besteht, sondern auch in der Provinz; nicht nur bei den Vornehmen, sondern auch beim Mittelstand und dem eigentlichen Volke; nicht nur bei Wohlhabenden, sondern auch bei Unbemittelten; ob das lesende Publikum rein hauptstädtisch ist, oder ob auch auf dem Lande, in ganz kleinen Städten, in Dörfern, ja in Einöden Dichtung als Angelegenheit des Volkes betrachtet wird (berühmtestes Beispiel fürs letztere die isländische Literatur); ob im Mittelstande nur Beamte und Offiziere, oder auch Geistliche, Lehrer, Handwerker teilnehmen, ob nur die literarisch Gebildeten oder auch das unliterarische Volk, vor allem auch die Frauen, einfache Frauen. Die Goncourts schreiben als richtige Snobs einmal: »Schön ist das, was meiner Geliebten und meinem Dienstmädchen instinktiv mißfällt.« Faust, Götz von Berlichingen, der Tell, Lohengrin, die Meistersinger, Schwind, Hans Thoma sind jedem Kindermädchen zugänglich; Gondoliere sangen die Strophen Tassos; ein Florentiner Straßenjunge unterscheidet Donatello und Mino da Fiesole. Was ist so ins französische Volk gedrungen wie der Don Quixote ins spanische, der Robinson ins englische?

Der Schlüssel zu allem heißt immer wieder Paris. Schon Anfang des XIII. Jahrhunderts hat es fast 200 000 Einwohner, 1675 zählt es schon mehr als das heutige München. Unterschied von London: in London bringt die gesellschaftlich tonangebende Oberschicht bis tief ins 19. Jahrhundert hinein nur zwei Monate im Jahre zu; in Paris nur zwei Monate im Jahr nicht. Um die Wende des XV. Jahrhunderts hat es eine Zeitlang fast den Anschein, als sollte in der Touraine die künstlerische Kultur mehr gepflegt werden als in Paris. Etwas später sind wenigstens noch Dichter außerhalb Paris zu finden. Aber vom Ende des 16. Jahrhunderts an ist Paris alles, und die Provinz nichts mehr. La cour et la ville. Es ist ein Verhängnis, wenn der Geschmack einer Hofgesellschaft die Entwicklung einer Literatur bestimmt und wenn zugleich alles, was nicht Hofgesellschaft ist, wenigstens deren Geschmack kopiert; das braucht gar nicht lange Zeit zu dauern, ein paar Jahrzehnte genügen, besonders, wenn, wie in Frankreich, die künstlerischen Ideale rasch von der obersten Schicht in die des Mittelstands durchsickern, aber keinen Ablauf nach weiter unten finden: diese Schicht wird dann völlig imprägniert. Was dem klassischen Theater der Franzosen fehlt, sind u. a. die »Gründlinge im Parterre«, das unverbildete Publikum mit derben Instinkten, dessen Verdrängung durch den Puritanismus auch die Originalität des englischen Dramas zerstört. Eine Literatur nur für literarisch Gebildete, eine Musjk nur für Musiker, eine Malerei nur für Maler endet in »Richtungen«, stirbt an Blutarmut. Das Drama wird vernichtet durch die große Zahl der Premieren, die Musik durch die der Konzerte, die Malerei durch die Ausstellungen, die Kunst durch eben den überhitzten Kunstbetrieb, auf den sich der Großstädter soviel zugute tut, von der städtischen Rolle des landläufigen Kunst- und Literaturjournalismus ganz zu schweigen. Nehmen wir als Gegensatz die englische Literatur! Die Lake School entsteht in der ländlichen Einsamkeit von Westmoreland, Byron und Shelly leben in Italien, ebenso die Brownings; Tennyson auf seinem Landsitze, Walter Scott auf seinem schottischen Schloß, während alle wichtigen Strömungen der französischen Literatur von Paris ausgehen. Für die amerikanische Literatur bedeutet New York nichts, Boston oder das kleine Concord alles. Keiner der großen italienischen Dichter des 19. Jahrhunderts lebt in Rom (ganz abgesehen davon, daß Rom immer noch ein ganz anderer Boden gewesen wäre, besonders vor 1870). Es ist auch falsch, wenn man sagt, die Voraussetzung des großen Romans, des großen Dramas sei ein großes Gesellschaftsleben. England hat gewiß ein glänzendes Gesellschaftsleben, aber der große englische Roman, sei es Walter Scott oder Dickens, oder Thackeray, oder George Eliot hat damit gar nichts zu schaffen, so wenig wie die Dramen Shelleys, Byrons, Swinburnes: die große Dichtung ignoriert die society völlig; es ist, wie wenn sie gar nicht da wäre. Die Geschichte des französischen Dramas hat als Marksteine die denkwürdigen Pariser Premieren: die des Cid, die des Tartuffe, der Bérénice, der Phèdre, des Figaro, des Hernani, der Dame aux Camélias, um nur einige zu nennen (wer schreibt die Geschichte der Pariser Premièren? es müßte ein hübsches kleines Buch werden). Man vergleiche die Geschichte des deutschen Theaters: Mannheim ist von Bedeutung, Hamburg, Weimar, Leipzig; sobald Berlin anfängt, eine Rolle zu spielen, haben wir vergröberte französische Zustände. (Wer schreibt die Geschichte der Berliner Premièren? es müßte ein Buch werden, nicht gerade hübsch, aber lehrreich, fatal lehrreich ...) Und wer schreibt die Geschichte des Publikums? Das Motto steht bei Chamfort: Le public, le public! Combien de sots faut-il pour faire un public...?

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»Notre Dame de Paris von Victor Hugo besticht durch das Verdienst fleißiger wohlgenutzter Studien der alten Lokalitäten, Sitten und Ereignisse; aber in den handelnden Figuren ist durchaus keine Spur von Naturlebendigkeit. Es sind lebensunteilhafte Gliedermänner und -weiber, durchaus nur ausgestopfte Puppen.« (Goethe an Zelter 28. Juni 1831). Man könnte, anstatt Notre Dame, ebensogut einsetzen Salambo: jede Einzelheit derart richtig, dokumentarisch richtig, daß das Ganze falsch wird; oder vielmehr der Irrtum, man könnte durch Summierung richtiger Einzelheiten (mit einem Stich ins Groteske, Exotische, Bizarre) ein richtiges Ganzes erzwingen. Derselbe Irrtum ins 19. Jahrhundert übertragen: Education sentimentale. Ins erste Jahrhundert: Herodias. Ins zwölfte: Saint Julien l'Hospitalier. Beides nebenbei Vorformen von Oskar Wilde, der eine gewisse Art starrer Künstlichkeit von Flaubert übernimmt, gelegentlich auch von Balzac; der Dorian Gray z. B. ist ein Balzac'scher Einfall (Peau de Chagrin), der wieder, wie so mancher andre, auf E. Th. A. Hoffmann zurückgeht. Über Hoffmanns Einfluß auf die französische Literatur besitzen wir eine gute Arbeit.Im Manuskript Lücke im Text. Hingegen ist einem anderen Einfluß meines Wissens nach nie ernstlich nachgespürt worden, nämlich dem der Engländerin Anna Radcliffe, deren Schauererzählungen zwischen 1800 und 1830 auch in Frankreich offenbar viel gelesen worden sind; wenigstens könnte ich mir sonst nicht erklären, daß sich ihr Name wiederholt bei Stendhal findet. Die französischen Erzähler nach 1830 werden etwas zu getrennt betrachtet; ich würde eine Darstellung nach Gattungen und Motiven wünschen, bei der nicht das Individuelle der Schriftsteller, sondern das Gemeinsame der Zeit, der Mode herauszuarbeiten wäre: wieviel z. B. Mérimée auf der einen Seite mit Stendhal gemein hat, auf der andern mit Balzac; wie sich Balzac fremder Anregungen bemächtigt nach dem Molièreschen Rezepte »je prends mon bien où je le trouve«. Ein Kolportageschriftsteller wie Eugen Sue ist eigentlich nur ein Hintertreppen-Balzac; aber wirklich Hintertreppe ist schon bei Balzac selbst! Zola hinwiederum überträgt die Mystères de Paris ins Pseudo-moralisierende, die Hintertreppe ist lediglich weniger romantisch geworden, dafür etwas unappetitlicher. Die Thérèse Raquin andrerseits ist nichts als ein schwächerer Balzac, wie Flauberts Frau Bovary auch, wenigstens inhaltlich; geschrieben ist sie natürlich hundertmal besser. Dabei haben wir vom älteren Dumas noch kein Wort gesprochen, dessen Einfluß ungeheuer war. Man kann diese Zeit wirklich nur als ein Ganzes verstehen; es ist eine Ungerechtigkeit, daß Schriftsteller wie Sue und Dumas völlig ignoriert werden. Ich glaube, je genauer man die Zeit studiert und die Beziehungen hin und her, desto mehr wächst die Gestalt Balzacs heraus, der im Guten und Schlimmen die zentrale Erscheinung ist, sogar auf Kosten Flauberts.

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Eine große französische Musik gibt es nicht; nur eine Gesellschaftsmusik, Theatermusik, alles innerhalb seines Ranges erster Güte, wenn auch nie ersten Ranges. Natürlich gelten für andere Kunstgebiete andere Gegensätze als französische und italienische Schauspielkunst: im Drama die Griechen, Spanier, Engländer; im Roman die Spanier, Engländer, Russen; in der neueren Architektur die Italiener und die großen Deutschen der Barockzeit (was will ein Mansard, ein Perrault besagen gegenüber Lukas von Hildebrandt, Johann Balthasar Neumann, Dientzenhofer, Fischer von Erlach, Andreas Schlüter, Pöppelmann); in der Malerei die großen Venetianer, Spanier, Niederländer. Ich lasse absichtlich die deutsche Literatur aus dem Spiel: wo die ganz große deutsche Dichtung anfängt, hat die größte französische Literatur schon längst aufgehört; es sind zwei völlig getrennte Welten.

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Um den gähnenden Riß zwischen der aussterbenden Literatur des 18. Jahrhunderts und der frischen des 19. zu erklären, ist vielfach übersehen worden, daß eine ganze Generation Franzosen ohne Schulunterricht heranwächst. »Als Napoleon die Herrschaft antritt, hat seit 8 bis 9 Jahren jeder wirkliche Unterricht aufgehört, oder er ist in Privathände übergegangen: zurückgewanderte Geistliche, einzelne Klosterfrauen. Die öffentlichen Schulen des Jakobinertums existieren nur auf dem Papier. Statt der früheren 72 000 Mittelschulen zählt Frankreich nur noch 7–8000, von denen 6/7 an den Zentralanstalten keine geistige Ausbildung suchen, sondern sich für ein Handwerk vorbereiten. Die Sorge für den Volksschulunterricht ist den Ortsbehörden übertragen; sie haben kein Geld, darum werden neue Schulen nicht errichtet und die alten gehen ein« (Taine). Genau eine Generation nach Napoleons erstem Auftreten haben wir das Junge Frankreich: mil huit cent trente, époque fulgurante ...

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Schon Boileau nennt als besonderen Ruhmestitel der neueren französischen Literatur »ces poèmes en prose que nous appelons romans, et dont nous avons chez nous des modèles qu'on ne saurait trop estimer, à la morale près, qui y est fort vicieuse, et qui en rend la lecture dangereuse aux jeunes personnes.« Man könnte auch umgekehrt sagen »ces romans que, faute de poèmes, nous appelons poèmes en prose ...«

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Die schmale Basis der klassischen Literatur ist eine weitere Analogie von Französisch und Latein. Man hat von der klassischen Literatur der Römer stets das Gefühl, als sei sie eine Treibhauspflanze; eine reine Literaturbewegung, die in Rom gemacht wird und um die sich das übrige Italien wenig kümmert. Genau wie die französischen Straßen zur Zeit Ludwigs XIV.: im Bezirk Versailles, Saint-Denis, Saint-Germain, Marly usw. großartig unterhalten, sowie man darüber hinaus ist, grundlos. Ein unsichtbarer Cordon um die Hauptstadt und die Residenzstadt, der sehr eng begrenzt ist. Nur so versteht man das Gefühl, mit dem Frau von Grignon nach Südfrankreich ging, und das, aus welchem Frau von Sévigné ihrer Tochter schrieb.

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Es gibt im grand siècle einen Augenblick, wo ihm vor dem Medusenantlitz der bevorstehenden Aufklärung schaudert: vor dem Fanatismus der Flachheit, vor der Intoleranz der Unwissenheit. Es ist die berühmte, durch Perrault aufgerollte Querelle des Anciens et des Modernes, bei der zum erstenmale jene_bornierte Suffisance zum Ausdruck kommt, die im jeweiligen Zenit des Franzosentums den Gipfel aller erreichten und erreichbaren menschlichen Kultur erblickt.

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Die französische Romantik greift nicht zurück auf die volkstümlichen Reserven, sondern sucht ihre Ressourcen im Exotischen, womöglich im Grausigen oder Grotesken. Die Deutschen holen sogleich Dante, Tasso, Cervantes, südliche Volkslieder. Das alles interessiert die Franzosen gar nicht. Was sie suchen, ist die tragische Operette: Carmen, Colomba, Stendhals Chroniken, ein möglichst grelles fait divers wie in allen ausländischen Erzählungen von Balzac. Die Romantik der Schlegel, Novalis, Schelling sagt ihnen nichts: zu metaphysisch. Ebensowenig die der Arnim, Brentano, Görres, Eichendorff: zu unschuldig. Wohl aber Heine und Hoffmann.

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Gibt es eine fanatisch unduldsamere Literatur? Die Plejade ist intolerant gegen Morot und das ganze Mittelalter, Malherbe gegen die Plejade, Boileau gegen alles von Malherbe, die Romantik gegen den Klassizismus, der Realismus gegen die Romantik. Fortwährende Jagd nach der neuen Mode; die alte wird jeweils völlig preisgegeben. Vergleiche dagegen deutsche Romantik: wo beginnt, wo endet sie? Erst das Junge Deutschland bringt dieselbe Intoleranz in die Literatur. Warum? weil es nach Paris hinüberschielt.

Was der französischen Literatur, mehr als den anderen, abhanden gekommen ist, das ist die Unschuld des Hervorbringens. An Stelle künstlerischer Dumpfheit bewußter Wille. Hinter dem Werk steht das Programm einer Schule, das Manifest einer Richtung. Auch wo die These unausgesprochen bleibt, lauter Thesenromane, Thesendramen, sogar Thesenlyrik. Nichts kommt aus der wahrhaften Tiefe des Volks. Keine Reserven: weder sprachlich noch literarisch. Was fehlt, ist das Autochthone.

Das 18. Jahrhundert konnte noch fragen: Qui nous délivrera des Grecs et des Romains? Das 19., mit Brunetière, gibt zur Antwort: Nous sommes Latins foncièrement, éminemment Latins. Es ist zwar nicht wahr, aber – das ist der verzweifelte Hintergedanke –: irgendetwas müssen wir doch sein, also in Gottesnamen Lateiner! Außerdem ist es vornehm, Lateiner zu sein.

Von hier aus ist nur ein Schritt zu der kindlichen Geschichtsklitterung eines René Hubert: »Frankreich, England, Belgien sind römische Kolonien gewesen: das ist die alte lateinische Einheit.« Ein Satz, über den sich Vlaemen und Engländer mit Hubert unterhalten mögen, wenn sie mögen.

Voltaire, Henriade: die klassizistische Nachahmung einer Nachahmung, und das klassizistische Mißverständnis eines Mißverständnisses. – Commis voyageur; betriebsam; Literat; eine Vorform von Kotzebue; der Alles-Könner; so wie die Larmoyante eine Vorform von Iffland. – Der typische Franzose, so wie Goethe der typische Deutsche, (auch mit den Fehlern).

Moderne französische Malerei: Teilnahmslose genaue Darstellung der Sichtbarkeit. Immer nur das Augenfällige, das Flache, das Sichtbarste.

Im französischen Minnelied die Auffassung, daß Liebe und Ehe zwei getrennte Gebiete, meist feindliche Dinge. Der Mann heißt »der Eifersüchtige«, erst Wolfram von Eschenbach besingt in einem Minnelied die eheliche Liebe.

Toutes êtes, serez, fûtes
de fait ou de volonté putes;
qui très bien vous chercherait
putes toutes vous trouverait.

Jean Clopinet im »Roman de la Rose«.

Racine, Britannicus: er hat sein Stück so genau nach Tacitus gearbeitet, daß, sollte er die Stellen zusammensuchen, die er nachgeahmt hat, dieser Auszug fast so stark würde wie das Stück.

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Der große Dichter wählt sich seinen Stoff nicht; der Stoff wählt ihn. Nicht er arbeitet sein Werk; das Werk arbeitet ihn. Er hat keine Wahl. Er hat die Qual, bis er sein Werk aus sich losgelöst hat. Schiller ist literarischer als Goethe und Keller. Schiller steht in manchem Corneille nahe; Meyer Mérimée oder de Vigny. Schiller ist gerade noch rechtzeitig gestorben, um als »Klassiker« mitgehen zu können; man sehe sich den dramatischen Nachlaß daraufhin an! Die Stoffe erinnern eher an Kotzebue, Raupach, Laube, Brachvogel. – Werther ist Goethe, Weisungen ist Goethe, Wilhelm ist Goethe, Faust ist Goethe: wer, bei Schiller, ist Schiller?... Um zum Thema zurückzukehren: Wer, bei Corneille, ist Corneille? Wer bei Racine Racine? Wer bei Shakespeare hingegen Shakespeare? Und wer bei Molière Molière?


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