Josef Hofmiller
Franzosen
Josef Hofmiller

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Frau von Staël's »Deutschland«

Deutschland ist zweimal entdeckt worden: das erstemal für die Römer durch Tacitus, das andere Mal für die Franzosen durch Frau von Staël. Beide Entdecker verfolgen neben ihrem ausgesprochenen Zweck: das fremde Volk kennen zu lehren, eine unausgesprochene Nebenabsicht: dem eigenen, das beide im Verfall begriffen sehen, das Bild dessen vorzuhalten, was ihm fehlt, was es braucht, woran es genesen könnte.

De l'Allemagne ist begonnen worden nicht aus Liebe zu Deutschland, sondern aus Trotz gegen Napoleon, der die Verfasserin, in der er instinktiv eine feindliche Macht witterte, auf Grund einer Schrift über Literatur und des Romans Delphine vierzig Meilen von Paris verbannt hatte. Sie reist nach Deutschland, das ihr, wie aus ihren Briefen hervorgeht, anfangs in jeder Beziehung greulich vorkommt, bis sie am 13. Dezember 1803 in Weimar anlangt, das ihr »entschieden kultiviert« erscheint: »denn Delphine ist in der ganzen hiesigen Lesewelt bekannt!« Mehr: der Hof lädt sie ein, der Herzog besucht sie, Goethe, Schiller, Wieland lassen das geistreiche Geprassel ihres Gesprächs über sich ergehen. In Berlin trifft sie A. W. von Schlegel, der sie nach ihrem Landsitz Coppet am Genfer See und auf ihrer Reise nach Italien begleitet und ihrem Buche mehr Pate gestanden ist, als wir beweisen können. 1807 und 1808 wiederholt sie die Reise, 1810 kommt das Werk heraus, das auf Napoleons Befehl sofort eingestampft wird. Eine 1813 in London, nach dem einzigen geretteten Exemplar, veranstaltete Ausgabe ist binnen drei Tagen vergriffen. Erst 1814, nach Napoleons Sturz, kann es in Paris erscheinen.

Ihm verdanken die Franzosen, was sie über Deutschland wissen. Dieser zugleich erste und letzte wirklich große Versuch von französischer Seite, die chinesische Mauer niederzureißen, die durch die französische Renaissance angelegt war, durch das Große Jahrhundert erhöht, durch das achtzehnte malerisch verwahrlost, aber nirgends durchgebrochen, wurde unternommen von einer geborenen Pariserin, die trotzdem keine Französin war. Ihre Mutter war jene Susanne Curchod, deren Gestalt wie ein zärtliches Epigramm im gelehrten Texte der Autobiographie Gibbons einen Augenblick lang vorüberschwebt, Tochter eines reformierten Geistlichen, so gescheit und so lieblich zugleich, daß der Engländer bekennt: »Ich sah und liebte.« Ihre Großmutter hatte um ihres Glaubens willen Frankreich verlassen. Ihr Vater, der Genfer Bankier und nachmalige Minister Necker, hatte brandenburgisches Blut in den Adern. Sie selbst war so sehr Pfarrerstochter und Pfarrersenkelin, daß sie Sonntags ihren Kindern die Predigten des Großvaters vorlas. Pastorenblut und Märkerblut – das mußte aufwallen, als sie deutschen Boden betrat. Eine Pariserin aus Paris hätte nie diese Bücher schreiben können, und wäre sie noch so geistreich gewesen; ihr Esprit wäre ihrer Ehrlichkeit im Weg gestanden. Das reformierte Pfarrhaus gab Anne-Louise-Necker, die ihrem deutschen Großvater zu Ehren den dritten und von ihr bevorzugten Taufnamen Germaine erhielt, den Schlüssel zum deutschen Wesen.

Wenn man sich fragen darf, ob dies Buch geschrieben worden wäre, hätte die Bitte der Verfasserin um Fürsprache beim ersten Konsul, die sie bei Joseph Bonaparte einlegte, ein gnädiges Ohr gefunden, so kann man nicht zweifeln, daß die Liebe zu Deutschland, die zuerst nur Maske gekränkten Trotzes sein mochte, ihr im Laufe der Arbeit Herzenssache geworden ist; man darf es um so weniger, als De l'Allemagne auf höherer Spirale an die Thesen anknüpft, die sie in ihrer glänzenden Schrift De la Littérature considérée dans ses Rapports avec les Institutions sociales behandelt hatte. In ihren Fußtapfen pilgern die Nachfahrenden alle nach Deutschland, die Ampère, Quinet, Renan, Hugo, Sainte-Beuve, bis auf Taine, der 1870, wie Frau von Staël, ein Werk über das zeitgenössische Deutschland schreiben wollte, nach Frankfurt und Weimar reiste wie sie, als ihn zwei Tage vor der Kriegserklärung ein Trauerfall jäh nach Hause rief. Er schrieb das Werk nicht mehr, weil er fühlte, daß er nicht objektiv sein könne; aber in die Notes sur l'Angleterre, deren endgültige Fassung in die Jahre 1871/72 fällt, ist wohl einiges von dem deutschen Plan, wenigstens von seiner Grundstimmung, hinübergeflossen, sicher jene deutliche Tendenz, zu erforschen und zu zeigen, woran es Frankreich gebricht, was es braucht, woran es genesen könnte.

Daß De l'Allemagne während des Kriegs eine Rolle spielen würde, war anzunehmen. Weniger, daß es in Frankreich, hundert Jahre nach seinem Erscheinen, Anlaß zu so heftigen Meinungsverschiedenheiten geben könnte, wie sie sich offenbaren in der Polemik zwischen Ernest Denis von der Sorbonne, der die Vermutung wagt, die Gegner der Frau von Staël hätten ihr Werk nicht gelesen und seien schwerlich fähig, es zu verstehen, und Louis Reynaud, der die Verfasserin unwissend nennt, ihr Buch unvollständig, parteiisch und »manchmal perfid«. Wer es gelesen hat, vermag Reynauds Entrüstung zu verstehen, auch wenn er, selbst als Franzose, ablehnt, sie zu teilen. Denn mit seiner begeisterten Darstellung der deutschen Geistigkeit verbindet es eine verzweifelnde Kritik der französischen. Wenn schon der Kampf der Bataillone auf die stille Welt der Bibliotheken übergreift, steht das Werk der Frau von Staël nicht in der französischen Schlachtlinie, sondern in der deutschen. Der Franzose kann es nicht lesen, ohne sich verwundet, der Deutsche nicht, ohne sich gestärkt zu fühlen. Was Frau von Staël ihren Zeit- und Volksgenossen als überlegen vorführt, ist die deutsche Kultur der klassischen Zeit, deren Äußerungen, soweit sie ihr zugänglich waren, auf sie einen tiefen Eindruck machten, wenn sie ihr auch zum Teil nur halbklar dämmerten, wie die Philosophie, zum Teil verschlossen waren, wie die Musik.

Es wäre aus verschiedenen Gründen wertvoll zu wissen, ob die deutschen Übersetzungen des Werks (es ist u. a. bei Reclam zu haben) während des Kriegs bei uns mehr gelesen worden sind als vorher, und wenn, ob die Deutschen von 1916 es besser lesen gelernt haben als die von 1816. Man müßte daran zweifeln, wollte man nach den verkürzten Ausgaben urteilen, die für unsern französischen Unterricht davon gemacht worden waren und sich auf den vergänglichsten, wenn auch bei seinem Erscheinen aktuellsten Teil seines reichen Inhalts beschränkten, nämlich die Urteile über deutsche Literatur, besonders über die Werke Goethes und Schillers: Urteile, die schon zur Zeit ihres Erscheinens vielfach halbwahr, schief und oberflächlich waren und inzwischen zum großen Teil, einzelnen gescheiten Bemerkungen zum Trotz, belanglos geworden sind. Wenn das Werk auf die Zeitgenossen stofflich vor allem durch den zweiten Abschnitt »Literatur und Kunst« wirkte, so sind, je mehr es zeitlich zurücktrat, die drei anderen bedeutender geworden: Deutschland und deutsches Leben; Philosophie und Moral; Glaube und Begeisterung, und aus ihnen wiederum weniger das, was die Verfasserin bewußt als Thema und These aufstellt und durchführt, sondern die über das ganze Werk verstreuten Bemerkungen, die sie scheinbar unabsichtlich und nebenbei hinwirft, die manchmal kaum zur Sache gehören und vor denen der heutige Leser dennoch betroffen innehält, weil sie oft sind wie Blitze, so hell und so scharf. Aus ihnen formen sich neue Bücher, die in dem einen Buch stecken. Eins über den Franzosen, eins über den Charakter des Deutschen als Einzelwesen, eins über den Charakter des deutschen Volks, seine guten und schlimmen Anlagen und Neigungen. Dies dritte war das wichtigste, als das Buch erschien, und ist heute das wichtigste, nach mehr als hundert Jahren. Es ist zugleich dasjenige, welches die Deutschen am schlechtesten gelesen haben, da es ihnen neben manchen erfreulichen viele unangenehme Wahrheiten sagt.

Aber ist das Bild, das Frau von Staël vom deutschen Volk zeichnet, nicht das denkbar wohlwollendste? Sieht sie nicht, wie arm dieses Volk ist und doch wie edel? Wie einsam, modelos und gesellschaftslos der Deutsche lebt? Bewundert sie nicht seine Arbeitsamkeit und seine Redlichkeit, seine Gerechtigkeit, seinen Gehorsam, seine Geduld? Gewiß, aber sie gibt immer wieder zu verstehen, daß all diese Eigenschaften, so vortrefflich sie für den Einzelnen sein mögen, so wertvoll für den geistigen und sittlichen Zustand einer Gesellschaft, dennoch unzulänglich werden, sogar hemmend, gefährlich, verhängnisvoll, sobald es sich nicht mehr um den Einzelnen handelt, sondern um das Volk, nicht um die Gesellschaft, sondern um die Nation, nicht um Kultur, sondern um Politik. Dann werden private Tugenden zur öffentlichen Gefahr. Sie sieht dies edle, begabte Volk in tiefer Erniedrigung als Nation und läßt durchblicken – offen darf sie nicht schreiben wegen der auf jeden verfänglichen Satz lauernden Zensur Napoleons –, diese Erniedrigung sei nicht verschuldet. Sie kommt aus einem Land, das politisch die verkörperte Aktivität ist, in ein Land, das politisch die völlige Passivität scheint. Frankreich hat die Initiative ergriffen für Europa. Das, was man den französischen Gedanken nennen kann, stürmt auf der ganzen Linie siegreich vor, während der deutsche Gedanke außerhalb Deutschlands unbekannt ist, weil ihm, um so viel er auch reicher und tiefer ist, die unwiderstehliche Stoßkraft der großen Politik fehlt. Sie kommt aus einer Luft, die mit Politik geladen ist bis zur Explosion, in eine gänzlich unpolitische Atmosphäre; so wohltätig sie deren Reinheit empfindet, so klar erkennt sie, daß es die Reinheit nach einem grauenhaften Unwetter ist, das die Fluren verwüstet hat und von dem sich das Land noch lange nicht erholen wird. So steht hinter all ihrer Begeisterung für das deutsche Wesen immer wieder die bange Frage: Was vermag die feinste und edelste Geistigkeit in dieser Welt höchst realer Kämpfe? Was bedeutet aller Gehorsam und alle Geduld, alle Redlichkeit und alle Gerechtigkeit gegenüber einem Herrenvolk wie die Franzosen es sind unter Napoleon? Glaubt ihr, Paris könne bekriegt, geschweige besiegt werden durch Weimar?

Die Deutschen haben private Vorzüge, aber keine politische Begabung. Das ist die Überzeugung, die durchs ganze Buch geht. Sie sind ehrlich und treu, vielleicht zu ehrlich und zu treuherzig, um ein politisches Volk zu sein. Die Ehrlichkeit ist ihnen so sehr zur Gewohnheit geworden, so zur zweiten Natur, daß sie sich zu politischen Ränken ungeschickt anstellen. In dieser Kunst, sich von allen Pflichten zu lösen, sind die lateinischen Völker auffällig gewandt; ihre Geschmeidigkeit ist so groß, daß sie jede Wahrheit beugen zugunsten eines Interesses, jede Verpflichtung opfern für eine Berechnung. Die Deutschen müssen, um ihrer Vorzüge, wie um ihrer Fehler willen, redlich und gerecht sein. Was Frau von Staël hier höflich sagt, ließe sich schließlich etwas weniger verbindlich so ausdrücken: Die Deutschen sind zur Politik zu dumm. Sie machen aus ihrer Not eine Tugend – aus Nöten Tugenden zu machen ist ihre Spezialität – und nennen diese Tugend Ehrlichkeit. In der Politik ehrlich zu sein, ist aber ungefähr dasselbe, wie mit offenen gegen gedeckte Karten zu spielen und das Spiel durch Charakter gewinnen zu wollen, anstatt durch Kenntnis.

Hand in Hand mit dieser bedenklichen Ehrlichkeit geht eine Objektivität, die sich schließlich gegen sich selber richtet: »Der deutsche Geist zerstört sich selbst vor lauter Unparteilichkeit«, heißt es einmal; le luxe de la justice an einer andern Stelle. Wenn der Engländer sagt Charity begins at home, so handelt der Deutsche nach der Parodie dieses Sprichworts Justice begins abroad. Er fühlt ein tiefes Bedürfnis, dem Ausland Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Wenn dabei sein Vaterland unter die Räder gerät, so ist das eine Folge, über die er sich erst in zweiter Linie Gedanken macht: fiat justitia, pereat patria! Man darf nicht vergessen, daß Frau von Staël in einer Zeit völliger politischer Ohnmacht Deutschlands schrieb. Es war begreiflich, wenn ein Volk, das politisch noch in den Kinderschuhen steckte und noch durch keine politische Schule gegangen war, sich den Luxus deplazierter Gerechtigkeit leistete. Weniger verständlich ist, wenn heute noch Deutsche wähnen, man könne mit Gerechtigkeit Politik, mit Gerechtigkeit es irgend jemandem recht machen. Die Einführung ethischer Abstrakta in den politischen Jargon war vom politischen Standpunkt aus klug: jedes Mittel, die eigenen Absichten zu verhüllen, ist in der Politik brauchbar. Aber wenn die Ethiker glauben, deshalb in die Politik hineinreden zu dürfen, so ist dies ein erheiterndes Mißverständnis, und man muß ihnen zurufen: Schuster, bleib bei deiner Ethik! Oder, wie Frau von Staël, immer höflich, es ausdrückt: »Die philosophischen Spekulationen passen nur für eine beschränkte Anzahl von Denkern.«

»Keine abstrakte Theorie ist stark genug, um eine Nation energisch zu machen; nur politische und religiöse Institutionen können den Geist eines Volkes formen; man kann nicht leugnen, daß die heutigen Deutschen keinen Charakter haben. Sie sind tugendhaft, lauter, als Privatmenschen, als Familienväter, als Beamte; aber ihre gefällige und nachgiebige Beflissenheit bezüglich politischer Macht wirkt peinlich.« Frau von Staël fügt ausdrücklich hinzu, sie bitte, zu bedenken, daß sie dies in der Zeit völliger Knechtschaft Deutschlands schreibe. Und doch hat sich ihre Beobachtung leur empressement gracieux et complaisant pour le pouvoir fait de la peine noch lange nach den Freiheitskriegen richtig erwiesen, und ihr Gefühl on est irrité contre les Allemands quand on les voit manquer d'energie ist die Stimmung, die ein großer Teil der deutschen Geschichte im neunzehnten Jahrhundert erweckt. Sie fährt mit einer feinen und tiefen Bemerkung weiter: Die Deutschen seien überhaupt nur dann erträglich, wenn sie groß und energisch seien. »Ihr Gesichtsausdruck und ihre Manieren scheinen eine feste Seele anzukündigen; desto unangenehmer ist man enttäuscht, wenn man sie nicht findet. Die Deutschen selber wagen diese Schwäche, die ihnen so übel ansteht, nicht zu bekennen, daher sind sie energisch unter Schmeicheleien und unterwürfig mit dem Schein von Kraft. Sie lieben Härte in Worten, um die Nachgiebigkeiten im Innern zu verstecken.« Oder, wie sie an anderer Stelle sagt: »Die Charakterschwäche der Deutschen zeigt sich deutlich unter ihrer Vorliebe für starke Worte und rauhe Formen.« »Solang man streng und fest ist, darf man auch plump und steif sein; aber verhüllt man diese natürliche Steifheit mit dem falschen Lächeln der Servilität, so setzt man sich nur verdienter Lächerlichkeit aus, und man ... verliert die Ehre seiner Bravheit, ohne zum Profit seiner Geschicklichkeit zu gelangen ... Die Deutschen träumen viel von Charakterstärke, sie möchten sie gern, sie begreifen sie theoretisch, aber in der Praxis fehlt sie ihnen oft.« Überraschend und unvermittelt fährt sie fort: »In Deutschland gibt es ganz wenige Menschen, die über Politik nur zu schreiben verständen. Die meisten, die sich damit befassen, sind Systematiker und oft unverständlich.« Ist es nicht, als hätte sie schon jene nichts als geistreichen und oft nicht einmal geistreichen Scharteken vorgeahnt, die von Politikern für philiosophisch, von Philosophen für politisch gehalten werden? »Mit Theorien«, urteilt sie über derlei Zwitterprodukte, »täuscht man keinen Menschen und bekehrt keinen Menschen.« Außer in Deutschland, gibt sie zu verstehen: »in jeder Beziehung sind die Deutschen in der Theorie stärker als in der Praxis«.

Mit dieser Erkenntnis berührt sie tatsächlich einen Grund- und Erbfehler unseres Nationalcharakters: das fortiter in modo, suabiter in re, erst drohend mit dem Schwert rasseln, aber schließlich doch nachgeben. Überall auf der Welt werden die Suppen weniger warm gegessen, als sie aufgetragen werden. Aber der Deutsche serviert sie besonders heiß, um sie desto lauer blasen zu können. Bei der alten napolitanischen Miliz gab's ein besonderes Kommando vor dem Angriff: faccia feroce, ein grimmiges Gesicht machen. Auch in der Politik hat der Deutsche eine Neigung zur faccia feroce. Dieser Zug läßt sich bis in die Männermode hinein verfolgen: was ist die »Deutsche Barttracht« Wilhelms II., wegen deren man uns in ganz Europa ausgelacht hat, anderes gewesen als faccia feroce?...

Die Deutschen müssen viel weltläufiger werden, sagt sie an anderer Stelle. Größe und Energie des Charakters ist ein schönes Ding, aber man verzichtet damit bis zu einem gewissen Grad auf die Möglichkeiten, die Menschen nach seinem Willen und seinen Bedürfnissen zu lenken. »Die Franzosen sind die geschicktesten Diplomaten Europas, und diese Menschen, die man gern für indiskret und dreist hält, können ein Geheimnis besser für sich behalten als irgendwer auf der Welt und die Menschen einfangen, die sie brauchen. Sie stoßen nur dann vor den Kopf, wenn sie vor den Kopf stoßen wollen... und ihr Sinn für den Reiz des Geplauders hat bei ihnen eine sehr ernstzunehmende Begabung für politische Verhandlungen entwickelt.« Man denkt unwillkürlich an Bismarck, wenn sie weiterfährt: »Es gibt keinen fremden Gesandten, der in dem Punkt gegen die Franzosen ankämpfen könnte, wenn er nicht unbedingt jeden Anspruch auf Feinheit beiseite läßt und bei Verhandlungen kerzengerad aufs Ziel losgeht.« Aber wissen wir nicht aus den Schilderungen aller Ausländer, die mit Bismarck zu tun hatten, welchen Reiz sein Gespräch hatte und wie er die Kunst des Plauderns verstand wie nur irgendein Franzose?

Überhaupt täten die Deutschen gut, verschiedene Dinge von den Franzosen zu lernen: »Sie sollten lernen, bei Kleinigkeiten nicht gleich einzuschnappen, um all ihre Kraft für die großen Gelegenheiten aufzusparen; sie sollten von den Franzosen lernen, nicht Eigensinn mit Kraft zu verwechseln und Rauheit mit Festigkeit; sie sollten lernen, egoistisch im großen Stil zu sein und nicht sich in Lappalien zu verzetteln.« Vor allem aber müßten sie viel stolzer werden: »Nicht nur ihr Charakter ist zu gutmütig, auch ihr Geist; sie sind vielleicht die einzigen Menschen, denen man Hochmut anempfehlen könnte als ein Mittel, besser zu werden.« »In der Literatur wie in der Politik haben die Deutschen zuviel Respekt vor dem Ausland und zu wenig nationale Vorurteile. Bei Individuen ist Selbstverleugnung und Hochschätzung des Nächsten eine Tugend; aber die Vaterlandsliebe der Nationen muß egoistisch ein. Der Hochmut der Engländer ist eine gewaltige Stütze ihrer Politik.«

Was Frau von Staël besonders von den Süddeutschen sagt, ist eine Gefahr der Deutschen überhaupt: »Das Ziel ihrer Wünsche ist, weiterhin zu leben wie bisher. Aber wie weit kommt man mit einem solchen Ziele? Man behält nicht einmal das, womit man sich begnügen möchte!« Damit spricht sie aus, daß die Betonung der Saturiertheit, wenn sie etwas anderes sein soll als eine Finte, nur das Eingeständnis sein kann, man habe kein Ziel, zugleich an die andern, die ein Ziel haben, die Aufforderung, sich keinen Zwang anzutun und zuzugreifen. Politik ist nun einmal Konkurrenzkampf. Ein Konkurrent aber, der immer wieder versichert, er sei völlig saturiert, wird zur Nichtsaturiertheit entweder gezwungen, oder er wird über kurz oder lang bankrott. Der Anschein eines gleichbleibenden Zustandes ist trügerisch und verräterisch. Leben heißt sich unaufhörlich wandeln. Sich nicht mehr verändern wollen, heißt sterben wollen. Den Willen zur Macht verleugnen, bedeutet Wille zur Ohnmacht. Quia unusquisque tantum juris habet, quantum potentia valet (Spinoza). Darum reitet alles, was impotent ist, auf dem Steckenpferd einer internationalen Gerechtigkeit: ein niedliches Spiel, aber nichts für Erwachsene.

Auf der ganzen Welt wird respektiert, wer etwas will, und klar heraussagt, was er will. Wobei der erfahrene Billardspieler nicht vergißt, daß man die schönen Bälle indirekt spielt. Am meisten Mißtrauen gegen sich erweckt, wer nicht mit der Sprache herausrückt: eine plausible Lüge ist immer besser als eine kompromittierende Wahrheit. Am verdächtigsten wird, wer laviert ohne Ziel. Lavieren mit Ziel ist ein famoser Sport, manchmal riskant, aber wie alle riskanten Sporte, lockend. Besonders gegen Schluß zu, wenn die Zuschauer die Hälse recken und die schönen Wetten abgeschlossen werden. Aber »die Deutschen«, warnt Frau von Staël, »kommen in Verlegenheit, wenn sich's darum handelt, Schluß zu machen; auf sie vor allem könnte man das chinesische Sprichwort anwenden: Wenn man zehn Schritte zu machen hat, sind neun halbwegs.« Une volonté de plus! ruft sie ihnen im Vorwort zu: noch eine Willensanstrengung, und alles ist gewonnen! Darum wird sie durch die Klagen der Deutschen ihrer Zeit nur zornig: »Man ist immer wieder versucht, ihnen zu sagen wie die junge Mancini zu Ludwig XIV.: Vous êtes roi, Sire, et vous pleurez! Ihr seid eine Nation, und ihr jammert!«

Dies ist das Deutschland, das Frau von Staël will. Sie ist ungeduldig, ein so großes Volk sich mit den Erfolgen seiner Geistigkeit bescheiden zu sehen. Für ihre Energie haben wir einen unverdächtigen Zeugen, den alten Arndt, der an zwei Stellen seines Lebenslaufs erzählt, es sei eine Wonne gewesen, zwei solche Prachtmenschen miteinander in feurigem Gespräch zu sehen wie sie und den Reichsfreiherrn vom Stein. Es war ein kostbares Geschenk, das sie unserm Volk vor hundert Jahren mit ihrem Buche gab. Aber dies Geschenk ist fast zur Danaergabe geworden. Man beliebte nur das Schmeichelhafte zu lesen, was sie über Dichtung und Philosophie der Deutschen zu sagen wußte, dagegen, was sie über deutsche Politik schrieb, geflissentlich zu überschlagen. Ihr günstiges Urteil über das geistige Deutschland wurde mit der Zeit ein Requisit des europäischen Phrasenschatzes, ihre scharfen Bemerkungen über das politische wurden vertuscht und gerieten in Vergessenheit. Es war von jeher eine deutsche Gefahr, auf Schmeicheleien hereinzufallen. Wenn die Schmeichelei so begründet schien, mit soviel Wärme und Begeisterung vorgebracht wurde, wie hätte sie nicht allmählich ein festes Vorurteil gerade in Deutschland! selbst werden sollen? Wir waren von Natur geneigt, über selbstgefälliger Betrachtung dessen, was man deutsche Kultur nennt, unsere politischen Notwendigkeiten zu versäumen und zu vergessen. Es gibt von Nationen nicht nur gehässige Zerrbilder, sondern auch geschmeichelte, und die plumpen schaden weniger als die feinen. Bulwers »Volk der Dichter und Denker« hat im Ausland stets eine gute Presse gehabt, wenn auch manchmal mit einem nicht gänzlich unterdrückten Unterton schadenfroher Verachtung. Wehe aber, als dies Volk so kühn war, sich von der mythischen Bierbank aufzurecken, die legendäre lange Pfeife wegzulegen, Maschinen zu bauen und Kanonen und am Ende gar Kriegsschiffe! Empört beschwor man im Ausland De l'Allemagne gegen das neue Deutschland herauf, alles wurde versucht, angefangen vom Friedensleim des Herrschers aller Reussen für deutsche Gimpel bis zu jenen Verbrüderungsbanketten, auf denen die reine Vernunft deutscher Professoren mit der praktischen Vernunft englischer Politiker herzlich Schmollis trank, derweil sich geräuschlos irgendwo ein Riegel vorschob und ein Schlüssel drehte.

Es ist das Deutschland der Frau von Staël, dessen Verschwinden unsere Gegner von heute aufrichtig beklagen, weil es arm und schüchtern war, geduldig und ehrlich, eine friedliche, idyllische Enklave der europäischen Karte. So geistig, daß sein Körper nicht im Wege stand. So edel, daß jeder Gauner es prellen konnte. Eine sympathisch machtlose, reizend wehrlose Beute für jeden, der Zähne hatte und Pranken.

Wenn die Westmächte verkünden, dieses »gute alte Deutschland« müsse um jeden Preis wiederhergestellt, die abtrünnigen Deutschen mit Gewalt wieder zu ihren früheren Idealen bekehrt, Potsdam und Essen vernichtet, Weimar und Jena vervielfältigt werden, so schätzen wir die Ehrlichkeit dieser Wünsche nach Gebühr. Aber was sollen wir zu jenen durchaus nicht immer harmlosen, selbst in ihrer Harmlosigkeit aber doppelt schädlichen deutschen Intellektuellen sagen, die sich heute diese Parole zu eigen machen, heute noch die weltbürgerlichen Vorstellungen einsamer Denker eines geknechteten Volks gegen eine Entwicklung ausspielen wollen, die über die ganze Welt hingebraust ist und das Antlitz der Erde erneuert hat? Sie haben nichts gelernt und nichts vergessen. Unbelehrbar durch Tatsachen, unbekehrbar durch die Geschichte, leiern sie heute noch die doktrinären Phrasen herunter, über die das grünste Mitglied des Unterhauses oder des Palais Bourbon heimlich lacht, wenn es sie auch auf internationalen Kongressen und ähnlichen Kinderredouten pathetisch hervorholt nach dem alten Rezept, das Frau von Staël schon ausgeplaudert hat: »Nach den Kolonien und nach Deutschland exportiert Frankreich seine Ladenhüter« (les marchandes des modes, en France, envoient aux colonies, dans l'Allemagne et dans le Nord, ce qu'elles appellent vulgairement le fonds de boutique: ein Satz, der hundert Jahre vor der Beglückung deutscher Gemäldegalerien mit von Herrschaften abgelegten Delacroix und Cézanne geschrieben wurde). Sie wollen uns glauben machen, wir brauchten bloß Potsdam abzuschwören und es stiege Athen aus der Tiefe, das Athen der Kaiserzeit, ein vornehmes Universitätsstädtchen von alter Kultur. Oder sollte für die Idealisten von Nachbars Geldbeutel unter ihnen am Ende weniger das Athen der Kaiserzeit das Ideal sein, als das Venedig Casanovas, eine elegant vermodernde Cythereninsel mit Kunst, Jeu und Weibern?

Man muß wollen, mit ganzer Energie wollen, das scheint Frau von Staël das Geheimnis der erfolgreichen Politik. Gescheitheit und Kenntnisse nutzen gar nichts, wenn ein Ziel und der Wille zum Ziel fehlt. »Die moderne Erweiterung der Kenntnisse schwächt nur den Charakter, wenn er nicht gleichzeitig gestärkt wird durch fortwährende politische Praxis und die Energie des Wollens.« Sie tadelt an den Österreichern, »sie beschäftigten sich stets nur mit der Kunst zu mäßigen, anstatt mit der: anzuspornen.« Es sei ihr großer Irrtum, »zu glauben, man brauche bloß sich zu behaupten, um sich wohl zu befinden, und man brauche auf keinem Gebiet die außerordentliche Hilfe überlegener Begabungen. In friedlichen Zeiten kann man sie freilich entbehren; aber was soll man ohne sie tun in kritischen?«


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