Josef Hofmiller
Franzosen
Josef Hofmiller

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MolièreIch empfehle die Biographie Molières von Max J. Wolff, der ich manche Einzelheit verdanke (München, Beck).

Am 10. Februar 1673 wird im Theater des Palais Royal »Der eingebildete Kranke« zum ersten Male gegeben, am 17. zum dritten Male wiederholt. Molière spielt todkrank die Titelrolle; fiebert, hustet Blut, spielt dennoch zu Ende; läßt sich nach Hause tragen, verlangt nach dem Priester, stirbt in den Armen zweier zufällig anwesender Ordensfrauen. Erst nach schwierigen Verhandlungen mit dem Pfarrer von Auteuil, dem von Saint-Eustache, dem König, dem Erzbischof wird der Verfasser des »Tartüff« kirchlich bestattet: »so jedoch, daß das Begräbnis ohne Pomp sei, in Begleitung von nur zwei Priestern, nicht während der Tagesstunden, namentlich ohne Totenamt, weder in Saint-Eustache noch anderswo, auch nicht in einer Klosterkirche ...« Dienstag, 21. Februar, abends 9 Uhr, wird Molière auf dem Friedhof Saint-Joseph beerdigt. Vier Geistliche tragen den Leichnam in einem Sarge, über den das Leichentuch der Tapezierergilde, des Handwerks seines Vaters, gebreitet ist. Sechs Waisenkinder tragen jedes eine Kerze in einem silbernen Leuchter. Lakaien halten brennende Fackeln. Der Leichnam wird zu Füßen des Kreuzes beerdigt, mit ein paar Handvoll geweihter Erde, was »auf besondere Bitten hin gestattet wurde«. Eine große Volksmenge wohnt dem Begräbnis bei; ihre Haltung ist fast drohend. Eine alte Überlieferung besagt, Molières Sarg sei gleich nach der nächtlichen Zeremonie aus der geweihten Erde herausgerissen und in eine Ecke des Friedhofs gebracht worden, zu den Selbstmördern und ungetauften Kindern. Sein Grab ist verschollen wie das Mozarts. Sein Grabmal auf dem Père-Lachaise ist etwa so echt wie der Sarg von Romeo und Julia in Verona, die Kinnlade im Cluny-Museum etwa so wie Mozarts Schädel in Salzburg.

*

Sein Name schon ist eine Maske: von Haus aus hieß er nicht Molière, sondern Poquelin. Molière nannte er sich erst, als er gegen den Willen seines Vaters zur Komödie durchbrannte. Er ist ein Pariser Kind. Man weiß nicht, wann er geboren; nur, wann er getauft ist: 15. Januar 1622. Von väterlicher wie mütterlicher Seite stammte er aus der Tapeziererzunft. Ein Zufall wollte, daß der geschnitzte Eckpfeiler seines väterlichen Hauses einen Orangenbaum darstellte, an dem Affen hinaufkletterten; als das »Eckhaus zu den Affen« war es im alten Paris bekannt. Als sich Molière später ein Wappen zulegte, erinnerte er sich des Heims seiner Kindheit: es zeigte zwei Affen, den einen mit einem Spiegel, den andern mit einer Maske. Wollte er mit dem Spiegel sein Verhältnis zur Umwelt darstellen, mit der Maske das zu sich selbst?

Er ist ein richtiger Parisien de Paris wie seine Nachfahren Voltaire und Beaumarchais. Seine Jugend im bürgerlichen Brennpunkte der volkreichen Stadt mag bunt und sorgenlos gewesen sein. Mit 14 Jahren schickt ihn sein Vater ins vornehme Jesuitengymnasium, das von Adeligen und Fürsten von Geblüt besucht wird. Man darf diesen Umstand nicht übersehen. Die Jesuitenschulen waren ausgezeichnet durch zwei Dinge: man bekam einen ordentlichen lateinischen Schulsack mit, lernte vor allem Latein durch glänzende Schulkomödien als lebende Sprache. Besonders wurde Terenz gepflegt; damit wuchs Molière auf in der Überlieferung der lateinischen Komödie. Aber es kommt ein Umstand hinzu, den ich bisher in keiner seiner Biographien erwähnt gefunden habe. Wenn wir uns nämlich den Schulweg vergegenwärtigen, den Molière viermal des Tages gehen mußte, vom elterlichen Hause bis aufs linke Seine-Ufer, kommen wir zum Pont-Neuf. Ein kleines zeitgenössisches Gedicht gibt uns einigermaßen eine Vorstellung von dem Jahrmarkttreiben, durch das der junge Molière viermal des Tags hindurch mußte. Ich versuche es zu übersetzen:

Stelldichein der Scharlatane,
Gauner, Bettler, Alchymisten,
Salbenhändler, Pflasterschmierer,
Kuppler, Würfler, Schwerterschlucker,
Puppenspieler, Taschendiebe,
Possenreißer, Zahnausbrecher,
Hehler, Dirnen, Astrologen,
Trödler, Abführmittelkrämer.

Ist dies nicht zum Teil dieselbe scheckige Welt, die uns in Molières späteren Possen begegnen wird?

Vorsichtshalber läßt Molières Vater den 15jährigen doch als künftigen Hoftapezierer und königlichen Kammerdiener vereidigen: er wollte ihm die bürgerlichen Aussichten nicht versperren. Aber es scheint, daß der junge Poquelin für einen bürgerlichen Beruf, bereits verdorben war. Etwas anderes tritt in den Gesichtskreis des 19jährigen: die Philosophie, in Gestalt des geistlichen Epikureers Pierre Gassendi.

Auch über diese Episode pflegt man flüchtig hinwegzugehen. Mit Unrecht. Zunächst ist es immer von Bedeutung, in welcher Gestalt ein 19jähriger mit Fragen der Weltanschauung bekannt wird. Wenn gar dieser 19jährige Molière heißt, und der Mann, in dem ihm die Philosophie leibhaftig entgegentritt, Gassendi, so gibt diese Begegnung den Ausschlag. Gassendi: das bedeutete die Luft des eben erwachenden europäischen Skeptizismus. Gassendi, »unter den Philologen der größte Philosoph, unter den Philosophen der größte Philologe«, wie ihn Bayle nicht ohne Bosheit nennt, das bedeutete das Erwachen einer naturwissenschaftlichen Weltansicht. Im Briefwechsel mit Descartes, Hobbes, Galilei, lehrte er in seinen Schriften die Atomentheorie unter der vorsichtigen Form ihrer absichtlich lahmen Bekämpfung. Als erster wagte er Epikurs Ehre zu retten, indem er an die Stelle seines mittelalterlichen Zerrbildes seine wirkliche Lehre setzte, wie sie der Römer Lukrez in den meisterlichen Versen seines unsterblichen Lehrgedichts »Über die Natur der Dinge« überliefert hatte.Deutsch von Knebel (Goethe soll den Freund dabei beraten haben). Gassendi weiß es auswendig, und der junge Molière übersetzt es: bezeichnenderweise den philosophischen Teil in Prosa, den dichterisch beschreibenden in Versen. Stellen daraus finden sich noch im »Menschenfeind«. Das Ganze hat weder Molière, noch nach Molières Tode der Verleger, der seinen Nachlaß erwarb, zu veröffentlichen gewagt. Gassendi: das bedeutete nach allem, was wir von ihm wissen, den schlagenden Witz der philosophischen Erörterung. Denn wenn er Descartes' berühmtem »Ich denke, also bin ich« gedruckt sein spöttisches »Ich gehe spazieren, also bin ich« entgegensetzte, so dürfen wir überzeugt sein, daß er sich mündlich noch wesentlich burschikoser ausgedrückt hat. Man verkehrt nicht ungestraft mit einem solchen Skeptiker. Bei ihm fand der junge Molière den Typus des freien Geistes, den Verächter von Wortschällen und Aberglauben, den Spötter über alles Schulwissen, den lächelnden Verkünder der Natur, und – die Maske: öffentlich hat Gassendi niemals seine letzten Überzeugungen ausgesprochen, wenn anders er solche besaß. Gassendis Jünger aber wählt die Maske als Beruf. Sie läßt ihn nie mehr los.

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Zunächst allerdings wird er Jurist, besteht ein Scheinexamen, wird zur Freude seines Vaters sogar Rechtsanwalt. Aber die Bühne lockt ihn übermächtig. Nicht der Beruf des Theaterdichters, sondern des Schauspielers: er will noch nicht Stücke schreiben; vorerst will er nur Rollen spielen. Nun konnte man wohl Dramen dichten, ohne deklassiert zu werden; auf der Bühne auftreten jedoch bedeutete den Verlust der bürgerlichen Unbescholtenheit. Von seinen inneren und äußeren Kämpfen wissen wir nichts. Mit 20 Jahren scheint er die um vier Jahre ältere Schauspielerin Madeleine Béjart kennengelernt zu haben. Denn schon am Dreikönigstage 1643 verzichtet er schriftlich auf die Hoftapeziererstelle und bestätigt den Empfang von 630 Livres, die wohl irgendwie mit ihrer gemeinsamen Theatergründung zusammenhängen. Sein erster Versuch mit einer Truppe in Paris schlägt fehl. Wir verlieren ihn aus den Augen. Dreizehn Jahre lang kugelt er mit Wandertruppen in den südlichen Provinzen herum. In diesen 13 Jahren wächst er in seinen dreifachen Beruf hinein: Schauspieler, Theaterdirektor, Schauspieldichter. Wann seine Erstlingswerke »Die Eifersucht des Beschmierten« und »Der fliegende Doktor« geschrieben sind, ist ungewiß. Aber von 1653 bis 1673 können wir seine Tätigkeit genau verfolgen:

Dreißig Stücke in zwanzig Jahren – das scheint nicht viel. Zunächst sind über die Hälfte davon kurze Possen, soundso viele Einakter. Sodann wiederholt sich Molière viel. Der »Liebeszwist« kehrt wieder als Episode, die Doktorsatiren wärmen immer wieder das alte Motiv auf, die »Preziösen« bilden den Kern der »Gelehrten Frauen«, das Hahnrei-Thema wird abgewandelt, bis es uns zum Hals hinauswächst, die beiden »Schulen« sind nichts als Vorderseite und Kehrseite der nämlichen Medaille, die beiden Stegreifstücke gehören zusammen, der »Don Juan« setzt das Motiv des »Tartüff« fort, der »Dandin« ist ein gesteigerter »Menschenfeind«, der »Bürgeredelmann« ein entgällter »Dandin« usw. Dreimal begegnet uns ein verliebtes junges Mädchen, das sich krank stellt; in fast all seinen leichteren Schwänken ein Liebhaber, der sich verkleidet; dreimal erwischt der Unrichtige die Prügel; siebenmal muß sich jemand auf der Bühne so stellen, als könne er jemand andern, der auch auf der Bühne ist, beim besten Willen nicht sehen; vierzehnmal muß sich jemand taub stellen. Nein, bei Molière darf man nicht, wie bei Shakespeare, wenn man ein Stück sieht, ans Gesamtwerk denken, sie sind untereinander zu ähnlich. Von seinen Liebhabern, jungen Mädchen, brummigen Vätern, verschmitzten Dienern, zungenfertigen Mägden, Pedanten, Doktoren gehen zwölfe aufs Dutzend. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß Molière an erster Stelle nicht Dichter war, sondern Schauspieler und Direktor einer Truppe, die in Paris, Versailles und anderwärts auftritt. Er bringt u. a. eine Anzahl von Tragödien Corneilles und Racines zuerst auf die Bühne. Bald darf die Truppe vor Ludwig XIV. spielen, der Molière anfangs nur als Darsteller und Sprecher – wir würden sagen conférencier –, bald auch als Verfasser lustiger Stücke schätzte und beschützte. Er ließ Molière mit 1000 Livres auf die Liste der Autoren setzen, die ein staatliches Jahrgeld empfingen. Beim Erstgeborenen des Dichters übernimmt der König sogar mit der Herzogin von Orleans, seiner Schwägerin, die Stelle des Taufpaten.

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Man teilt Molières Stücke in vier Gruppen: Ausstattungsstücke, Possen, Balletschwänke, literarische Komödien. Seine Gesammelten Werke hat er nie erscheinen lassen, so wenig wie Shakespeare. Einzeln ließ er sie drucken. Er hatte wohl literarischen Ehrgeiz; von seinen »Gelehrten Frauen« wird überliefert, mit ihnen habe er gehofft, in die Unsterblichkeit zu gelangen. Aber wer ihn einen Klassiker genannt hätte, dem hätte er vermutlich schön heimgeleuchtet. Jugendeindrücke, Wanderjahre, Temperament, Figur, Stimme, Haltung, alles scheint ihn zum komischen Darsteller zu prädestinieren. Seine lustigen Stücke schüttelt er nur so aus dem Ärmel. Vor lauter Possen kommt er kaum zu sich selber. Denn diese übermütigen Komödien sind Zugeständnisse der Not: er braucht Geld, für sich, seine Frau, seine Truppe. Seine Einnahmen waren beträchtlich – nach unserm Geld etwa 80 000 Mark im Jahr. Aber wie teuer sind sie erkauft! Wenn wir nach den bedeutendsten seiner Stücke urteilen dürfen, dem »Tartüff«, dem »Menschenfeind«, so schwebte ihm als dramatisches Ideal eine Form vor, die er nicht machen durfte, weil sie bei seinen auf säuberliche Trennung der Gattungen erpichten Zeitgenossen verpönt war: die Tragikomödie, das bürgerliche Drama. Aber ein Stück, das in bürgerlichen Kreisen spielte, durfte damals nie tragisch ausgehen. Darum sind Molières Stücke oft innerlich zwiespältig: mittendurch klafft ein Riß. Hundert Jahre später geboren, wäre er, nicht Diderot, der Schöpfer des bürgerlichen Trauerspiels geworden. War der Dichter Molière ein Pensieroso, der durch den Schauspieler Molière fortwährend gezwungen war, den Allegro zu mimen? Er wollte Tragödien schreiben, und er hat auch welche geschrieben, nur mit komischen oder zwangskomischen Schlüssen, und so von drastischer Komik überwuchert, daß ihr tragischer Kern so gut wie erstickt. Ihre letzte Tragik aber schöpft er aus dem Verborgensten seiner Existenz. Er leidet so tief daran, daß er es sich blutend aus der Seele reißt. Er stellt es auf die Bühne. Er muß. Er kann nicht anders.

Vierzigjährig heiratet Molière ein 19jähriges Mitglied seiner Truppe, Armande Béjart, die Schwester seiner ehemaligen Geliebten Madeleine. Die Ehe war vom ersten Augenblick an unglücklich. Molière war schwer nervös, reizbar, müde, ein verbrauchter Mann. Sie war egoistisch, herzlos, putz- und gefallsüchtig, treulos. Viele Stellen in seinen Komödien lesen sich wie Aufschreie, am schmerzlichsten im »Menschenfeind«, am ingrimmigsten im »George Dandin«. Die Ehe war nicht kinderlos; aber fast alle starben früh. Die Gatten lebten zeitweilig getrennt und sahen sich erst abends in der Garderobe und auf den Brettern. Es muß ein seltsam peinliches Schauspiel gewesen sein, wenn Molière den tief verstimmten Menschenfeind Alceste spielte und Armande seine kokette Geliebte. Kein Dramatiker vor Molière hat sich selbst so auf die Bühne gebracht. Darum ist auch keiner vor ihm von seinen Gegnern so auf die Bretter gezogen worden. Eine Reihe Stücke der Art von ihm und über ihn sind uns erhalten. Er ist auch der erste Held eines Künstlerdramas: sein italienischer Nachfolger und Vollender Goldoni hat ein Versdrama Il Molière geschrieben.

Als Bühnenmann schildert er sich selbst im »Stegreifspiel von Versailles«. Demnach muß er ein glänzender Regisseur gewesen sein, für den es keine Kleinigkeit gab; er sieht alles, hört alles, bestimmt jeden Ton, jede Gebärde, jede Stellung, lobt, tadelt, treibt heraus, dämpft, spielt auf seinen Mitwirkenden wie auf einem kleinen Orchester. Damit ist er der Ahnherr der französischen Regie, deren Exaktheit heute noch unübertroffen ist. Nicht minder hervorragend war er als Darsteller. Sogar sein alter Gegner de Visé rühmt ihn: »Er war Schauspieler vom Scheitel bis zur Sohle. Sein ganzer Körper schien zu sprechen. Mit einem Schritt, einem Lächeln, einem Augenzwinkern, einer Wendung des Kopfs sagte er mehr, als die größten Redner in Stunden.«

Von Anfang an galt er in Paris als der Hecht im Karpfenteich. Man lachte über ihn, lief in die ersten Aufführungen seiner Stücke, aber beliebt, so wie der italienische Musiker Lulli, mit dem er kneipte und sich später überwarf, oder wie sein italienischer Meister als Improvisator, Scaramouche, richtig beliebt war er nicht. Eher gefürchtet.

Der Spitzname, den man ihm wegen der Ähnlichkeit seiner Gestalten mit ihren lebenden Modellen beilegte, war »Der Maler«. In einem Pamphlet, das gegen ihn gerichtet war, finden wir diese Schilderung von ihm: »Elomire (Anagramm von Molière) sprach kein Wort. Ich fand ihn auf den Ladentisch gestützt in tiefer Versunkenheit. Seine Augen waren fest auf drei oder vier Personen von Stande geheftet. Gespannt folgte er ihrer Unterhaltung, und nach dem Ausdrucke seines Blicks schaute er ihnen bis auf den Grund der Seele, ihre unausgesprochenen Gedanken dort zu lesen. Wenn er sie nicht gezeichnet hat, so hat er sie seiner Erinnerung eingeprägt, des bin ich sicher. Es ist ein gefährlicher Mensch. Wie es Leute gibt, die auch in Gesellschaft ihre Hände spielen lassen, hören seine Augen nicht auf zu beobachten.«

Man darf nicht vergessen: von den »Lächerlichen Preziösen« an war er in den Augen seiner Zeitgenossen ein Tendenzautor. Er ist von Haus aus eine Kampfnatur, und sein Metier treibt ihn erst recht dazu. Durch die Komödie die Sitten zu verbessern: das ist seine Fiktion. In Wirklichkeit ermöglicht ihm nur die angebliche Geißelung von Mißständen sein Komödiespielen. Wie ein satirisches Witzblatt lebt er von den Torheiten seiner Gegner. Seine Waffen sind derb, aber sie sind gefürchtet. Den König amüsieren die Eselstritte, die er den Marquis, und die Hiebe, die er den Heuchlern erteilt. Aber der Tag kommt, an dem der König Molière nicht mehr decken kann: es ist der Tag des »Tartüff«. Jetzt hacken alle seine Feinde auf ihn ein. Jetzt beginnt das Kesseltreiben.

Wen hatte sich Molière nicht alles zum Feind' gemacht! Die Konkurrenztruppe des Hotel de Bourgogne, die ganze Meute der weniger erfolgreichen Bühnenschriftsteller, das Palais Rambouillet und seinen Anhang, die lächerlichen Preziösen, die Marquis, die Jansenisten, die frömmelnde »Cabale«, eine weitverzweigte, fanatische geheime Gesellschaft unter religiösem Deckmantel (mit den Jesuiten hingegen stand er sich gut, wie auch der Kardinal Chigi sich von ihm den verbotenen »Tartüff« vorlesen ließ), seit »Tartüff« und »Don Juan« die Geistlichkeit insgesamt, wie wir zugeben müssen, nicht ohne Grund: denn Molières Satire traf nicht nur die Heuchelei, sondern die Gläubigkeit. Er verteilte Rabenschwarz und Schneeweiß so parteiisch, daß er den Anschein erwecken mußte, als greife er die Religion selbst an. Das tut er nicht nur im »Tartüff«, sondern auch in dem unmittelbar auf ihn folgenden »Don Juan«, von welchem Stücke man mit Recht sagt, es sei lautlos erwürgt worden. Es ist ein reiner Zufall, daß ein holländischer Nachdruck und ein paar nichtzensierte Exemplare der ersten Gesamtausgabe von 1682 auf uns gekommen sind; sonst hätten wir heut noch keine Ahnung, wie der »Don Juan« wirklich ausgesehen hat.

Freilich darf an dieser Stelle eine Bemerkung nicht unterdrückt werden: der stärkste Einwand gegen Molière heißt Mozart. Mozarts »Don Giovanni« hat alle Don-Juan-Dramen unter den Tisch gewischt, auch alle nach ihm geschriebenen, auch das Stück von Bernhard Shaw.Man lese den Text des Don Giovanni im Klavierauszug italienisch, nicht deutsch, dann sieht man erst, daß ihm Mozarts Musik sitzt wie angegossen. Z. B. die Komturszene: Don Giovanni, mi chiamasti cenar teco, son venuto; oder das dreimalige: Pentiti! – No! – oder die Arie Ogni giorno in bui loco palpitar il cuor mi sento. (Dasselbe gilt übrigens vom Figaro.) Was vom europäischen Lustspiel des 17., 18. Jahrhunderts ist heute außerhalb seines Ursprungslandes noch lebendig? Eigentlich doch nur Shakespeare: »Sommernachtstraum«, »Viel Lärm um nichts«, »Was ihr wollt«, »Kaufmann von Venedig«, »Wintermärchen«, »Sturm«. Warum? Weil diese Stücke durchtränkt sind von Lyrik, von immanenter Musik. »Der einzige große englische Musiker heißt Shakespeare«: ein ebenso kühnes wie richtiges Paradoxon. Bei Beaumarchais und Goldoni kann die Musik dazukommen: das Ergebnis ist Mozart, ist Rossini, ist Wolf-Ferrari. Bei Molière ist dies unmöglich. Etwas in seinem Wesen sträubt sich gegen die Musik. Eine geheime Feindschaft gegen sie ist in seinen Werken zu spüren. Darum konnte auch die Musik sie nicht retten. Mir ist nicht ein einziger Versuch bekannt, Molière in Musik zu setzen, der geglückt wäre. Auch Richard Straußens Musik zum »Bürgeredelmann« hat sich nicht halten können.

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Ein Haupteinwand ist wohl dieser: der Geizhals, der Heuchler, der Krankheitshypochonder sind für uns keine komischen Figuren mehr; noch weniger die Blaustrümpfe, die Emanzipierten. Molières Drama hat nichts gemein mit unserer Vergangenheit. Nichts mit unserer Gegenwart. Es ist historisch. Mit anderen Worten: es ist für uns als Drama tot. Darüber täuscht keine Ausgrabung, keine Galvanisierung hinweg. Nur die kleinen Possen wirken, aber nur, wenn sie ganz gut gespielt werden. In den Holzbläsern von Leporellos Registerarie steckt mehr Witz als im ganzen »Don Juan« von Molière.

Hingegen überrascht im »Don Juan« eine Vorahnung des Schlimmsten des 18. Jahrhunderts, die man kaum anders nennen kann als Verruchtheit. Im »Don Juan« steckt schon die sadistische Grausamkeit von Choderlos de Laclos' »Gefährlichen Verhältnissen«, die ihre Befriedigung nicht in der eigenen Lust findet, sondern in der Zerstörung des Opfers: »Die höchste Wonne finde ich darin, das Herz einer jungen Schönen durch zahllose Huldigungen zu gewinnen, täglich zu beobachten, wie ich dem Ziel immer näher komme, mit glühender Leidenschaft, mit Tränen und Seufzern die unschuldige Scheu einer Seele zu bekämpfen, die nur widerstrebend sich ergibt, Schritt für Schritt alle Gewissensskrupel zu besiegen, alle kleinen Hindernisse zu überwinden, bis wir sie endlich sachte dahin gebracht haben, wo wir sie haben wollen.« »Hat man sie einmal besessen, dann ist es aus und vorbei, und es bleibt nichts mehr zu wünschen übrig.« »Ich konnte es nicht ertragen, diese Liebenden so glücklich zu sehen: der Unmut entzündete meine Leidenschaft, ich stellte mir's als den Gipfel aller Lust vor, ihr herzliches Verhältnis zu stören und ihre Neigung zu zerreißen, durch die sich mein empfindliches Herz verletzt fühlte.« Die letzte Auflösung aller sittlichen Bindungen der Ehe vollends bedeutet der »Amphitryo«: er ist eine Vorwegnahme des frivolsten Offenbach. Und dennoch, ist nicht auch diese Komödie des gehörnten Gatten, aller Anmut des Verses zum Trotz, innerlich recht bitter? Unterscheidet sie sich durch etwas anderes als das Kleid des Verses und die mythologische Maske von der galligsten seiner Komödien, von »George Dandin»? Denn nicht der Bürgerliche wird vom Marquis gehörnt, nein, der Sterbliche vom Gott als Doppelgänger. Hier gewinnt Molière mit gefälschten Würfeln. Die Parteilichkeit ist so schauerlich, alle Situationen von Anfang an so grausam beschissen, der gewaltskomische Einfall des Doppelgängers wird so totgehetzt, daß keine Heiterkeit aufkommt. Besonders die jungvermählte Alkmene ist zu rührend anständig, als daß Jupiters Metamorphose in ihren Gatten anders als infam wirken könnte, besonders gerade der spitzfindigen Kasuistik wegen, mit der Molière dem Gott – in Wirklichkeit heißt er nicht Jupiter, sondern Ludwig XIV. – einen schäbigen Rest von Anstand retten möchte.

Doch wir haben vorgegriffen. Der »Tartüff« wird vom Pariser Erzbischof mit dem Interdikt belegt. Jede Vorstellung, gleichviel, ob öffentlich oder vor geladenen Zuschauern in geschlossenem Kreise, selbst die Lektüre ist verboten. Erst nach fünf Jahren, am 5. Februar 1669, konnte die öffentliche Premiere stattfinden. Der Kassenbericht lautete 2860 Livres – eine für die Zeit fabelhafte Einnahme. Das Stück wurde 28mal hintereinander gegeben. Molière hatte einen Pyrrhussieg errungen, den er bei seinem Tode büßen mußte.

Seine letzten Jahre sind düster, aber die Komik seiner letzten Stücke wird immer knalliger. In ihnen kehrt er zu seinem Ausgangspunkt zurück und schreibt ungeheure Possen. Seine letzten Opfer sind die Ärzte, und der Kulminationspunkt seiner Satire die Doktorpromotion des »Eingebildeten Kranken« mit ihrem feierlichen Aufzuge von 8 Klistierspritzenträgern, 6 Apothekern, 22 Doktoren, 10 tanzenden und singenden Chirurgen, mit ihrem tollen Küchenlatein, ihrer wilden Verhöhnung der ärztlichen Kunst, die für alle Krankheiten, innere, chirurgische, körperliche, geistige, nur drei unfehlbare Mittel kennt: Aderlaß, Abführmittel, Klistier.

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»So gehört er notwendig in die Geschichte der Poesie; in der Geschichte des Theaters tritt er nur zufällig auf.« Dreht man diesen Satz Goethes über Shakespeare um, so gibt er die Formel für Molière.

Was in ihm vollendet, klassisch wird, ist nichts Dichterisches. Seinem guten Schulsack zum Trotz kommt er überhaupt nicht von der Literatur her zum Stückeschreiben, sondern vom fahrenden Komödiantentum, wie es Scarron im »Schauspielerroman« malt und noch Goethe im »Ur-Meister«. Seine Genialität ist die des unsterblichen Mimen. Seine nächsten Verwandten (F. Vischer war so frei es auszusprechen): Raimund und Nestroy. Man hat ihn mit Shakespeare verglichen, weil auch er zugleich Schauspieler, Theaterunternehmer und Dramatiker war. Der Vergleich ist ein Unrecht gegen den Dichter Shakespeare wie gegen den Schauspieler Molière. Shakespeare ist erstens Dichter, zweitens Dichter, zehntens, hundertstens immer wieder Dichter. Nebenbei ein recht mäßig begabter Darsteller in Nebenrollen. Er beginnt als Komödiant und endet in einer dichterischen Sphäre, die nahe an Beethovens letzte Quartette rührt. Molière ist Mime, erstens, zweitens, hundertstens Mime; Gebärde, Bewegung, Gesicht, Körperausdruck bis ins Sprachliche hinein. Seine genialsten Szenen bestreitet er mit einem Minimum von Dialog, wie er selbst nicht nur einmal vorschreibt. Im Anfang war das Wort: das ist Shakespeare. Im Anfang war die Gebärde: das ist Molière. Seine berühmtesten geflügelten Worte (»Du hast's so wollen, George Dandin!« – »Herr Josse, Sie sind Goldschmied!« – »Ohne Mitgift!« – »Was, zum Teufel, hatte er auf dieser Galeere zu suchen?« – »Und Tartüff?«) lauter artikulierte Gebärden. Man könnte sich den großen Monolog des Geizhalses gespielt denken ohne Worte, nur, wie er auf der Bühne ratlos im Zickzack hin und her läuft, in allen Ecken und Winkeln sucht, verzweifelt die Hände ringt, am Boden kriecht, an die Rampe eilt, auf die Zuschauer deutet: wäre die Wirkung geringer? Sie wäre vielleicht gespenstiger.

Er will die Wirkung, nichts als die Wirkung, bis in seine wesentlich zahmeren Versstücke hinein (ausgenommen den ›Menschenfeind‹). Die Wirkung, bei Shakespeare ein Reflex des Dichterischen, wird bei Molière Hauptsache. Man rechne zusammen, wie oft seine gereimten Repliken zu einem Schwelgen in Retourchaisen werden. Seine längsten Dialoge haben mit der Handlung gar nichts zu tun; höchstens mit der These. Was er unübertrefflich auf die Spitze treibt, ist die Situation. Aber wenn die Situation in Konflikt käme mit der Wahrscheinlichkeit, mit dem Charakter, so müssen Charakter und Wahrscheinlichkeit nachgeben. Philaminte (in »Gelehrte Frauen«) muß plötzlich auf den Mund gefallen sein, damit ihre Köchin einen Trumpf nach dem andern ausspielen kann. Madame Pernelle (in ›Tartüff‹) hat mit ihrem Sohn ein Duett, dessen Drastik so stark ist, daß sie die Grenze des Möglichen überschreitet; plötzlich wird die zungenfertige alte Dame mit Stummheit geschlagen, weil Molière schon wieder eine neue Situation ausbeutet: Szene zwischen Herrn Loyal und Orgon.

Die Szene wird Selbstzweck: es wird eine Szene gemacht, damit eine Szene gemacht wird. Man hört jedesmal deutlich, wenn eine neue Platte eingelegt wird. An sich ist Molière arm an Handlung. Er braucht seine komischen Szenen: um das , Stück zu füllen. Seine Einfälle sind oft an den Haaren herbeigezogen; aber was er daraus macht, ist überwältigend. Das bißchen Handlung ist der komischen Wirkung oft nur im Weg; jedenfalls erwächst die Wirkung nicht aus der Handlung. Die Handlungsszenen sind oft nur hingeworfen. Die Situationskomik ist meist sorgfältig ausgeführt.

Seine Komödien sind sozusagen Operntextbücher ohne Musik mit brillanten Wortgeplänkeln bis zu ausgemachten Zankduetten. Beispiel: Harpagon und seine Tochter (Geizhals, 1. Akt: Knixduett zwischen komischem Alten und munterer Liebhaberin. Oder das köstliche Terzett Harpagon, Diener, Cleante: Baßbuffo, Bariton, lyrischer Tenor. Unmittelbar darauf Duett, erster Teil Dur, Allegro; zweiter Teil Moll, Prestissimo zwischen dem Geizigen und seinem Sohn: hier ist die Komik ausgeschaltet. Warum? Weil Molière als Theatermann viel zu erfahren ist, eine komische Szene durch eine unmittelbar folgende komische Szene totzuschlagen: das Publikum hat sich halbkrank gelacht, es braucht eine Pause, während der es ausschnaufen kann (und während deren, nebenbei, die Handlung weiterrückt); minutenlang nicht lachen zu müssen, ist eine Wohltat, ein physisches Bedürfnis, wenn man minutenlang nicht aus dem Lachen herausgekommen ist. Man studiere daraufhin Molières Komödien: in diesem Punkt kann man nur von ihm lernen. Ins Musikalische übersetzt: das Sekkorezitativ der alten Oper. Oder man sehe, wie er aus dem großartigen Terzett Purgon, Argan, Toinette (Baß, Bariton, Soubrette) den Urheber des Zwischenfalls, Beralde, einfach wegläßt, obwohl er, völlig zwecklos, auf der Bühne steht. Warum? Beralde ist keine komische Figur, Molière kann ihn jetzt nicht brauchen. Selbst seine technisch besten Stücke, auch die in Versen, bestehen aus stärksten einzelnen Nummern, verbunden durch die Dialoge, die verhältnismäßig uninteressant sind (während derer jedoch die Handlung weiterrückt). Er schafft Situationen, preßt sie aus wie Zitronen, dann wirft er sie weg: »Das hätten wir soweit!« oder »Kommen wir zur Sache!« oder »Kein Wort mehr hiervon!« oder »Lassen wir das!« oder einfach »Übrigens...« Eine solche Wendung bedeutet immer: Ach so, ich muß wohl oder übel die Handlung weiterführen, weil nur dann eine neue komische Situation möglich ist.

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Molières einzigartige Größe ist seine strotzende Genialität als Schauspieler. Wie er's in der Vorrede zu dem reizenden »Amor als Arzt« sagt, schreibt er nur für Leute, die auch beim Lesen das lebendige Spiel der Bühne sehen.

»Comtesse d'Escarbagnas.« Situation: jede will der andern den Vortritt lassen: »Madame! ¦– Madame! – Ah, Madame! Ah, Madame! – Mein Gott, Madame! – Mein Gott, Madame – Oh, Madame! – Oh, Madame! – He, Madame! – He, Madame! – He, wird's bald, Madame! – He, wird's bald Madame!« – Das ist Molière!

Die Vollendung dieser Szene steht wiederum bei Mozart, Figaro I. Akt: »Nur vorwärts, ich bitte, Sie Muster von SchönheitDas Duett zwischen Marcelline und Susanne ist wiederum im italienischen Wortlaut viel schlagender: Via, resti servita, madama brillante! – Non sono si ardita, madama piccante!«

»Bürger als Edelmann« I,2: »Man reiche mir meinen neuen Schlafrock, damit ich besser höre!... Wartet, ich glaube, es geht besser ohne Schlafrock! Nein, gebt ihn wieder her: so geht's besser!« – Das ist Molière!

»Eingebildeter Kranker«: »Nein! – Ja! – Nein! – Nein? – Nein!« – Das ist Molière!

Oder, ebenda: wie Argan der Toinette nachläuft, die ihm Stühle in den Weg stellt. Oder wie Toinette tut, als spräche sie, während sie nur die Lippen bewegt. Oder wenn Argan und sein Hausarzt fast gleichzeitig sprechen (man denkt an Cornelius' »Barbier von Bagdad«: »Wenn zum Gebet der Muezzin...«).

Szenische Vorschrift aus »Der eifersüchtige Barbouillé«: »Der geschwätzige Doktor läßt niemanden zu Wort kommen, alle auf der Bühne werden rebellisch, alle sprechen gleichzeitig. Barbouillé packt ihn beim Bein, bringt ihn zu Fall. Der Doktor fällt auf den Rücken, Barbouillé macht ihm mit einem Strick geschwind eine Schlinge ums Bein, schleift ihn durchs Zimmer, der Doktor spricht unaufhörlich weiter und zählt seine Gründe an seinen Fingern her. Barbouillé und Doktor ab.« Das ist einer der tollen Auftritte, wie sie Molière schon als Anfänger hinwirft und die er in seinen spätesten Werken nicht viel anders macht.

In derselben Posse: Barbouillé: »Soll mich der Teufel holen, wenn ich aus dem Hause gegangen bin. Die Herren da unten im Parterre können's bezeugen, nicht wahr?« Wer je in Italien bei einer Aufführung des »Othello« von Shakespeare erlebt hat, wie der Darsteller des Jago bei seinem großen Monolog plötzlich ganz vorn an die Rampe tritt und so die Zuschauer zu Mitwissenden seines verbrecherischen Planes macht, der weiß, von welch geradezu wilder Wirkung dieses Einreißen der imaginären Wand zwischen Darsteller und Zuschauer sein kann.

Gelegentlich, wie im »Fliegenden Arzt«, gibt sich Molière überhaupt nicht die Mühe, einen Dialog hinzusetzen, sondern schreibt dem Schauspieler einfach vor, irgendeinen Unsinn (galimatias) zu schwatzen. Oder er bringt an denkbar unpassender Stelle das berühmte Zitat aus Corneilles »Cid«: »Rodrigo, hast du Mut?«, um fortzufahren: »Signor si, signor no, per omnia saecula saeculorum.«

Oder, im selben Stück: Sganarelle geht hinaus, kommt augenblicklich als Arzt verkleidet wieder herein, ganz kurzer Dialog, Sganarelle ab, tritt sofort als Diener wieder auf. In der nächsten Szene springt er zum Fenster hinaus. Gorgibus tritt zur Tür ein, Sganarelle wieder durchs Fenster. Gorgibus ab (durch die Tür), Sganarelle gleichzeitig ab (durchs Fenster). Sganarelle küßt seinen angeblichen Bruder, d. h. seinen Doktorhut, den er mit dem Ellenbogen in die Höhe hält, verläßt das Haus als Arzt, läßt sein Doktorkleid zurück, Gorgibus merkt endlich den Schwindel, Sganarelle als Diener verteidigt sich zungenfertig, das Liebespaar tritt auf, Verzeihung, Segen, Vorhang. Das alles ist nicht Drama, aber es ist Theater, unsterbliches Theater, das unsterblichste von allen: Kasperltheater.

Dies Kasperltheater reicht hinein in berühmte Stücke, die heute noch gespielt werden. In seiner Einleitung zu den »Lächerlichen Preziösen« meint Faguet: »Der Einfall, daß die Preziösen zwei Lakaien für zwei vornehme Liebhaber halten, ist ein wenig pueril, und der Einfall, daß es ihre verschmähten Liebhaber sind, von denen sie auf diese Weise gestraft werden, ist ein wenig grausam. Molière hat gelegentlich etwas Brutales, auch in anderen Werken, das hängt zusammen mit den Sitten der Zeit, die nur an der Oberfläche elegant waren.« Aber man darf Molières Einfälle nie unter die Lupe nehmen. Es sind die Einfälle nicht eines Autors, sondern eines Aktors. Noch heute verträgt keine wirklich gute französische Posse, daß man ihre Motive kritisch nachprüfe. Sie stehen und fallen mit dem Tempo, mit dem Temperament, mit dem man sie spielt. »Die lächerlichen Preziösen« sind von Haus aus unmöglich, weil die zwei Lakaien in Wirklichkeit niemals soviel Geist, Gewandtheit, Überlegenheit hätten, ihre Rolle witzig durchzuführen. Im Punkte Einfall muß man dem Bühnendichter immer einiges vorgeben. Erst was er aus dem Einfall macht, darauf kommt es an. »Eine Rede ist keine Schreibe«, pflegte F. Th. Vischer zu sagen. Ebensowenig ist ein Theaterstück Literatur. »Oper ist Oper und keine Kammermusik«, betont der grundgescheite Verdi immer wieder. Darum wirkt selbst Shakespeare beim Lesen oft weniger, auf der Bühne gewaltig. Darum fallen die Konzertarien bei Schiller fast regelmäßig unter den Tisch. Darum darf man nie vergessen: Molière ist erstens Theater, zweitens Theater, drittens, viertens, fünftens immer wieder Theater, nicht Literatur, um Himmels willen kein Lesedrama.

Niemand weiß das besser als Molière selbst. Gerade in der Vorrede zu den »Lächerlichen Preziösen« spricht er's offen aus: »Das ist eine kuriose Geschichte, wenn man die Leute druckt wider ihren Willen. Ich wüßte nichts Ungerechteres, und verzeihe jede andere Eigenmächtigkeit eher als die. Nicht, daß ich hier den bescheidenen Autor mimen wollte. Das wär' eine schöne Sottise für ganz Paris, wollt' ich's so hinstellen, als hätt' es einer Sottise zugejubelt. Nachdem das Publikum über derlei Werke die höchste kritische Instanz ist, wär' es unverschämt von mir, seine Meinung nicht zu teilen. Und hätt' ich meine »Preziösen« vor der Aufführung für noch so spottschlecht gehalten, – jetzt, wo so viel Leute einmütig sagen, sie seien gut, bleibt mir nichts übrig, als mich ihrem Urteil anzuschließen. Aber da ein großer Teil ihrer Reize nur herauskommt, wenn das Spiel der Darsteller dazutritt, Gebärde, Ton der Stimme, lag mir viel daran, daß sie nicht ohne diesen Schmuck sich kahl und bloß zeigten, und ich fand, ihr Erfolg bei der Aufführung sei so groß, daß es am klügsten wäre, es dabei bewenden zu lassen. Ich wollte nicht, daß sie den gefährlichen Sprung machten von der Rampe des Theaters in die Auslagen der Buchhändler. Aber nachdem das Unglück nun einmal geschehen ist, muß ich wohl gute Miene zum bösen Druck machen.«

Für seine unglaublich witzigen Einfälle schenken wir ihm nicht nur seine schlechten Verse, sondern selbst seine guten. Der aus der Situation hervorspringende glänzende Einfall; die aus dem drolligsten Einfall mühelos entstehende, genial aufgequirlte Situation: das ist Molière, das ist nur Molière. Wüßten wir ohne ihn, wie genial man Komödie spielen kann, wie genial man Komödie gespielt hat?

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Aber dieser ungeheure Komödiant, an dem jedes Glied juckt, jede Ader lebt, hat eine unglückliche Liebe im Herzen: zur großen, zur literarischen Literatur, im heimlichsten Herzenswinkel zur Tragödie. Er hat auch eine Tragödie geschrieben, die durchfiel und deren beste Melodien (musikalisch gesprochen) er im »Menschenfeind« wieder verwendet. Er hat über Wert und Schwierigkeit von Tragödie und Komödie Urteile geäußert, die an die Philosophie von den sauren Trauben erinnern. Wenn er literarisch wird, zieht er sozusagen Handschuhe an und schreibt Alexandriner. Oft glänzende, oft recht mäßige, oft ganz schwache; voll Unklarheiten, Längen, Wiederholungen; schleppendes Herumgerede. (Manchmal erinnern seine Reime an die des älteren Wiener Couplets.) Das ist dann der Molière, den sein Freund Boileau schätzt, überschätzt. Den Prosa-Molière mag Boileau nicht; er kapiert ihn nicht, sieht nicht seine künstlerische Überlegenheit, versetzt ihm sogar gelegentlich einen Hieb, weil der Prosa-Molière nicht in die Salonkonversation paßt, die Boileau unter literarischem Lustspiel versteht und als guten Geschmack fordert und fördert. Molière aber läßt sich nicht irre machen. In den Prosastücken, die er nur so hinwirft, steht keine tote Stelle, keine Unklarheit, keine abschwächende Wiederholung. Da sitzt jede Replik, ein Einfall jagt den andern, jeder wird ausgequetscht, solang er eine komische Wirkung hergibt, weggeworfen: Ruck, Handlung, dann ein neuer Einfall von erstaunlicher schauspielerischer Genialität, die Situation wird wiederum ausgekostet bis zur Neige, bis sie Gefahr läuft, schal zu werden; Ruck, Handlung (immer seriös, wie bereits bemerkt) bis zum Schluß, der meist, übereilt ist und an den Haaren herbeigezogen. Seine Schlüsse sind fast immer Verlegenheitsschlüsse, auch die der berühmtesten Stücke. Ein totgeglaubter Vater muß plötzlich aus der Versenkung auftauchen («Schule der Frauen«). Ein älterer Mann wird durch Prügel gezwungen, ein junges Mädchen zu heiraten (»Die erzwungene Heirat«). Tartüff verwandelt sich ohne andern Grund, als weil sonst das Stück nicht zu Ende gebracht werden kann, in einen von der Polizei seit langem gesuchten Verbrecher, nachdem schon der Zwischenfall mit der Kassette und den belastenden Dokumenten hereinkam wie der Pontius ins Credo (»Tartüff«). Anselme taucht aus der Versenkung empor und zerhaut den Knoten, den der Dichter nicht lösen kann (›Der Geizige‹). ›George Dandin‹ endet mit einem grellen Mißton: der verprügelte arme Kerl, von seinem Weibe betrogen, leistet auf den Knien Abbitte! Nicht minder grell ist der Schluß des ›Scapin‹: der Diener prügelt ohne Grund seinen alten Herrn im Sack, dessen Sohn erlaubt es ja! Beim ›Bürgeredelmann‹ und beim ›Eingebildeten Kranken‹ fehlt sozusagen der letzte Akt: Molière entläßt oft den Zuschauer mit einer Scheinlösung. Schlüsse interessieren ihn nicht: Schlüsse sind keine komischen Situationen. Darum behandelt er sie stiefmütterlich. Oder aber, er macht tatsächlich aus dem Schluß eine Situation, ein groteskes Ballett, und dann ist er überwältigend komisch, »enorm«, wie Flaubert sagen würde, hart an Rabelais.

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Hart an Rabelais. Damit kommen wir zu einem Hauptpunkt. Wenn nämlich Molière immer der Schöpfer der französischen Komödie genannt wird, so ist das nur teilweise richtig. Technisch einmal ganz gewiß nicht. Molière steht an der Scheide zweier Welten. Er ist zugleich ein Anfang und ein Ende; altertümlich und modern. In ihm steckt noch etwas vom spätmittelalterlichen Advokaten Pathelin und schon etwas von Beaumarchais. »Was haben Sie denn in der Welt geleistet, um ein Edelmann zu sein? Glauben Sie, es genüge, einen Namen und ein Wappen zu führen, und es sei ein Ruhm, von edlem Blute zu stammen, wenn man dabei als Halunke lebt?« Es vergehen über 100 Jahre, bis man von der Bühne wieder diesen Ton hört: im Monolog des Figaro von Beaumarchais. Und das andere unsterbliche Lustspiel von Beaumarchais, ›Der Barbier von Sevilla‹, entbehrte seine reizendste Szene, die Liebeserklärung in Gegenwart des argwöhnischen Alten, ohne Molières ›Sizilianer‹ oder ›Amor als Maler‹.

Das ›weinerliche Drama‹ entsteht ein Jahrhundert nach Molière; aber wird es durch den Schmerzensausbruch über Argans vermeintlichen Tod (›Der eingebildete Kranke‹, III, 20) nicht schon im Keim vorweggenommen? Die letzten Ausläufer der Molièrischen Posse aber –: sind es nicht die reizenden kleinen Puppenkomödien des Grafen Pocci? Gibt es etwas, das dem »Bürgeredelmann« oder dem »Sizilianer« näherstünde als »Kasperl in der Türkei«? Es wären denn die Papageno-Szenen der »Zauberflöte«? Er kann manchmal fast so derb sein wie Rabelais, aber gelegentlich wird seine Komik substanzlos und abstrakt wie die »Charaktere« Labruyères. Er scheint manchmal unpersönlich, bis zur Identität mit seinem Publikum, einem nicht übermäßig geschmackvollen Publikum. Im »Menschenfeind« leidend, anklagend, beichtend, eine Vorform Rousseaus (auch bereits der Mißbrauch des Wortes »Tugend« wie bei dem Genfer Tugendprotzen). Ein unbekümmerter Possenimprovisator, der letzte literarisch festgehaltene Vertreter der Stegreifkomödie (Commedia dell' Arte); ein Dramatiker mit literarischem Ehrgeiz, der die Literatursatire Boileaus auf die Bühne verpflanzt. In der Prosakomödie oft hart am Hanswurst: Prügel, Verkleidungen, Maskerade. Im »Menschenfeind« hart am Ibsen der »Liebeskomödie« und des »Volksfeinds«. Die einzelnen Stücke aus verschiedenen, oft widerspenstigen Metallen gelötet: Dröhnende Posse neben seelischer Kleinmalerei, lärmendes Kulissenreißen neben ernstem Drama, salzlose Grobheit neben spielender Anmut. Man zerlege den »Geizhals« in seine Bestandteile: Charakterkomödie, Liebesintrige, Wiedererkennungshandlung, reine Posse (man versuche, nebenbei, den »Kaufmann von Venedig« in Bestandteile zu zerlegen: es geht nicht, weil die Dichtung aus einem Guß und Fluß ist). Die moderne Komödie, die erst Beaumarchais schafft, steigt an in Form einer Kurve; diejenige Molières in Form einer Treppe. Wie im Schach nach jedem Zug, steht in der modernen Komödie das Drama fast nach jeder Replik anders. Bei Molière steht es oft szenenlang, aktelang völlig gleich, es verschiebt sich nicht allmählich, sondern stoßweise. Die Aufenthalte nehmen mehr Zeit in Anspruch als die Fahrzeiten, wie bei einer Lokalbahn. Wenn er sich gar nicht mehr zu helfen weiß, läßt er einen Brief erscheinen wie im Kino (in den »Gelehrten Frauen« zweimal!). Das alles ist antik, nicht modern. Es ist Plautus und Terenz, die Molière gründlich gekannt und benutzt hat. Plautus war sogar, wie Molière, zugleich Theaterdirektor, Schauspieler und Dichter. Die Wahlverwandtschaft geht so weit, daß Molières Nachahmungen des Terenz niemals so zündeten wie die des Plautus. »Der römische Spießbürger ging ins Theater, um zu lachen, und er lachte am liebsten über stark übertriebene Charakterfiguren, über grobe Prellereien, über Schimpf- und Prügelszenen ..., breite Situationskomik, überlanges Wortgeplänkel ... Die Handlung hastet bald vorwärts, bald stockt sie, bricht gelegentlich ganz ab ... Oft ähneln die Stücke einander, und dieselben Charaktere und Motive kehren immer wieder. Die wahre Größe des Plautus erkennt man nicht am ganzen Bau eines Dramas, sondern an seinen einzelnen Gliedern: wie er eine komische Situation ausbeutet, wie ihm jederzeit ein Witz einfällt, oft nicht fein, aber stets wirkungsvoll, wie Witze und Worte einander jagen, wie mühelos er das ganze Arsenal der komischen Mittel beherrscht.« Diese Charakteristik des Plautus stammt aus dem Werk von Baumgartner-Pollack-Wagner: (es würde nebenbei nichts schaden, wenn die Leute, die über moderne Literatur orakeln, eine Ahnung von der antiken hätten; sie ist nämlich manchmal moderner als die moderne). Diese Charakteristik gilt Wort für Wort für Molière. Gelegentlich läßt Molière sogar, genau wie Plautus, die ganze Handlung auf der Straße sich abspielen, wo die Häuser der Hauptpersonen nebeneinanderliegen. Plautinisch ist auch »das häufige Beiseitesprechen, das oft dem Mitspieler die mißtrauische Frage auspreßt: Was redet der Mensch da für sich?« Plautinisch, »daß häufig mehrere Personen nebeneinander spielen, ohne einander zunächst zu bemerken«. Plautinisch vielfach auch die Personen, und fast immer sind die Rollen die Typen der alten Oper: Sopran, Tenor, Buffo, Soubrette. Jugendliche Liebhaber, komische Alte: leichtfertige Söhne, mißtrauische Väter, abgefeimte Diener (Sklaven), Schmarotzer. Die Diener sind oft Erfinder und Träger der mageren Intrige, wofür sie zu guter Letzt, wie bei Plautus, Prügel beziehen. Dazu kommt nun als Eigenart Molières, was die Franzosen Sittenkomödie nennen, und worauf seine Aktualität beruht, eine Aktualität, die gelegentlich die Schlüsselkomödie streift und das Genre Wedekind. Wenn z. B. in den »Gelehrten Frauen« der Pedant Tricotin (erst später heißt er Trissotin) in der Maske und mit den Gebärden des wirklichen Cotin gespielt wird. Oder wenn Molière im »Stegreifspiel«, einem seiner brillantesten Einfälle, sich selbst auf die Bühne bringt, seine Frau und seine ganze Truppe. Am schmerzlichsten im »Menschenfeind«, wo er sich selbst zugleich spielt und verhöhnt wie Wedekind sich selbst in »Hidalla« und »So ist das Leben«.

Daß Molière, wenn er Thesen verficht, völlig aus seiner Zeit heraus schreibt, daß er Tagesfragen, aktuelle Personen auf die Bühne bringt, ihre besonderen Lächerlichkeiten geißelt, macht seinen großen Erfolg aus bei den Zeitgenossen. Aber eben dies ist zugleich der Grund, daß er uns gerade in den Hauptwerken fremd geworden ist. Was Molières größten Reiz in seiner Zeit bedingt, ist uns nur noch zum Teil zugänglich. Es liegt im Wesen jeder auf Aktualität eingestellten künstlerischen Gattung, rascher zu veralten als innerlich zeitlose Kunstwerke. Das gesellschaftlich Bedingte welkt, das rein Menschliche nie. Man braucht nur im Geiste die Komödienwelt Shakespeares heraufzubeschwören, und der ganze Molière ist wie weggeblasen. »Genau besehen, muß das Theater entweder ein Heldenepos sein oder eine romantische Phantasie. Das Sittenstück ist zu sehr ein Jammer, eine bloße Parodie, ein Nichts.« Was ist dieser Eintrag in den Tagebüchern der Goncourts (III, 187), wenn nicht eine Definition des Tragikers und Komikers Shakespeare? Weil Molière so ganz aus seiner Zeit heraus schreibt, weil er in nichts über ihr steht, ist ein großer Teil seines Werkes verstaubt, und selbst bei den Stücken, die sich auf dem Theater gehalten haben, ist nicht immer leicht zu sagen, wo die Patina aufhört und der Rost beginnt. Was hat sich gehalten? Sehen wir ab vom »Amphitryo«, dessen Aufführungen in Deutschland eine Versündigung gegen Kleist sind, so bleiben der »Geizige« und der »Tartüff«, seltener schon die »Gelehrten Frauen« und der »Eingebildete Kranke«, am seltensten »Der Menschenfeind«. Der Rest, wie die »Preziösen«, sind gelegentliche Ausgrabungen. »Der Bürger als Edelmann« ist ganz schal geworden; instinktiv fügte Hugo von Hofmannsthal durch die Nebenhandlung der »Ariadne auf Naxos« dem für uns sonst unmöglichen Stück einen ernstlich dichterischen Kern ein, durch den das Werk erst komponierbar, erst musikalisch wurde.

Was Molières Stücke in Deutschland immer seltener auftauchen läßt, ist ihre nicht sehr erquickliche Atmosphäre: die Trostlosigkeit des Weltbildes, ihr liebloses Familienleben, ihr unverhüllter Egoismus, ihre ideallose Nützlichkeit, ihre abstoßende seelische Temperatur. Preller und Geprellte, Gauner und Schmarotzer: »Der freche Betrug, wodurch ein geiziger Pedant mystifiziert wird, hat für einen rechtlichen Deutschen keinen Reiz, wenn Italiener und Franzosen sich daran wohl ergötzen möchten; bei uns aber kann die Kunst den Mangel des Gemüts nicht leicht entschuldigen.« In Goethes »Annalen«, denen diese Stelle entnommen ist, steht eine andere, so wenig wie die erste auf Molière gemünzt, die dennoch erklärt, warum sich der »Tartüff« auf die Dauer im deutschen Spielplan nicht hält: »Ein Bösewicht und Verräter nimmt sich am Ende überall schlecht aus, am schlechtesten auf dem Theater, wo der Verlauf seiner Niederträchtigkeit abgesponnen und uns vor die Augen geführt wird.« Wir empfinden das Bedürfnis einer behaglicheren Atmosphäre, fühlen uns zu sehr als mitwissende Mitschuldige, um rein heiter sein zu können. Das Lachen bei Molière läßt uns oft denselben Nachgeschmack im Munde wie das bei Lafontaine und bei Wilhelm Busch: im Grunde bitter ...

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Was Molière, dem wirklichen Molière, am meisten schadet, ist das unnatürlich hohe Piedestal, auf das man ihn erhoben hat, anstatt ihn, wie Dal Zotto seinen entzückenden Goldoni in Venedig, mitten unters Publikum zu stellen. Molière ist das alles nicht, was man aus ihm gemacht hat und noch immer um jeden Preis machen möchte: tiefer Charakterschilderer, feiner Humorist, großer Dichter, ebenbürtig den größten aller Zeiten und Völker. Franzosen, wenn sie unter sich sind, reden manchmal anders, selbst über seine gefeiertsten Werke. »Molières Tartüff«, notiert Baudelaire, »ist keine Komödie, sondern ein Pamphlet. Ein Atheist, wenn er nur ein wohlerzogener Mensch ist, muß bei diesem Stück denken, daß man gewisse ernste Fragen doch nie der Canaille ausliefern darf.« »Molière«, bemerken die Goncourts, »war nur das, was sein Publikum dachte. Er stand sozusagen auf einem Niveau mit ihm.« An anderer Stelle: »Wer wird sich getrauen, es auszusprechen, daß Molière gegenüber Labruyère ein niedriger Possenreißer ist?« An anderer Stelle: »Molière ist ein großes Ereignis der Bourgeoisie (im französischen Original groß geschrieben!), eine feierliche Erklärung der Seele des dritten Standes. Ich sehe in ihm das Auftreten des gesunden Menschenverstandes und des praktischen Verstandes, das Ende jeder Ritterlichkeit, jeder hohen Poesie in allen Dingen. Das Weib, die Liebe, alle edlen, ritterlichen Schwärmereien werden zurückgeführt aufs enge Maß des Haushalts und der Mitgift. Alles, was Schwung ist, alles Instinktive wird geschulmeistert, korrigiert. Corneille ist der letzte Herold des Adels; Molière der erste Dichter des Bourgeois.« Theophile Gautier äußert sich über den Misanthrope so drastisch, daß man es im Original hersetzen muß: »Ah! le cochon! quelle langue! est-ce mal écrit! Mais comment voulez-vous qu'on imprime cela. Je ne veux pas m'ôter mon pain. Je reçois encore aujourd'hui des lettres d'injures, parce que j'ai osé faire une parallèle entre Timon d'Athènes et le Misanthrope.« (Ach, das Schwein! Was für eine Sprache! Ist das schlecht geschrieben! Aber das kann ich natürlich nicht drucken lassen. Ich mag mich nicht um mein Brot bringen. Ich kriege heut noch Schmähbriefe ins Haus, weil ich einmal riskiert habe, Shakespeares »Timon von Athen« und Molières »Menschenfeind« aneinander zu messen.) Und dennoch: Molière spielt eine bedeutsame Rolle in der französischen Geistesgeschichte, nicht obgleich, sondern weil er ohne Weltanschauung ist. »Er spielt in der Geistesgeschichte seiner Zeit eine Rolle fast wie Pascal oder Descartes«, sagt Brunetière, und fährt fort: Daß diese Rolle berühmt ist, läßt sich nicht leugnen; ob sie nützlich war, steht auf einem andern Blatt. Wir müssen uns wohl oder übel damit abfinden: Molière gehört zur Familie von Rabelais, zu der von Voltaire, ein freier Geist wie sie, ein unabhängiger Humorist wie sie, Heide wie sie, und wie sie ein Diener der Verehrung der Natur und Menschheit.« Voltaire setzt den Beginn der Aufklärung (deren Geschichte auch neu zu schreiben wäre) um die Mitte des 17. Jahrhunderts an. Molière kehrt im Jahre der Provinzialbriefe Pascals (1658) nach Paris zurück. Sein »Don Juan«, in den bereits die Ruchlosigkeit des kommenden Jahrhunderts ihre Schatten wirft, erscheint 1665, ein Jahr nach dem »Tartüff«. Diese drei Werke: »Provinciales«, »Tartüff« und »Don Juan«, klingen wie das dreimalige Pochen zu Beginn eines Stückes im französischen Schauspiel: was sich ankündigt, ist Voltaire. Wenn von einer inneren Biographie Molières während der zwei Jahrzehnte seines Schaffens überhaupt gesprochen werden darf, so ist es nur in der Richtung einer immer radikaleren Skepsis. Sein Agnostizismus ist nicht mehr heiter wie der Montaignes. Man überlegt sich unwillkürlich, wie sich Molière wohl entwickelt hätte, wäre er nicht so früh gestorben oder etwa 50 Jahre später geboren, so daß er die Regentschaft noch erlebt hätte: die Perspektive hat etwas äußerst Fragwürdiges, wie überhaupt Molière, je gründlicher man ihn liest, je mehr man versucht, sich seinen seelischen Haushalt zu vergegenwärtigen, desto problematischer wird. Hätte er nicht Voltaire übervoltairt?

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Wen soll dies schrille Lachen täuschen? Worüber hinwegtäuschen? Kommt dem Dichter, mit reifenden Jahren, zum Bewußtsein, daß sein Leben eine heillose Sackgasse ist? Eine, wie Lafontaine sagt, »große Komödie in hundert Akten«, Thema und Titel: »Der Komödiant wider Willen«? Steckt in diesem Lachen die Rachsucht eines souveränen Kopfs, der sich deklassiert weiß durch die Zugeständnisse an sein Publikum, deklassiert durch das, was er machen muß, deklassiert durch das, was er nicht machen kann, nicht machen darf? Entdecken wir jenseits dieser allzu lauten Vordergrundslustigkeit einen Verzweifelten, der schweigt? Einen Tapferen, der leidet? Was verbirgt dieses Lachen, das zu forciert ist, um zu befreien und zu wärmen?

Daß Molière im »Menschenfeind« sich selbst gezeichnet hat, spricht einer aus, der es ihm nachfühlen konnte, weil in ihm selbst ein Stück Menschenfeind steckte: Grillparzer. »Ich zweifle keinen Augenblick, daß Molière im Misanthropen sich selbst geschildert hat. Einmal wimmelt es darin von kleinen intimen Nuancen, die nur derjenige findet, der das Dargestellte selbst empfunden hat. Daß des Misanthropen Meinung von der Poesie Molières eigene war, leugnet niemand. Sogar der unbefriedigende, stumpfe Ausgang des Stückes deutet daraufhin und wird jeder Dichtung eigen sein, die aus Selbstironie hervorgegangen ist, wie z. B. Goethes »Wilhelm Meister« und »Tasso« zeigen. Wie er von Eifersucht, und zwar gegründeter, geplagt war, lehrt die Geschichte seines Lebens. Nun endlich dieses sein Leben selbst. Ein Dichter im eigentlichen Sinne des Wortes, auf das Edle und Große hinstrebend, wie er denn von der Darstellung ernster Charaktere nur durch wiederholtes Verunglücken auf der Bühne zurückgeschreckt wurde, und nun genötigt, den Lustigmacher, den Hans Narren zu spielen, mitten im Jubel des Beifalls sich wahrscheinlich selbst verachtend über die Versündigung an seinem besseren Innern. In der Gesellschaft tief unter denjenigen stehend, die er nicht einmal als seinesgleichen anerkennen konnte. Selbst der »Misanthrop« fiel durch, als nicht pudelnärrisch genug. Mußte sich da nicht eine Feindseligkeit gegen die gesellschaftlichen Zustände ansetzen? Ich denke hier an Raimund, der, obgleich tief unter Molière stehend, doch hierin eine Ähnlichkeit mit ihm hatte. Wie nahe Molière der eigentlichen Gemütspoesie stand, von der ihn nur das Zeitalter und vielleicht der überlegene Einfluß seines Freundes Boileau zurückschreckte, zeigt neben einzelnen Stellen in allen seinen Werken vor allem das kleine Bruchstück: »Melicerte«. Der Monolog der Heldin im zweiten Akt zeugt von einer seine Zeit weit überflügelnden Empfindung, wie sie selbst bei Racine selten vorkommt.«

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Von der Bühne freilich kann Molière nie ganz verschwinden: dazu sind seine Rollen ewig zu dankbar. Kongeniale Molière-Darsteller gibt es nämlich leichter als kongeniale Shakespeare-Darsteller. In einem kleinen Buch über Schauspielkunst fand ich folgende Sätze: »Mehr ein Unterhalter als ein Gestalter. Mehr ein Sprecher als ein Schöpfer. Schlau sein; wach sein; drollig sein; nie die Fassung verlieren: das ist die Weltanschauung dieser Kunst. Kaltblütige Kunst, Sicherheitskunst, Abtönungskunst; sehr feststehend, sehr ruhig, sehr schlagend. Eine Kunst, die in keiner Minute aufhört, Mimenkunst zu sein und Epigramm. Alles in allem: die Existenz des verstorbenen Dichters Jean Paul würde Coquelin nicht begreifen, auch wenn man ihm sehr zuredete. Urgründiger Humor wie bei Swift oder Sterne liegt gleichfalls über seine Grenzen hinaus. Er hat Innerliches nicht zu sagen. Doch er kann sein Handwerk auf eine Art, die an Genialität grenzt.«

Diese Sätze beziehen sich auf den berühmtesten Molière-Darsteller, den älteren Coquelin. Aber stimmen sie nicht ebenso, wenn man sie auf Molière selbst anwendet? Die Darsteller stehen genau auf der Höhe der Stücke, das beste Stück erhebt sich nicht über den sehr guten Darsteller. Ganz anders als im Germanischen, wo die großen Rollen dem empfindlichen Zuschauer selten zu Dank gespielt werden können, eben weil es keine Rollen sind (Hamlet, Faust, Hjalmar Ekdal, Solneß).

Die französischen Gestalten sind immer glänzende Rollen. Der Molière-Darsteller und der Shakespeare-Darsteller sind zwei Gegenpole. Aufgabe des Molière-Spielers: er verleiht dem breitflächig, mit einer einzigen Grundfarbe angelegten Charakter interessante Einzelzüge, setzt Lichter auf; der Dichter läßt ihm viel Spielraum, weil der Charakter streng genommen noch keiner ist; erst der Schauspieler muß den Typus des Heuchlers, des Geizigen, des Menschenfeinds usw.) zum Charakter erhöhen; er muß analysieren. Der Shakespeare-Spieler steht vor der entgegengesetzten Aufgabe: er sieht einen verwirrend reichen Komplex Einzelzüge vor sich, der Charakter ist nicht flächig angelegt, sondern körperhaft, man kann sozusagen um ihn herumgehen, ihn von vorn betrachten, von rückwärts, von der Seite; die Grundfarbe ist nicht eine, sondern sie ergibt sich erst im zusammenschauenden Subjekt (des Darstellers, des Lesers, des Hörers) aus den Rembrandtischen Gegensätzen von Farbe und Farbe, Helligkeiten und Dunkelheiten; was der Dichter geschaut hat, ist kein Typus, sondern ein Individuum; mehr: ein Charakter. Diesen Charakter muß der Darsteller hellseherisch erfassen: entweder er h a t ihn, intuitiv, oder er bekommt ihn in alle Ewigkeit nicht. Darum ist jeder Hamlet usw. ein anderer, darum sind alle Geizigen und Tartuffes einander so ähnlich. Darum ist es gar nicht schwer, Molière einleuchtend zu spielen, während die überzeugende Shakespeare-Darstellung ein seltener Glücksfall ist. Ein durchschnittlich begabter Schauspieler, der ein kluger Sprecher ist, wird Molière nichts schuldig bleiben, Shakespeare alles. Der geniale Dichter fordert den genialen Darsteller. Nichts war aufschlußreicher als die Duse in französischen und halbfranzösischen Rollen (Kameliendame, Magda): es waren keine französischen Stücke mehr, sondern etwas sonderbar anderes, etwas in der Richtung jenes höchsten Dichterischen, das hart an der Musik steht.

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Was Hugo von Hofmannsthal in seinem viel zu wenig gekannten »Versuch über Viktor Hugo« über die Gestalten des Romantikers sagt, gilt ebenso von denjenigen Molières:

»Könnte sich einer von ihnen jemals umwenden, so müßte er sehen, daß die anderen alle nur vorne bemalte Figuren sind und nach der Breite keinen Durchschnitt haben; daß es Figuren von Papier sind. Eine einzige, nach allen Dimensionen reale Gestalt wie Hamlet, eine Figur wie Götz, müßte, wenn sie in eines dieser Dramen verwickelt würde, durch ihr bloßes Dabeisein die ganze Handlung zersprengen.« Aber ist damit nicht zugleich ausgesprochen, warum diese Rollen so dankbar sind? Sie sind leichter, nicht nur für den Darsteller, sondern auch für den Zuschauer ....

In der Vorrede, die der große englische Ethnologe J. G. Frazer dem Südseewerke Br. Malinowskis »Argonauten des westlichen Pacific« voranstellt, kommt er seltsamerweise auf dieses Problem zu sprechen: »Von dieser Einseitigkeit ist Molière ein auffälliges Beispiel unter den großen Schriftstellern. Alle seine Charaktere sind nur in der Fläche gesehen; der eine ist ein Geizhals, der andere ein Heuchler, ein anderer ein Narr usw.; aber keiner von ihnen ist ein Mensch. Alle sind ausstaffierte Gliederpuppen, die wie menschliche Wesen aussehen. Aber die Ähnlichkeit ist rein oberflächlich, innen ist alles hohl und leer, weil die Naturwahrheit der literarischen Wirkung geopfert worden ist. Ganz anders ist die Darstellung der Menschennatur bei größeren Künstlern wie Cervantes oder Shakespeare: ihre Charaktere sind solid, da sie nicht nur von einer Seite gesehen sind, sondern von vielen.«

Ich messe diesem Punkte soviel Wichtigkeit bei, daß ich noch eine dritte Stimme anführe, die des Genfers Philippe Monnier. In seinem köstlichen Buche »Venedig im 18. Jahrhundert« widmet er natürlich Goldoni ein eigenes Kapitel, und man kann nicht über Goldoni sprechen, ohne auf Molière zu kommen: »Nehmen wir den ›Bürgeredelmann‹. Gut. Ja hat denn dieser Jourdain je gelebt? Ist man je einem Bürgeredelmann begegnet, der in allem, was er sagt, tut, denkt, gegenüber seiner Frau wie gegenüber seiner Marquise, gegenüber seiner Magd wie gegenüber seinem Tanzlehrer, gegenüber der Galerie wie gegenüber sich selbst, nichts ist als Bürgeredelmann und nur Bürgeredelmann? ohne daß ihn ein Gewissensbiß peinigt, ohne daß ihn ein Zweifel ankommt, ohne daß er sich nur einen Augenblick lang erforscht, besinnt, widerspricht, – unerschütterlich Bürgeredelmann bis zum Ende?«

Vor allem aber: Molières Charaktere sind fatalistisch unveränderlich. Keiner entwickelt sich, keiner wandelt sich. Jeder ist am Schluß, was er am Anfang war. Wenn dies das berühmte Charakterlustspiel sein soll, sind die Leute, denen das gar so imponiert, nicht anspruchsvoll.

In welcher Übersetzung soll man nun Molière lesen, wenn man nicht Französisch kann? Hier beginnen sogleich die ernsten Schwierigkeiten. Molière ins Deutsche zu übertragen ist viel verwickelter, als man ahnt. Bis jetzt ist die Aufgabe noch nicht gelöst worden; ganz ist sie überhaupt nicht zu lösen.

Warum? Auch dafür sind die Gründe vielfach und verwickelt. Der Hauptgrund ist wiederum, daß diese Komödien so vollkommen aus ihrer Zeit heraus- und in die unsrige nicht herübergewachsen sind.

Lustspiele mit starkem zeitgenössischem Einschlag sind von Haus aus einem heutigen Publikum wesentlich schwerer nahezubringen als Tragödien. Oft bleibt nur die Wahl zwischen Verwischung oder Zerklärung. Um ein Beispiel anzuführen: Margarete Beutler übersetzt Les Précieuses ridicules: »Die lächerlichen Preziösen«; Ludwig Fulda: »Die Zierpuppen«. Wer hat nun recht? Nach meinem Gefühl Frau Beutler; denn in dem Wort Preziösen steckt eine ganz bestimmte Tatsache der französischen Literaturgeschichte, die bei der Wiedergabe durch »Zierpuppen« unter den Tisch fällt. »Aber«, wird Fulda einwenden, »wieviele von hundert Lesern wissen denn, was eine Preziöse war? Das Wort Zierpuppen wird durch das Stück selbst hinreichend literarisch gefärbt; und schon Lessing hat gesagt: »Der Titel ist eine wahre Kleinigkeit; er braucht den Inhalt weder anzuzeigen noch zu erschöpfen ... Er muß kein Küchenzettel sein. Je weniger er von dem Inhalt verrät, desto besser ist er.«« Ganz recht, möchte man Fulda erwidern; aber wie verhält sich die Sache dann, wenn die zeitgenössische Anspielung nicht im Titel steckt, sondern im Text? Zum Beispiel in der großen Trissotin-Szene der »Gelehrten Frauen« fällt, wie auch sonst in diesem Stück, doch manches in Fuldas Übersetzung unter den Tisch. »Leider«, könnte Fulda mit Recht darauf sagen; »aber wäre es vielleicht besser, wenn ich Ausdrücke wie palais, cours, ruelle, Eigennamen wie Barbin pedantisch genau wiedergäbe, um zu jedem dieser Wörter eine Anmerkung unter den Text setzen zu müssen? Fiele dann nicht bei der Aufführung jede dieser Stellen erst recht unter den Tisch? oder soll ich vielleicht den Dramaturgen als Privatdozenten vortreten lassen ...?«

Wenn Komödien, die einmal sehr zeitgemäß waren, durchwegs schwerer zu übertragen sind und rascher veralten als Tragödien, so sind ältere französische Lustspiele besonders heikel einzudeutschen. Die Franzosen haben vor uns, was Gesellschaft, Salon, Konversation anlangt, einen Vorsprung von, allermindestens gerechnet, hundert Jahren. Sodann hat das Deutsche weder je die sprachliche Abmagerung erlitten, noch je die Geschliffenheit erreicht wie das Französisch des 17. Jahrhunderts. Da es nicht die zahllosen latenten Wortbedeutungen des Französischen besitzt, arbeitet es von vornherein mit volleren Registern; dadurch geht etwas Wesentliches verloren, nämlich die Kühle, Gedämpftheit, Zurückhaltung, Allgemeinheit der Vorlage. Wir müßten das dünne Vokabular des französischen 17. Jahrhunderts erst aus dem deutschen künstlich aussondern, durch Ausscheidung aller stärker gefärbten Wörter, aller zu konkreten, zu bildhaften, der meisten Handwerksausdrücke, vieler stark affektbetonter Wörter; müßten uns einen bestimmten Prozentsatz unserer Sprache von vornherein verbieten, wenn wir an die Übertragung eines so ganz in seiner Zeit wurzelnden Schriftstellers wie Molière herangehen; sonst verliert unsere Übersetzung ebensoviel an Stil im Sinne Molières, als sie an Wirksamkeit in unserem Sinne gewinnt. Fulda übersetzt Molière reicher, farbiger, geschmeidiger, wärmer und prägnanter, gelegentlich auch witziger, als im Text dasteht. Das Französisch des 17. Jahrhunderts ist gewissermaßen ein Klavier, dem oben und unten mindestens je anderthalb Oktaven fehlen, ohne Klang fülle, wenn auch nicht ohne klanglichen Reiz, von weit geringerer dynamischer Ausdrucksfähigkeit, spitzer, aber dennoch gedämpfter, und moderne Melismen und Harmonisierungen schon durch den ganzen Klangcharakter verbietend. Ich habe mir manchmal vorgestellt, wie ich's wohl anfinge, wenn ich Molières Versdramen übersetzen müßte. Ich bin immer wieder zu dem Ergebnis gekommen: Goethes »Laune des Verliebten« und »Mitschuldige« jeden Tag so lang laut zu lesen, bis ich die zwei Stücke auswendig im Traum heruntersagen könnte. Aber ganz stimmt es wieder nicht; Goethes Alexandriner sind nämlich ausdrucksvoller als die Molières: lebendigere Zäsuren; größerer Reichtum an Reimen; jugendlichere Leichtigkeit, lyrischere Anmut; geschmeidigere Auflockerung des Dialogs in Halbzeilen; eine Bündigkeit, die bei Molière oft fehlt; alles frischer, farbiger, natürlicher, musikalischer. Es geht wieder nicht.

In einem Punkt, und zwar in einem sehr wesentlichen, gibt Fuldas Übersetzung einen völlig schiefen Begriff von Molière; er ersetzt nämlich den Alexandriner durch den Faustvers. Das halte ich trotz Fuldas geschickter, beinahe bestechender Befürwortung seines Vorgehens für ebensowenig angängig wie Baudissins reimlose Jamben. Entweder Alexandriner, oder, wie es der alte Bierling 1752 gemacht hat, gleich Prosa: das Deutsch Lessings und seiner Zeitgenossen, das Deutsch vor dem »Faust«, vor »Werther«, vor »Iphigenie«, ein schnabelgewachsenes, ein nicht bewußt dichterisches, ein schlicht prosaisches Deutsch.

Was den Prosa-Molière betrifft, so hat nach meinem Gefühl den Ton dafür am besten Hugo von Hofmannsthal getroffen, sowohl in zahlreichen seiner eigenen Dialoge, wie in der reizenden Übersetzung, die, in den »Rodauner Nachträgen« versteckt, leider wie so vieles des Schönsten von ihm dem großen Publikum unzugänglich ist. Auch hier möchte ich ein ähnliches Verfahren empfehlen wie bei den Versen, nämlich daß sich der Übersetzer den Ton der witzigsten Sachen von Raimund und Nestroy, überhaupt des Wiener Theaters dieser Zeit, sodann den Hofmannsthals in seinen Prosastücken ganz zu eigen mache und den Dialog mancher Szenen, besonders der Dienerszenen, leicht wienerisch töne. Ich übersetze den Anfang der Covielle-Szene (»Bürger als Edelmann« IV, 5-6) als Probe:

Covielle: Ich mein' gar, der gnä' Herr kennt mich nimmer.

Jourdain: Nein, ich kenn' Sie nicht.

Covielle: Ich hab' den gnä' Herrn schon 'kennt, da war der gnä' Herr noch so (Gebärde) a klan's Buzerl.

Jourdain: Ich?

Covielle: Aber ja! Sie waren doch das modlnetteste Buberl von der ganzen Stadt, und die Damen haben g'rad das G'riß g'habt, wer Sie z'erst auf den Arm nehmen darf und Ihnen ein Bussel geben.

Jourdain: Mir ein Bussel geben?

Covielle: Aber ja! Ihren Herrn Pappa selig hab' ich auch gut 'kennt.

Jourdain: Meinen Herrn Pappa selig?

Covielle: Aber ja! Das war noch ein sehr ein fescher Kavalier!

Jourdain: Was hab'n S' g'rad g'sagt? Was hab'n S' g'rad g'sagt?

Covielle: Ich sag', das war noch ein sehr ein fescher Kavalier!

Jourdain: Mein Herr Pappa selig?

Covielle: Ja.

Jourdain: Und den hab'n Sie 'kennt?

Covielle: Warum sollt' i' 'n net 'kennt hab'n?

Jourdain: Und Sie haben ihn 'kennt als an Kavalier?

Covielle: Ja als was denn sonst?

Jourdain: Alsdann waaß i net, was die Leut' haben!

Covielle: Ja, was denn?

Jourdain: Da gibts nämlich so blöde Leut', die sagen, er is ein Greisler g'wesen.

Covielle: Der, ein Greisler? Aber das heißt man doch die pure Verleumdung! Der is doch kein Greisler g'wesen! Das anzige, was er g'macht hat, ja, das is g'wes'n, er is recht lescher g'wesen zu die Leut, recht kommod'. Und weil er viel von die Tücher verstanden hat, hat er überall g'schaut, wo er welchene auftreibt, und die hat er alsdann zu ihm ins Haus tragen lassen, und hat s' seine Spezeln mitheimnehmen lassen. Für a billig's Geld.

Bliebe noch das heikelste Problem zu besprechen, nämlich das des archaisierenden Übertönens. Wenn wir schon Molière im Kostüm seines Jahrhunderts spielen, ist es dann, genau betrachtet, nicht stillos, ihn die Sprache des unsrigen sprechen zu lassen? Auch in diesem Punkt ist Fulda zu modern und gibt seiner Virtuosität zu sehr nach. Aber diese Frage der Patina ist mit besonderem Takt zu behandeln. Hier läßt sieh kein allgemeiner Grundsatz aufstellen; fast jedes Stück stellt vor eine neue, besondere, schwierige Aufgabe.

»Das sieht ja fast so aus, als wäre Molière überhaupt nicht übersetzbar?« Darauf läuft es freilich hinaus. Man kann ihn wirklich nicht übersetzen. So wenig man Goethe, Dante, Homer übersetzen kann. Aber ihn deswegen mit den ganz Großen, mit Goethe, Dante, Shakespeare in eine Reihe zu stellen, das mögen die Franzosen tun; er ist nun einmal der höchste Trumpf, den sie ausspielen können. Aber wenn ihnen andre Völker das immer wieder glauben und nachschwätzen, so ist das kritiklos. Doch dazu muß ich etwas weiter ausholen.

Als Richard M. Meyer seine deutsche Literaturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts dem alten Mommsen gesandt hatte, schrieb ihm der unter anderem: »Die mächtige Strenge, welche von einem derartigen Gesamtwerk verlangt wird, ist nicht geübt, und es ist dem Literaturhistoriker nicht erlaubt, wie bei dem Herabkommen der Rekruten den Maßstab um einige Zoll tiefer zu nehmen ... Daß wir sehr heruntergekommen sind in diesem ablaufenden Jahrhundert, ist gewiß genug ... Kellers Kleinkunst, Storms Verschwommenheit, Freytags Philistertum sollten und müßten in ihrer das wirklich Geleistete nicht aufhebenden, aber recht sehr einengenden Begrenzung aufgezeigt, der beinahe absolute Mangel der hohen Lyrik, des großen Dramas nicht übersprungen werden. Der Standard geht herunter, und man erinnert sich an die bitteren Worte Goethes von dem, was uns die größte Gesellschaft beut. Die wirklichen Ausnahmen: Mörikes Lyrik, Ludwigs, des leider zerdrückten Genies, Makkabäer kommen dadurch um ihr gutes Recht.« (Beilage zur »Allgemeinen Zeitung«, 1904, Nr. 192.)

Die Eigenschaft, welche Mommsen bei einem Überblicke vermißt, der sich nur über ein einziges Jahrhundert einer einzigen Sprache erstreckt, – wie weit müssen wir zurückgehen, sie in einer Darstellung der Weltliteratur zu finden! Wenn sich im Laufe des vergangenen Jahrhunderts fast die gesamte europäische Literatur mehr und mehr westlich orientiert, genauer gesprochen, französisch, das heißt, wenn die Dichtung immer mehr zur Literatur wird, die Literatur immer mehr zu einer anspruchsvolleren Form der Journalistik, so hat die Darstellung der Literatur, als am äußersten Flügel stehend, diese Schwenkung so rasch mitgemacht, daß die bloße Forderung, literarische Kritik müsse so ungefähr, der polare Gegensatz des literarischen Feuilletons sein, Gefahr läuft, paradox zu erscheinen.

Diese Entwicklung zur Tagesschriftstellerei geht vor sich im Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts: die ganze Literatur eine einzige große Zeitung und Voltaire ihr Chefredakteur. Das Wesen aller bloßen Literatur, im Gegensatze zur Dichtung, ist, daß sie, nicht außer ihrem künstlerischen Zwecke, sondern vor ihm, etwas anderes will: irgendwelche These, irgendeine Tendenz, irgend etwas, das mit Kunst nichts zu tun hat, zum Beispiel religiöse Aufklärung, soziale Entrüstung, Kritik eines gesellschaftlichen Zustandes, Mißstandes, Ausnützung irgendwelcher Augenblickskonstellation von der landläufigen Literatenaktualität bis herab zum bewußt auf Skandal spekulierenden Schlüsselroman, Schlüsseldrama. Voltaire mißbraucht jede künstlerische Form zu gegenkünstlerischen Zwecken: Epos, Roman, Drama, wie Gesellschaftsroman und Gesellschaftsdrama des neunzehnten Jahrhunderts vielfach nichts offenbaren als den Mißbrauch ausgehöhlter und sinnlos gewordener künstlerischer Formen zur Unterhaltung eines Publikums, das sich mit seinem Unterhalter innerlich eins weiß nur in der Feindschaft gegen das wahrhaft Dichterische und Künstlerische. Wer diese Adernverkalkung des Dichterischen an einem besonders wertvollen Exemplar genau verfolgen will, nehme die Entwicklung Henrik Ibsens vor, von seinen ersten Stücken bis zum dramatischen Epilog »Wenn wir Toten erwachen«: dies Nachwort ist nicht nur die? Verzweiflung eines Künstlers angesichts eines als verfehlt und vergeudet erkannten Schaffens, das in eine heil- und rettungslose Sackgasse mündet, sondern die Bankrotterklärung der äußerlich erfolgreichsten literarischen Gattung des Jahrhunderts durch ihren letzten, tiefsten, unbestechlichen Vertreter.

Diese gleichmäßige Höhe der Betrachtung finde ich, nach rückwärts blickend, erst wieder in August Wilhelm Schlegels ›Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur‹, die, 1808 gehalten, sofort ins Französische, Holländische, Englische und Italienische übersetzt wurden, mit der Zeit jedoch derselben Vergessenheit anheimfielen wie das im nämlichen Jahr erschienene Werk seines Bruders Friedrich ›Über die Sprache und Weisheit der Inder‹.

Da Schlegels Vorlesungen seit fünfundsiebzig Jahren nicht mehr neu aufgelegt worden sind, widerstehe ich ungern der Versuchung, einiges aus ihnen auszuziehen, was den allgemeinen und grundsätzlichen Teil angeht. Nicht hingegen darf verschwiegen bleiben, wie sich ein Kenner von seinem Rang über Molière äußert: »Molière hat Werke in so verschiedenen Gattungen und von so verschiedenem Werte hervorgebracht, daß man kaum denselben Urheber darin wiedererkennen sollte; und doch wird gewöhnlich, wenn man von seiner Eigentümlichkeit und seinen Verdiensten um die Fortschritte der Kunst redet, alles auf einen Haufen zusammengeworfen... Er war ein Schauspieler, und zwar, wie es scheint, besonders im übertreibenden und possenhaften Komischen stark... In den Possenspielen mit oder ohne Ballette und Intermezzos, worin das übertreibend Komische und oft das Selbstbewußte und Willkürliche der Lustigmacherei vorwaltet, hat er zwar eine unerschöpfliche gute Laune bewährt, vortreffliche Späße verschwenderisch ausgestreut und mit kecken und derben Strichen ergötzliche Karikaturen gezeichnet; jedoch alles dies ist schon vielfältig vor ihm geleistet worden, und ich kann nicht einsehen, wodurch er in diesem Fache einzig und als ein ganz origineller Kunstschöpfer dastehen soll ... Viele seiner Erfindungen sind mir als erborgt verdächtig, und ich bin überzeugt, die Quelle würde sich nachweisen lassen, wenn man die Altertümer der possenhaften Literatur durchsuchte ... Wenn die Franzosen schon in den Lobeserhebungen auf ihre Tragiker aus National-Eitelkeit und Unbekanntschaft mit fremden Geisteswerken sehr übertrieben sind, so überbieten sie sich vollends im Preisen Molières auf eine Weise, die aus allem Verhältnisse mit dem Gegenstande heraustritt ... (Die spätesten Werke) beweisen genugsam, daß er mit dem Fortgange der Jahre nicht an künstlerischer Reife des Geistes zunahm... Am besten geriet es Molière mit dem derben hausbackenen Komischen, und sein Talent wie seine Neigung hätte ihn ganz für die Possen entscheiden sollen, dergleichen er auch bis an das Ende seines Lebens schrieb. Zu seinen ernsthafteren Stücken in Versen scheint er immer einen Anlauf genommen zu haben: man spürt etwas Zwanghaftes in der Anlage und Ausführung ... Schon in seinen prosaischen Stücken finde ich Andeutungen von jener didaktischen und satirischen Ader, die der komischen Gattung eigentlich fremd ist ... Diese Gefahr (im Ton und in den Sitten fühlbar veraltet zu sein), bedroht unvermeidlich den Lustspieldichter von der Seite, wo seine Darstellung nicht auf poetischem Grunde ruht, sondern durch die Prosa der äußern Wirklichkeit bestimmt wird.«

Schlegel kritisiert genau, aber im ganzen wenig günstig, alle sogenannten Hauptwerke Molières; ich übergehe diese Stellen, da ich in anderm Zusammenhange von seiner Technik sprach, seiner unkünstlerischen Skrupellosigkeit, seinem Histrionenprinzip: Wirkung um jeden Preis. Nur eine einzige hebe ich heraus: »Es läßt sich (in den ›Gelehrten Frauen‹) eine Ader von einer gewissen Kammerdienermoral spüren, die auch über manche andere Punkte bei ihm zum Vorschein kommt. Man kann sie leicht aus seiner Erziehung und Lage begreifen, aber sie gab ihm schwerlich Beruf dazu, der Lehrer der menschlichen Gesellschaft zu sein.«

*

Ich kenne nur eine französische Literaturgeschichte, die nicht von dem Gesichtspunkt aus verfaßt ist: faute de mieux on couche avec sa femme, nämlich das kleine Werk, das Emile Faguet ein paar Jahre vor seinem Tod für die englische Collection Gallia schrieb. Im Rahmen der Sammlung, in der sie erschien, liegt zugleich die Erklärung für ihre auffallend zurückhaltenden Urteile: Faguet war sich offenbar bewußt, daß es schlechterdings nicht anging, die Einstellung von Molières Marquis de Mascarille in einem Werk beizubehalten, das sich an die angelsächsische Leserschaft der Welt wandte. Gleichwie der Umstand, daß seine Ausgabe der Werke Molières in der Collection Nelson (Lutetia) erschien, wesentlich dazu beitrug, daß die Urteile seiner allgemeinen Einleitung und der Einführungen zu den einzelnen Stücken seltsam von den konventionellen Lobsprüchen abstechen, ohne welche die Franzosen über Molière nicht schreiben zu können scheinen, und daß sie sich ebenso merkwürdig den Urteilen Schlegels annähern. »Die allgemeinen Ideen Molières sind die eines Pariser Bürgers von 1660, abgesehen von der religiösen Idee, die um diesen Zeitpunkt herum noch ziemlich lebendig war. Von dieser Idee oder diesem Gefühl gibt es bei Molière keine Spur (S. 9)... Abgesehen von ihr, hat Molière alle Ideen eines honetten Pariser Bürgers um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts, und wahrscheinlich hat er überhaupt keine andern gehabt (S. 10)... Molière ist Frankreichs Sancho Pansa; der einzige Unterschied ist, daß er als Genie seine Sprichwörter nicht der Weisheit der Nationen entnimmt, sondern daß er Sprichwörter schafft; er nimmt seine Sprichwörter nicht beim großen Haufen zu leihen, er liefert sie ihm (S. 12)... Molière hat nur die Ideen des Mittelstands seiner Zeit; sogar wenn er andere hat, so kehrt er schließlich immer wieder zu jenen zurück (S. 14)... Er ist der Mann des gesunden Menschenverstandes, der Mann des unpersönlichen Denkens, welcher denkt, wie alle Welt denkt, oder sich bescheidet, nichts anderes zu denken als das, und der, alles in allem, glaubt, man müsse so denken, und das nur besser ausdrückt, als irgendwer sonst das könnte. Man kann sich leicht vorstellen, daß damit seine Moral ziemlich schwach ist; manche werden sagen, er habe überhaupt keine... Die Ideen des geistigen Mittelstandes aller Zeiten führen zu einer Moral, die nicht direkt verächtlich ist, aber die gar nichts Heroisches hat, nichts Hohes, nichts Hochherziges, nichts Edles und nichts Schönes. Genau diese Moral hat Molière für sich gewählt, das heißt, er hat sie von seinem Publikum entlehnt und gibt sie ihm zurück. Diese Moral steht ziemlich tief (S. 15)... Jedes Risiko vermeiden, darin steckt die ganze Moral des Bürgers, darin steckt die ganze Moral Molières... Was ist das Kriterium des Risikos? Die Lächerlichkeit (S. 17) ... Molière ist nicht unmoralisch; er ist amoralisch. Er macht niemanden schlechter. Aber er macht auch niemanden besser. Eine Gesellschaft, die Molière als moralischen Führer nähme, wäre nicht sehr schlecht, sogar recht vernünftig; aber sie wäre die platteste Gesellschaft von der Welt (S. 20).«

Genau dasselbe Urteil fällt Faguet in der erwähnten kleinen Literaturgeschichte. Ich setze es französisch her, weil man glauben könnte, ich übertriebe: »Sa morale est basse, et même d'un comique on pourrait en désirer une bien meilleure; et malheur à un peuple qui n'aurait pour conscience que la morale qui sort des comédies de Molière; mais cependant, s'il n'inspire aucurie générosité ni hauteur d'âme, on ne peut pas dire qu'il soit depravateur« (S. 215). »Seine Moral steht tief, sogar von einem Komiker könnte man schließlich eine bessere verlangen. Wehe einem Volke, das als Gewissen nur die Moral hätte, die sich aus Molières Komödie ergibt! Aber immerhin, wenn er auch keinerlei Edelmut noch Höhe der Seele einflößt: daß er ein Verführer sei, kann man nicht sagen.«

Mit andern Worten: Faguet gibt die Lebens werte Molières preis, ohne Rückhalt, rettungslos. Wenn man sich vergegenwärtigt, wie gerade Molière sozusagen das letzte Bollwerk ist, hinter das sich die Befürworter der französischen Literatur, vor allem auch ihrer Werte für den Unterricht, zu verschanzen pflegen, so ist diese schonungslose Bloßlegung der Armseligkeit seiner Weltanschauung aus französischem Munde (erinnern wir uns der Goncourts!) erschütternd, aber lehrreich.

Denn ich habe natürlich Schlegel und Faguet nicht beliebig herausgegriffen. Ich zitiere sie nicht, um Molière etwas am Zeug zu flicken. Was ich gegen ihn vorzubringen habe, getrau ich mir allein auszufechten, ohne Kronzeugen.

Worauf es mir ankommt, ist etwas anderes. Nämlich die Einsichten, die Schlegel als Ergebnis seiner vergleichenden Studien vorlegt, stoßen noch viele seiner zeitgenössischen Leser vor den Kopf, selbst Goethe. Schlegels Vorlesungen kommen in dem bekannten Gespräch mit Eckermann vom 28. März 1827 arg schlecht weg. Besonders schwer hat sich der alte Herr geärgert über die scharfe Beurteilung des Euripides und des Molière, welch letzteren er als eine Jugendliebe mit ins höchste Alter genommen hatte. Darüber ist nun mehreres zu sagen.

Zunächst wollen wir Eckermann wirklich nicht als Beweis mißbrauchen. Es war von je ein Merkmal subalterner Köpfe, ihren Mangel sachlicher Gründe durch Eckermannzitate zu »supplieren«, ungefähr, wie man vermittels der Calwer Bibelkonkordanz ein Gedankendefizit beim Heiligen Geist deckt. Was Goethe gegen den Menschen Schlegel hatte und auf den Kritiker übertrug, geht uns so wenig an wie seine Überschätzungen aus irgendeiner Jugendstimmung heraus. Ich halte, offen gesagt, keines der im Eckermann stehenden Urteile Goethes über Molière für ganz richtig. Um nur ein Beispiel zu nennen: das zu Tod zitierte Wort, »seine Stücke grenzen an das Tragische, sie sind apprehensiv«, ist nichts als ein Euphemismus für die Tatsache, daß sich Molière vor lauter Übertreibungen regelmäßig in eine dramatische Sackgasse verrennt und, um überhaupt einen Ausweg zu finden, ein Loch in die Mauer schlagen muß. Seine vorletzten Akte sind übermäßig wirksam auf Kosten seiner letzten; seine Lösungen gezwungen und matt, weil er seine Knoten überspannt. Goethe sah wohl den Molière im Kotzebue, aber nicht den Kotzebue im Molière. Schlegel sieht ihn und spricht es aus, und das ist Goethe ärgerlich. Aber sprach es Goethe nicht unbewußt selber aus, eben in jenem Gespräch mit Eckermann? »Von Menander kenne ich nur die wenigen Bruchstücke, aber diese geben mir von ihm gleichfalls eine so hohe Idee, daß ich diesen großen Griechen für den einzigen Menschen halte, der mit Molière wäre zu vergleichen gewesen.« Aber weder Shakespeare noch Calderon könnten in eine Beziehung zu Euripides und Menander gebracht werden. Schlegel weiß auch das und spricht es aus. Es hat keinen Sinn, einzelne seiner Urteile anzunehmen, andere abzulehnen; denn um was es sich handelt, sind nicht Einzelurteile, sondern eine Gesamtanschauung, aus der sich Wertungen von Individuen nicht willkürlich abheben, sondern mit Notwendigkeit ergeben. Übers europäische Theater schließlich war der Kenner der Griechen, der Übersetzer Shakespeares und Calderons doch kompetenter als der Bearbeiter von »Romeo und Julia« und des »Zerbrochenen Krugs« ...

Was Faguet anlangt, so war er zu lang Theaterkritiker, um auf die Dauer an die Gymnasialdogmen über das klassische Theater zu glauben. Ich möchte auf die Musik exemplifizieren: In der Musik lassen wir uns nicht den Pietätsdunst vorblasen wie in der Literatur. Wir sprechen ruhig von einem auch einmal schwachen Beethoven oder einem gelegentlich ledernen Brahms, nennen vieles von Händel offen veraltet, manches selbst von Bach. Wollten die Musikhistoriker versuchen, uns einen Komponisten als lebendig aufzureden, der durch die Entwicklung resorbiert und erledigt worden ist, so würde ihnen das gar nichts nützen. In der Literatur schminken und frisieren wir eine Menge verstorbener Honoratioren und setzen sie aufs Pferd wie den toten Cid. Fällt dann der alte Herr prompt auf der anderen Seite herunter, so gelten die Leute, die davor warnen, als pietätlos, und nicht, die ihn hinaufgebunden haben, als Pietätsspekulanten. Musiker werden entweder aufgeführt oder nicht. Dichter werden immer weiter mitgeschleppt. Verstaubte Oratorien bleiben auf dem Speicher der Jahrhunderte. Verstaubte Romane werden ausgeklopft und auf Bütten gedruckt. Kein Publikum der Welt ließe sich in der Musik die Gleichsetzung von absoluten und relativen Werten gefallen wie in der Literatur. In der Musik weiß man genau: das da ist Lortzing, ein lieber, reizender Musikant; das da Rossini, ein köstlicher Improvisator; und das da der Figaro, und das ist große Musik. In der Musik scheint wirklich die Einheitlichkeit des Maßstabes angeboren und die Unbestechlichkeit des innern Ohres elementar.

Der Standpunkt der Literaturgeschichte ist ein rückständiges Kompromiß. Wir beurteilen Werke, die vor einem zeitlich und räumlich begrenzten Publikum bestanden haben, mit einem Respekt, der für die zeit- und publikumslosen Schöpfungen gerade groß genug wäre. Wir sind tolerant. Wir fühlen uns ein. Wir geben das Maß der Weltliteratur mit unserm Überzieher in der Garderobe ab, mieten vom Logendiener das Opernglas, dessen sich seit hundert Jahren jede Generation Abonnenten bedient, entzückt über seine Vergrößerung und blind gegen seine Blindheit.

Umwertungen der Literatur brauchen ihre Zeit, bis sie sich durchsetzen. Schlegels Einsicht von 1810 ist noch nicht die Ansicht von 1910. Ein selbständiger Kopf wie Faguet ist so weit. Der Durchschnitt noch lange nicht. Sein Rezept ist: erst totschweigen, dann bekämpfen, am Schluß hat er's von je gesagt. Augenblicklich befinden wir uns im zweiten Stadium.

*

In einem seiner Totengespräche stellt Fontenelle Molière und Paracelsus einander gegenüber. Der Dialog ist einer seiner besten. Er läßt Molière zum Schlüsse sagen: »Ihr kehrt zurück zu Euren Elementargeistern, und ich kenne nichts als meine Dummköpfe.« Schimmert nicht durch den Schatten des Paracelsus ein größerer hindurch, der Molières gegebener Gesprächspartner gewesen wäre? Diesen Dialog freilich hätte nur W.S. Landor schreiben können, und in ihm hätte Shakespeares Wort aus dem »Kaufmann« nicht fehlen dürfen: »Der Mann, der nicht Musik hat in sich selbst...« Für Shakespeare weitet sich die Komödie zur Welt. Für Molière verengt sich die Welt zur Komödie. Sie ist vernagelt durch die Bretter, die sie bedeuten.


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