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Zehntes Kapitel.
Im heiligen Forst

» Sie wollen's: So reiße denn, deutsche Geduld!
Reiß durch von dem Belt bis zum Rheine!
Wir fordern die lange gestundete Schuld –
Auf! Welsche, und rühret die Beine.
Wir wollen im Spiel der Schwerter und Lanzen
Den wilden, den blutigen Tanz mit euch tanzen.
Es klinge die Losung: Zum Rhein! Übern Rhein!
All-Deutschland in Frankreich hinein

(E. M. Arndt.)

Die Völkerschlacht war geschlagen, die Kraft des französischen Heeres erschöpft und von Napoleon das Zeichen zum Rückzug gegeben worden. Während die Sieger am Morgen des 19. Oktobers sich anschickten, die Tore der Stadt im Süden, Osten und Norden zu erstürmen, ergriffen die Franzosen in panischem Schrecken die Flucht. Jeder suchte sich zu retten, und Tausende warfen ihre Waffen fort. Auch Napoleon fühlte die Notwendigkeit, die schützenden Mauern Leipzigs zu verlassen. Um die neunte Morgenstunde ritt er dem Marktplatz zu, um da vor dem sogenannten Apelschen Hause Halt zu machen, denn dort wohnte sein treuer Verbündeter, der arme Sachsenkönig, der jetzt seinem bösen Geschicke entgegenzitterte. Fast eine volle Stunde verweilten die Monarchen beieinander; der König hatte Tränen, seine hohe Gemahlin dagegen harte Worte für den fremden Eroberer, und somit war sein Abschied, wenigstens von der Königin, sehr kalt und kurz. Sodann ritt Napoleon mit seinem Gefolge schräg über den Markt nach der Hainstraße, die aber mit Kanonen, Pulverwagen und Truppen so vollgestopft war, daß er nicht durchzukommen vermochte, so daß er sich durch das Peterstor und die Allee dem Ranstädter Steinweg nähern mußte.

Auf dem Ranstädter Steinwege zu Leipzig 1813.

Zwei Leipziger Bürger standen an einem Fenster und sahen den geschlagenen Zwingherrn vorbeireiten.

»Oh Gott,« rief der eine und fiel dem andern um den Hals, »wäre es doch das letzte Mal, daß wir ihn sähen!«

Nur mit Mühe erreichte der Franzosenkaiser den Ranstädter Steinweg, wo ein nicht zu beschreibendes Getümmel stattfand, denn alle die vielen Tausende flüchtiger Franzosen und Rheinbündler drängten dem Tore zu. In der Brust der Besiegten tobten Verzweiflung und wilder Groll; beim Erscheinen Napoleons wurden Verwünschungen und Flüche laut. Aus einem badischen Bataillon ertönte der Ruf: »Gottlob, nun muß auch er auskratzen.«

Nirgends machte man ihm Platz, selbst die Säbelhiebe seines Gefolges fruchteten nichts. Der Weltenbezwinger mochte in diesem Augenblicke wohl fühlen, daß sein Stern im Erbleichen sei.

In der Tat, es war vorbei mit all seiner Herrlichkeit, und bald nach dem ruhmreichen 18. Oktober rückten die Heere der Verbündeten mit der Devise nach dem Rheine vor:

»Allen Sündern soll vergeben
Und die Hölle nicht mehr sein!« Generalfeldmarschall von Müffling: Zur Kriegsgeschichte der Jahre 1813 und 14, Seite 115.

Am Silvestertage erreichte die Abteilung des Wittgensteinschen Korps, zu der unsre Freunde gehörten, das badische Dorf Illingen und traf hier mit einer österreichischen Schwadron zusammen, die sich zehn Tage früher von dem Schwarzenbergschen Heere bei Basel abgezweigt hatte, um als fliegende Kolonne zwischen der österreichischen und der schlesischen Armee zu operieren.

Da sämtliche Hütten des Dorfes bereits von den Schwarzenbergschen Reitern in Beschlag genommen worden waren, so entstand eine um so peinlichere Quartiernot, als die strenge Winterkälte kaum ein Biwak im Freien gestattete. Die gemütlichen Österreicher fanden indessen bald Rat, sie rückten in ihren Quartieren zusammen und machten auf diese Weise Platz für die preußischen und russischen Kameraden. Nur ein einziger Kosakenpulk fand kein Unterkommen; da die Feldflaschen der Mannschaften jedoch mit dem beliebten Branntwein gefüllt wurden, zog die Abteilung mit ihren kleinen Pferden lustig und wohlgemut zum Vorpostendienste aus.

Katte und Hirschfeld teilten ihre Stube mit einem österreichischen Offizier, dessen schmucke Persönlichkeit und intelligente Gesichtszüge seine Bekanntschaft wünschenswert erscheinen ließen. Das Interesse der Freunde ging indessen in ein freudiges Erstaunen über, als der fremde Rittmeister ihnen, nachdem er ihre Namen erfahren hatte, ein Billett der Gräfin von Lübbenau überreichte. Sie befand sich im Hauptquartiere Schwarzenbergs, da ihr Gatte zu dessen Generalstabsoffizieren gehörte. In ihrer fröhlichen Laune sandte sie den preußischen Freunden Grüße zu und schloß mit einem: »Auf Wiedersehen in Paris!«

»Die Gräfin«, bemerkte der Rittmeister, nachdem das Billett von Katte und Hirschfeld gelesen war, »hat mir noch aufgetragen, Sie in ihrem Namen einzuladen, es sich nach dem Einzuge in Paris im Palais Bruneville bequem zu machen.«

»Wir werden, falls uns der Kriegsgott siegreich nach der großen Weltstadt führt, die freundliche Einladung nicht vergessen«, erwiderte Katte verbindlich.

Im weiteren Verlaufe des Gesprächs äußerte der Österreicher:

»Die Gräfin teilte mir mit, daß Ihnen eine Familie Ratbod bekannt sei, ja sie glaubt, daß der einzige Sohn am gegenwärtigen Feldzuge mit teilgenommen habe.«

»Vater und Sohn!« rief Hirschfeld vergnügt. »Der Alte ist ein tüchtiger Landwehrmann, und der Junge steht als Leutnant in meiner Schwadron.«

»Er ist ein gar tapferes Kerlchen«, fügte Katte hinzu, »und hat das Eiserne Kreuz, das seine Brust schmückt, redlich verdient.«

»Oh, dann führt's mich halt zu ihm!« rief der Rittmeister, bei dem der gemütliche Wiener zum Vorschein kam. »Wir haben uns zwar im Leben noch nie gesehen, kennen uns aber schon seit ein paar Jahrhunderten.«

Diese seltsame Behauptung verlor für die beiden preußischen Offiziere das Rätselhafte, nachdem sie den Wunsch des österreichischen Kameraden erfüllt und ihn zu Johannes geführt hatten, der sich soeben auf Besuch bei seinem Vater befand, der mit andern Landwehrmännern in einer Scheuer einquartiert war. In dem großen Raume herrschte eine äußerst unangenehme Temperatur, und um sich wenigstens einigermaßen vor Kälte zu schützen, griffen die humoristischen Landwehrmänner zu den Dreschflegeln, die sie auf der Tenne fleißig handhabten.

Es war ein eigentümlicher Zufall, daß angesichts des am fernen Horizonte auftauchenden Münsterturmes zum so und so vielten Male ein Ratbod mit einem Edelbeck Freundschaft schloß, denn der österreichische Rittmeister war niemand anders als Leopold von Edelbeck, der sein Adelsdiplom echter Ritterlichkeit verdankte. Seit dem Tage, wo er den Straßburger Münsterturm zum letzten Mal erblickt und sich mit der kleinen Louison unter den Schutz der Zigeuner begeben hatte, waren freilich zwanzig lange Jahre verstrichen, und aus dem schüchternen Jünglinge war ein energischer Mann geworden; das Herz aber hatte sich nicht verändert, mit der ihm eigenen Innigkeit begrüßte er den Doktor und Johannes, und die drei Menschen waren schon nach wenig Stunden so miteinander befreundet, als wenn sie sich bereits seit Jahren gekannt hätten. Sie ergänzten sich gegenseitig in der Erzählung der Geschichte ihrer Vorahnen, was dem einen entfallen war, wußte der andre, und so entstand allmählich ein zusammenhängendes Gemälde aus drei Jahrhunderten. Wir machen auf die ersten drei Bände des »Ahnenschlosses« aufmerksam und bitten, darüber Seite 6 dieses Bandes einzusehen.

Natürlich kam man auch auf den Grafen Hohenheg und das unterschlagene Testament zu sprechen, um dessen Vorhandensein Edelbeck ebenfalls wußte; ja in seinem Besitz befand sich sogar ein Brief, den ein Ratbod an seinen Ururgroßvater geschrieben und worin er diesem zu wissen getan hatte, daß alle Bemühungen wegen des verschwundenen Testaments gescheitert seien. Den Doktor interessierte, als Archäologen, dieses Schriftstück doppelt, und er fragte den Rittmeister, ob er vielleicht noch andere wertvolle Erinnerungszeichen habe, was indessen von Edelbeck verneint wurde.

»Schade,« rief der Archäolog, an seiner Brille rückend, bedauernd aus, »welchen unschätzbaren Wert würde zum Beispiel für unser Berliner Altertumsmuseum die Pritsche gehabt haben, die Ihr Vorfahr Benedikt so kräftig geschwungen haben soll.«

Die Freunde schwelgten noch lange in der Erinnerung an ferne Jahrhunderte, bis der Appell sie an ihre Pflicht erinnerte und sie in die Gegenwart zurückführte.

General Wittgenstein erließ den Befehl, daß am nächsten Morgen der Rheinübergang stattfinden solle, der sich zur bestimmten Stunde auch in größter Ordnung vollzog, und zwar zwischen Selz und Lauterburg, im Angesichte des Forts Louis. Die kleine Besatzung des Forts zog sich auf Straßburg zurück, und die Kolonnen des Wittgensteinschen Korps rückten ungehindert vor.

Die linksrheinischen Bewohner in der Pfalz, Cöln und Trier empfingen jubelnd die Blücherschen Heldenscharen, und die Offiziere konnten die freundliche Aufnahme, die ihnen in jedem Bürgerhause zuteil geworden war, nicht genug rühmen, während im Elsaß, diesem einst so urdeutschen Lande, Städter und Landleute den deutschen Kriegern mit einem verbissenen Ingrimm entgegenkamen und die abgeschmackte Besorgnis hegten, daß die Verbündeten die Wiederherstellung der patrizischen und aristokratischen Einrichtungen der früheren Zeiten anstrebten.

Überall stießen die Truppen des Wittgensteinschen Korps auf Mißtrauen und Hinterlist. Keinem der Einwohner war zu trauen, im Gegenteile fühlte man, daß man von Spionen umgeben sei. Über das feindliche Heer wußte man deutscherseits jedoch so viel, daß es von Napoleon erst wieder neugebildet werden mußte und sich im Elsaß nur der General Victor mit 17 000 Mann befand, welch kleines Korps die ausgedehnte Linie von Landau bis Belfort zu decken hatte.

Es war am vierten Januar, als die Schwadron Edelbecks, die dem Gros rekognoszierend voranging, sich dem heiligen Forste näherte, wie der große Wald bei Hagenau genannt zu werden pflegt. Mehreren Reitern war es ausgefallen, daß ein ziemlich zerlumpter Mann von etlichen sechzig Jahren, mit langem, weißem Bart- und Haupthaar, der Kolonne unausgesetzt folgte, sich aber immer scheu zurückzog, wenn er die Aufmerksamkeit auf sich gerichtet sah. Die Leute hielten es für ihre Pflicht, den Rittmeister davon in Kenntnis zu setzen. Edelbeck überzeugte sich sehr bald von der Richtigkeit dieser Angabe, denn er beobachtete, daß dem zerlumpten Manne außerordentlich viel daran zu liegen schien, der Schwadron vorzukommen. Er gab sich alle Mühe, seine Absicht zu erreichen, indem er öfters von der Landstraße abbog und näher führende Feldwege einschlug; doch blieb sein Bemühen ohne Erfolg.

»Der Bursche scheint in der Tat kein gutes Gewissen zu haben«, dachte der Rittmeister bei sich und gab der Schwadron Befehl zu einer rückgängigen Bewegung. Dadurch sah sich der weißbärtige Alte plötzlich mitten unter der Reiterschar. Vergebens forschte er nach einer Lücke, die ihm das Entwischen ermöglichte, und das Zittern seines Körpers verriet ein böses Gewissen. Der Rittmeister verwickelte ihn in ein strenges Verhör, das durchaus nicht zu seinen Gunsten ausfiel, da er sich verschiedener Widersprüche schuldig machte, die ihn dringend verdächtigten.

»Gestehe es nur,« donnerte Edelbeck ihm zu, »du bist ein französischer Spion und willst uns an den Feind, der irgendwo versteckt liegt, verraten!«

»Nix Verrat, gnädiger Herr,« jammerte der Weißbart, »ich bin nur ein armer Mann, der sich elend durch die Welt bettelt.«

»Nach deiner eigenen Aussage bist du hier im Elsaß bekannt«, forschte Edelbeck.

»I ja, im Oberelsaß aber besser als hier.«

»Du wirst mir aber doch jedenfalls angeben können, ob sich in dem Walde, der nicht weit von hier beginnt, französische Truppen aufhalten.«

»Nicht ein einziger Soldat«, lautete des Alten rasche Antwort, so daß es auf Edelbeck den Eindruck des Unwahren machte. »Nein, gnädiger Herr, der Wald ist viel zu groß und einsam, als daß sich da im Winter Soldaten aufhalten können. In Straßburg freilich, da –«

»Genug!« rief ihm Edelbeck zu und gab sich den Anschein, als ob er in die Angaben des Alten keine Zweifel setze.

»Kann ich mich dann wieder entfernen?« fragte der zerlumpte Greis in demütigem Tone.

»Sobald du uns auf den rechten Weg nach Hagenau gebracht hast.«

Dieser Bedingung schien sich der alte Bursche gern zu fügen. Er bedeutete dem Rittmeister, daß er mit seinen Reitern den Wald rechts liegen lassen und dem schmäleren Fahrweg folgen solle, der sich weiter oben abzweige. Nach dieser Auskunft schüttelte er sich vor Frost, hob bittend die Hände empor und begann um eine alte Pferdedecke zu flehen, damit er sich in diese einhüllen und vor der schneidenden Kälte schützen könne. Einer der Kavalleristen fühlte Mitleid und warf dem Weißbart eine zerschlissene Wolldecke zu, aber so ungeschickt, daß sie vollständig seinen Kopf bedeckte. Einige Kameraden benutzten diese Gelegenheit zur Auslassung ihres Mutwillens, indem sie die vier Enden der Decke erfaßten und sie lachend hin und her zogen, während der Weißbart sich vergebens bemühte, seinen Kopf wieder frei zu bekommen. Er pustete und schrie unausgesetzt nach Luft, bis die Reiter der Neckerei endlich überdrüssig wurden und ihm die Decke vom Kopfe rissen. Dabei verlor er jedoch eine Atzel (Perückenteil), die zur Bedeckung seiner Glatze gedient hatte, und zugleich flatterte ein dünnes, vielfach zusammengelegtes Papier auf den Boden. Er stieß einen Schrei des Schreckens aus und stürzte zur Erde, um das Papier wieder in seine Gewalt zu bekommen; aber die Kavalleristen waren schneller, und nach wenig Sekunden schon war der scheinbar so unbedeutende Gegenstand in Edelbecks Händen.

Mit größter Aufmerksamkeit überflog der Rittmeister das Schriftstück, das der in Straßburg befindliche General Victor an einen Oberst d'Haunaigue gerichtet hatte. Der französische Oberbefehlshaber gab darin aufs genaueste die Stellung des Wittgensteinschen Korps an und schloß mit den Worten:

»Die eine feindliche Kolonne wird voraussichtlich Hagenau zu besetzen suchen, um dann gegen Straßburg zu operieren. Behalten Sie daher Ihre feste Stellung im Hagenauer Walde bei, bis Ihnen der Überbringer dieses den Vormarsch der feindlichen Abteilung auf Straßburg meldet. Dann debouchieren Sie mit Ihren Mannschaften aus dem Walde und greifen die feindliche Kolonne im Rücken an.«

Edelbeck warf, nachdem er das Papier seinem Premierleutnant überreicht hatte, einen flammenden Blick auf den heftig zitternden Spion. Der Elende warf sich ihm jammernd zu Füßen und flehte um Gnade. Edelbeck schien indessen nicht gewillt, gegen einen Fremden Barmherzigkeit zu üben, der das Herz hatte, deutsche Landsleute an Franzosen zu verraten.

»Denn daß du ein Deutsch-Elsässer bist,« rief ihm Edelbeck zornig zu, »beweist mir die Fertigkeit, womit du unsre Sprache redest! Dein Verrat ist ein Schimpf für jeden Vaterlandsfreund, darum marsch fort mit dir an den nächsten besten Baum!«

Jetzt erschien die Verzweiflung auf dem Antlitz des Spions, der von mehreren Kavalleristen gepackt wurde, während ein Unteroffizier aus der Satteltasche einen Riemen hervorzog, an dem der Spion aufgehängt werden sollte.

Der zerlumpte Alte heulte und brüllte, suchte sich mit Gewalt aus den Fäusten der Reiter zu befreien und bat um aller Heiligen willen, ihn nicht zu töten. »Ich will Euch auf Euerm Zuge begleiten, gnädiger Herr,« rief er zu dem Rittmeister empor, »und ein treuer, zuverlässiger Führer sein, denn ich kenne nicht nur das ganze Elsaß, sondern auch alle Engpässe, die vom Wasgau nach Lothringen führen.«

Edelbeck schüttelte jedoch den Kopf und gab seinen Reitern einen Wink, die Exekution zu vollziehen. Schon sah sich der Spion fortgeschleift, als ihm plötzlich noch ein Rettungsgedanke zu kommen schien. Er bat um einen kurzen Aufschub, fuhr in die geflickte Tasche seines Wamses und zog einen ledernen Beutel heraus, dem er einen goldenen, mit Edelsteinen besetzten Reif entnahm.

»Da ... da ... gnädiger Herr,« schrie er mit vor Angst heiserer Stimme, »erfaßt den Ring – er ist wundertätig, und ich will ihn Euch ja gern schenken, wenn Ihr mir nur mein Leben laßt!«

Der Alte schien hinsichtlich der Wunderkraft des Ringes die Wahrheit gesprochen zu haben, denn in Edelbecks Zügen malte sich, als er den wertvollen Reif zwischen seinen zitternden Fingern hielt, ein namenloses Erstaunen.

»Woher hast du den Ring?« fragte er endlich den zerlumpten Alten, ihn forschend betrachtend.

»Oh, gnädiger Herr,« seufzte der Weißbart, »es sind wohl an die zwanzig Jahre ins Land gegangen, als mir ein kleines, schönes Mädchen den goldenen Ring schenkte. Wahrlich, Herr, ich habe ihn mir nicht gewaltsam angeeignet«, unterbrach sich der Alte, da er den Rittmeister eine heftige Bewegung machen sah. »Die Kleine schenkte ihn mir, weil ich sie und ihren Begleiter aus großer Gefahr errettete, denn damals – müßt Ihr wissen – wüteten hier im Elsaß die Jakobiner mit den roten Mützen und der Guillotine. Der Begleiter des kleinen Mädchens sah es zwar nicht gern, daß sich sein Schützling von dem wertvollen Ringe trenne, schließlich gab er es aber doch zu. Der Reif hat gar hohen Wert, das weiß ich von einem Juwelier, aber ich habe mich doch nicht von ihm getrennt, weil das kleine Mädchen ihn einst als Patengeschenk von der unglücklichen Königin Marie Antoinette erhalten hat, und es heißt ja, daß alle Erinnerungszeichen, die von Enthaupteten stammen, wundertätig wirken sollen.«

»Der Glaube macht selig«, entgegnete Edelbeck in sonderbarer Bewegung. »Dir geschehe nach deinem Glauben.«

Der ehemalige Bildschnitzer hatte jenen Zigeunerhäuptling wiedererkannt, dessen Schlauheit sowohl er als Louison das Leben verdankten, und somit blieb dem Rittmeister nichts andres übrig, als den Spion zu begnadigen.

Die Freude des Zigeuners war beispiellos groß, und er schwur Edelbeck, der sich ihm nun auch zu erkennen gab, ewige Treue. Dieser wollte jedoch von seiner Führerschaft nichts wissen, sondern gab ihm den kostbaren Ring mit den Worten zurück:

»Eile von hier nach Mömpelgard! Dort befindet sich das Hauptquartier des Feldmarschalls von Schwarzenberg. Frage daselbst nach der Gräfin Lübbenau, teile ihr das Geschehene mit und übergib ihr diesen Ring. Sie wird dich dafür reich belohnen.« Edelbeck durfte dies sagen, da es seit Jahren ein sehnlicher Wunsch der Gräfin war, wieder in den Besitz jenes Ringes zu gelangen, den sie in ihrem kindlichen Unverstande so leichtsinnig verschenkt hatte.

»Noch eins!« rief der Rittmeister dem Zigeuner zu, als sich dieser auf den Weg nach dem südlichen Elsaß machen wollte. »Ich fordere von dir das heilige Gelübde, daß du den Franzosen ferner nicht mehr als Spion dienst.«

Der Weißbart schwur bei allen Heiligen.

»Jetzt sage uns noch,« fügte Edelbeck hinzu, »in welchem Teile des heiligen Forstes französische Soldaten versteckt liegen.«

»Nur in dem Kloster Walburg befindet sich ein Kolonel mit seinem Regiments und einer Abteilung Dragoner«, antwortete der Zigeuner wahrheitsgetreu.

»Das ist also derselbe d'Haunaigue, der uns bei unserm Vormarsche nach Straßburg in den Rücken fallen sollte?« forschte Edelbeck weiter.

Der Weißbart bejahte, und nachdem er den Weg nach dem Kloster sowie dessen Bauart genau beschrieben hatte, eilte er fürbaß gen Mömpelgard.

Der Rittmeister sandte nunmehr an Wittgenstein eine Ordonnanz ab, da er mit seiner Reiterschar gegen eine so festungsartige Position, wie sie das Kloster Walburg bildete, nichts auszurichten vermochte.

Der Tag war schon zu weit vorgeschritten, um auf das alte Dominikanerkloster einen Sturm zu eröffnen, dagegen näherten sich zur Nachtzeit mehrere Züge Infanterie und Artillerie sowie die Schwadron Hirschfelds dem von hohen Mauern eingeschlossenen Gebäudeviereck, das noch bis vor kurzem einer Anzahl von Mönchen zum Asyl gedient hatte.

Bei der durch die hohen Waldbäume geschützten Lage des Klosters vermochte die Artillerie nicht viel auszurichten; die Batterien zogen sich daher nach einer Anhöhe zurück, um von dort aus das Kloster zu beschießen.

Die Franzosen hatten, trotzdem sie an eine Überrumpelung durch den Feind nicht gedacht hatten, nichts verabsäumt, um das Kloster in einen vortrefflichen Verteidigungszustand zu setzen, wie die zahlreichen, in den Mauern angebrachten Schießscharten bewiesen. In der Absicht Naoul d'Haunaigues lag es, von dem Kloster aus einzelne feindliche Abteilungen zu beunruhigen und sich im Falle einer Gefahr auf seinen festen Stützpunkt wieder zurückzuziehen. Daß der Gegner ihn ausspionieren würde, daran dachte er nicht, und deshalb hatte er es auch unterlassen, seine Beobachtungsposten weit vorzuschieben, wie denn überhaupt der Vorpostendienst bei den Franzosen von jeher lässig betrieben worden ist. So kam es, daß das plötzliche Erscheinen starker feindlicher Kolonnen auf die Besatzung des Klosters höchst überraschend wirkte und für den Augenblick zu einer Verwirrung Veranlassung gab.

Nachdem die Infanterie vom Wittgensteinschen Korps in weitem Kreise das Kloster umstellt hatte, ritt Hirschfeld als Parlamentär gegen die fest verrammelte Pforte vor und schwang die weiße Fahne. Auf eine Frage, ob der Gegner gewillt sei, zu kapitulieren, erhielt er die Antwort: » Nous attentons l'attaque.«

Damit war das Zeichen zum Beginn des Kampfes gegeben. Die Franzosen eröffneten, indem sie sich der Schießscharten bedienten, ein wohlunterhaltenes Feuer, das die Reihen der anstürmenden deutschen und russischen Infanterie bedeutend lichtete. Die schwierigste Arbeit blieb jedoch den Pionieren Vorbehalten. Diese mußten, ohne jeglichen Schutz vor dem Feuer des Gegners zu haben, mit ihren Äxten unausgesetzt das eiserne Eingangstor bearbeiten. Plötzlich änderte sich jedoch das kriegerische Bild. Der preußischen Artillerie war es nämlich gelungen, mehrere Granaten in das Gebäudeviereck zu werfen sowie in die Umfassungsmauern Bresche zu schießen. Bald zeigte ein rötlicher Schein, der die Gipfel der Waldbäume beleuchtete, zur Genüge an, daß die in das Kloster geworfenen Granaten geplatzt waren und gezündet hatten. Raoul d'Haunaigue sah ein, daß er sich nicht länger hinter den Umfassungsmauern zu halten vermöge, und ordnete deshalb einen doppelten Ausfall an. Der eine, den er selbst befehligte, fand durch das Eingangstor statt und hatte einen guten Erfolg. Die nichtsahnenden Pioniere und Infanteristen sahen sich beim plötzlichen Nachgeben des Tores mit einer solchen Wucht zurückgedrängt, daß ihre sämtlichen Reihen in Unordnung gerieten. Diesen günstigen Augenblick benutzte Raoul, sich mit seinen Mannschaften durchzuschlagen. Ein um so kläglicheres Ende nahm dagegen der andere Ausfall, der auf der entgegengesetzten Seite durch ein schmales Pförtchen, das auf den Friedhof des Klosters führte, stattfand. Die Franzosen vermochten sich dort nicht frei zu entwickeln und sahen sich dem Gewehrfeuer des Feindes preisgegeben. Wer nicht den Tod fand, wurde gefangen genommen, und nur einem kleinen Bruchteil gelang es, zu entkommen. Bald wimmelte der Wald von fliehenden Franzosen, denn Raoul d'Haunaigue hatte trotz seines Erfolges gesehen, daß gegen die feindliche Übermacht nichts auszurichten sei. Hirschfelds Reiter sprengten den Fliehenden nach und hieben noch so manchen Franzosen nieder. Johannes gab sich alle erdenkliche Mühe, seinen Feind Raoul zu erreichen, der an der Seite eines jüngern Offiziers dahinsprengte, doch schien der junge Graf diesmal keine Lust zu haben, sich mit dem deutschen Gelehrtensohn in einem Zweikampfe zu messen.

Inzwischen hatten die Sieger von dem Kloster Walburg Besitz ergriffen und waren zugleich bemüht gewesen, das durch eine Granate entstandene Feuer zu löschen.

»Ein prächtiges altes Kloster!« äußerte zu dem zurückgekehrten Johannes unser guter Doktor, dessen Kompagnie während des Treffens in Reserve gestanden hatte, jetzt aber zum Wachtdienst befohlen war. »Das Herz geht einem Archäologen auf bei einem solchen Anblick! Wie mächtig pocht hier die Vergangenheit an unsere Phantasie, die uns alle die frommen Väter vorzaubert, die hier im Laufe der Jahrhunderte gehaust haben, in ihren stillen Zellen über mächtige Folianten gebückt.«

»Sicherlich, lieber Vater,« versetzte Johannes lächelnd, »aber die Phantasie eines durstigen Soldaten – denn so muß ich mich in diesem Augenblick nennen – malt sich auch den Klosterkeller mit seinen reichlichen Vorräten aus, mit den dickbäuchigen Stückfässern, gefüllt mit dem edelsten Rebensafte.«

»Die Fässer dürftest du noch finden,« bemerkte ironisch der Doktor, »allein sie haben für mich keinen archäologischen Wert. Mir steht ein anderer Genuß bevor,« fügte er mit einem wahrhaft seligen Gesichtsausdruck hinzu, »ich erhalte nämlich die Wache im Büchersaal.«

»Wo das Feuer ausgebrochen ist?« fiel Johannes lebhaft ein, bereute aber seine Voreiligkeit, da der Vater der Meinung gewesen war, daß das Feuer in einem andern Klostergebäude gewütet habe. Durch die Aufklärung seines Irrtums war ihm sozusagen seine Freude in den Brunnen gefallen, und wehmütig rief er aus:

»So soll also der Mensch nie ganz glücklich sein! Wie schwelgte ich schon im Geiste angesichts der vielen alten und höchst seltenen Manuskripte und Bücher, die ich hier zu finden hoffte! Und nun –«

»Es ist ja nur ein kleiner Teil der Bücher und Manuskripte verbrannt«, tröstete Johannes und führte den Vater nach dem Gebäude, worin sich, außer der Priorwohnung, noch der Bibliothek- und der Schreibsaal befanden, die beide nebeneinander lagen.

Das Sprenggeschoß hatte, zu des Doktors Bekümmernis, großen Schaden angerichtet. Der Teil der Wand, durch den die Granate eingedrungen war, lag samt den Repositorien, die davor gestanden hatten, zertrümmert am Boden, und unser Archäolog blickte feuchten Auges auf das Chaos zu seinen Füßen, aus dem verbrannte Papiere, schweinslederne Bücherrücken und andere Herrlichkeiten hervorlugten. Aber auch der übrige Teil des Saales zeigte ein buntes Durcheinander; überall traf der Blick auf Kohle, Schutt und beschädigte Bücher. Die Fensterkreuze waren halb verbrannt, ebenso viele Landkarten an den Wänden, und nur ein einziges Bild war der Zerstörungssucht des verheerenden Elements entgangen. Aus dem breiten Rahmen schaute das lebensgroße Porträt eines in die weiße Kutte gehüllten Dominikanermönchs, dessen feistes und sanftgerötetes Antlitz freundlich auf den Doktor herabschaute und salbungsvoll zu sagen schien: »Gott segne dich, mein Sohn ... der Wein erfreut des Menschen Herz!«

Das Testament vom Erben des Pfeiferkönigs.

Vater Ratbod wußte freilich nicht, daß das Porträt den hochwürdigen Prior Uto vorstellte, der vor nahezu dreihundert Jahren im Kloster Walburg gelebt hatte und der Gönner eines armen Junkers gewesen war, von dem die Nachwelt kein Bild mehr aufbewahrte.

Während der Doktor im Büchersaale seinen Wachtposten versah, hatte sich Johannes mit Wolf auf die Suche begeben und in einem entlegenen Winkel der weiten Kellerräume mehrere Faß Wein entdeckt, die nunmehr unter dem Jubel der Kameraden ans Tageslicht gezogen und angestochen wurden. Der feurige alte Wein übte seine Wirkung, und bald erschallten hinter den Klostermauern, wo sonst nur Buß- und Lobgesänge erklungen waren, begeisterte Kriegs- und Vaterlandslieder.

Der Doktor kümmerte sich nicht um das Zechgelage, sondern schwelgte in ganz andern, höhern Genüssen. Die gefräßigen Flammen, die in dem Bibliotheksaal gewütet, hatten glücklicherweise nicht alles aufgezehrt. Der Doktor zog so manches wertvolle Manuskript, so manches seltene Buch unter dem Schutt hervor und vertiefte sich darin derartig, daß er den wilden Kriegslärm, der plötzlich in und vor dem Kloster losbrach, ebensowenig beachtete als kurz zuvor den fröhlichen Singsang und das Bechergeklirr.

Es war ein altes, vergilbtes Pergament, das er soeben dem Trümmerhaufen entrissen hatte. Doch welche hohe Überraschung malte sich auf seinen Zügen, als ihm plötzlich der Name Michael Ratbod in verschnörkelten Buchstaben entgegenglänzte. Er glaubte an eine optische Täuschung und rückte an seiner Brille herum – aber der Name blieb und ebenso der Inhalt des Dokuments, den unser Archäolog mehr als einmal überflog.

»Großer Gott im Himmel!« flüsterten die Lippen des Gelehrten tief bewegt. »Es ist das Testament vom Erben des Pfeiferkönigs, wonach von unsern Vorfahren so vielfach geforscht und gesucht wurde, und das jetzt ein Zufall in meine Hände geführt hat!«

Der gemalte Prior blickte freundlich auf Vater Ratbod herab, und seine kleinen schlauen Augen schienen zu fragen: Warum wendet der arme Erdensohn sich nicht an mich, der durch die Gnade Gottes von allem unterrichtet ist? Der da weiß, daß das wichtige Dokument einst von einem armen Junker in einer Spalte jener Wand verborgen wurde, deren Gemäuer heute ein feindliches Sprenggeschoß zertrümmerte!

Aber der Doktor sah nicht zu dem Prior empor, und so behielt der kirchliche Würdenträger das Geheimnis von Jahrhunderten für sich. Wie oft war das große Repositorium, das an jenem Teile der Wand befestigt gewesen war, von Klosterbrüdern gesäubert worden, wie vieler Blicke hatten daraus geruht – das in einer Mauerritze steckende Testament aber war allen entgangen, bis eine preußische Granate endlich sich seiner erbarmte und es ans Tageslicht beförderte.

Der Doktor starrte noch immer halb betäubt auf das uralte Pergament, als plötzlich Johannes mit dem Rufe ins Zimmer stürmte:

»Schnell fort, Vater – der Feind ist mit Verstärkung zurückgekehrt und ist schon im Kloster!«

Diese Kunde wirkte ermunternd auf den Archäologen, und er teilte dem Sohne hastig den Fund mit, den er soeben getan hatte. Das Staunen ging nunmehr auch auf Johannes über, wenn schon ihn die Gefahr des Augenblicks in keine Träumerei verfallen ließ.

In dem an die Bibliothek stoßenden Schreibersaal wurde es jetzt lebendig, und eine von Preußen und Russen verfolgte Abteilung Franzosen stürmte herein, die am Boden liegenden Trümmerhaufen sofort als ihre Schutzwehr ausersehend. Unter der feindlichen Schar war auch Raoul d'Haunaigue. Er hatte Johannes und dessen Vater kaum erkannt, als er mit hochgeschwungenem Säbel gegen sie losstürzte. In dem nämlichen Augenblicke aber, wo er die Waffe herabsausen lassen wollte, sah er sich von einem jungen Franzosen entwaffnet, in dem unsere Freunde jenen kranken Offizier wiedererkannten, der in ihrem Heim Pflege und Heilung gefunden hatte.

Raoul wandte sich wütend gegen ihn, doch jener rief unerschrocken:

»Ich habe mein Wort gegeben, Johannes Ratbod zu schützen. Du bist Edelmann genug, Bruder, mich nicht an der Ausführung meines Versprechens zu hindern.«

Der finsterblickende Raoul wandte sich von seinen beiden Feinden ab, und gleich nachher befand er sich in wütendem Kampfe mit preußischen Infanteristen, während sein jüngerer Bruder Viktor den dankbaren Händedruck des Doktors erwiderte.

Der tobende Kampf führte den jungen Grafen jedoch rasch wieder von der Seite der beiden Ratbods, die mit Hilfe ihrer Kameraden aus dem stürmischen Gefecht glücklich hervorgingen. Die Franzosen unterlagen, und die Verbündeten blieben als Sieger in dem jetzt erst recht zerstörten Kloster.

Beide Brüder d'Haunaigue befanden sich unter den Gefangenen. Raoul war ziemlich schwer verwundet, weshalb sich der gutmütige Doktor für ihn verwandte. Durch Hirschfelds Vermittlung erhielt das Brüderpaar, nachdem es sein Ehrenwort gegeben hatte, in diesem Feldzuge nicht mehr gegen die verbündeten Truppen zu kämpfen, die Erlaubnis, nach ihrem väterlichen Schlosse bei Wasselheim zurückzukehren.

Von dem wichtigen Funde, den Vater Ratbod getan hatte, erfuhren sie indessen vorläufig noch nichts.


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