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Drittes Buch.
Germanias Erwachen.

Siebentes Kapitel.
Die Zeit der schweren Not

»Germania, verzage nicht! Sind auch die Zeiten schlecht,
Tritt mutig in die Schranken ein fürs gute alte Recht!
Germania, verzage nicht! Noch lebt der alte Gott!
Der läßt dich nimmer untergehn, trotz aller Feinde Spott.
Horch, horch, es klingt von ferne schon in unser Land hinein –
Das ist der Freiheit Glockenton; der Morgen bricht herein!«

In der sonst so gemütlichen Wohnung des Doktor Ratbod sah es jetzt kalt und öde aus, denn die schwere Not der Zeit haftete an allen Gegenständen der bescheidenen Haushaltung. Die Familie hatte unter dem französischen Drucke noch mehr zu leiden als ihre Nachbarn; sie brauchten nur für die Kontributionen aufzukommen, die der französische Generalintendant Daru den Berlinern auferlegte, während sich der Doktor Ratbod mit den Seinigen den größten Schikanen ausgesetzt sah. Das glückliche Entkommen von Johannes, dessen Beteiligung an dem Magdeburger Unternehmen nicht unbekannt geblieben war, reizte die Wut der französischen Behörden. Sie würde vielleicht bald verraucht gewesen sein, hätte die zornige Lohe nicht in Raoul d'Haunaigue einen eifrigen Schürer gefunden. Der Kolonel war nach Berlin versetzt worden und benutzte seinen Einfluß auf Daru, sich an jenen Ratbods zu rächen, die von seinem Geschlechts sozusagen traditionell gehaßt wurden. So mischte sich die nationale Erbitterung mit der privaten zu einem Wermutstranke für den armen Doktor Ratbod.

Zuerst wurde er gefänglich eingezogen, obschon seine Richter sehr gut wußten, daß er für die Handlungsweise seines Sohnes nicht verantwortlich gemacht werden könne. Aber man zog die Verhandlungen in die Länge und raubte ihm dadurch die Möglichkeit der Existenz, denn durch die fortgesetzte Haft ging dem Doktor eine bei der neugegründeten Universität in Aussicht gestellte Professur verloren. Durch den Verlust seines festen Einkommens sah er sich mit Frau und Tochter in ein Heer von Sorgen gestürzt, denn Geld und Verdienst waren im Lande rar geworden. Gleichwohl mußten die Berliner den Befehlen Darus auf das pünktlichste nachkommen, für die Verpflegung der ihnen in die Häuser gelegten Offiziere und Soldaten Sorge tragen und für jene Summen einstehen, welche die lukullischen Gastmähler und die Bälle verschlangen, die zur größern Behaglichkeit der Herren Franzosen gegeben werden mußten. Die Soldaten sollten sich nach den Mühen des Krieges erholen, hieß es zur Entschuldigung der sich immer mehr steigernden Kontributionen; in Wahrheit aber ging Napoleons Absicht darauf hinaus, auch dem Teile von Preußen, der durch seine Gnade noch ein Scheinleben fristete, die Adern zu öffnen, damit er sich schließlich verblute.

Da die Einnahmequellen des Doktor Ratbod infolge der langen Haft so ziemlich versiegt waren, so konnte er derartigen schweren Anforderungen, wie sie Daru stellte, unmöglich nachkommen. Die traurige Folge für die Familie war, daß man ihr ein Stück Eigentum nach dem andern fortschleppte. Wer weiß, welch schlimmes Ende es mit der Familie genommen haben würde, hätten nicht opferwillige Freunde ihr noch rechtzeitig beigestanden.

Zu der Sorge um die Existenz gesellte sich der Kummer um das Schicksal von Johannes, der, aus der Heimat verbannt, in eine ganz andre Lebensstellung hineingedrängt worden war. Nach dem Friedensschlusse zwischen Frankreich und Österreich schlug er sich mit der kleinen Heldenschar des Braunschweiger Herzogs nach dem Oldenburgischen durch. Zu Elsfleth wurde das kleine Korps nach England eingeschifft, wo es mit seinem heldenmütigen Führer enthusiastisch aufgenommen wurde.

Im Laufe der Zeit blieb indessen Johannes nichts übrig, als, dem Beispiele seiner Kameraden folgend, in britische Dienste zu treten. Die Briefe, die er nach der Heimat sandte, verkündeten die Sehnsucht seines Herzens nach Eltern, Schwester und Vaterland. Solange aber der Franzmann in Preußen herrschte, war an eine Rückkehr nicht zu denken. Man mußte auf bessere Zeiten harren.

Der kleine Freundeskreis des Ratbodschen Hauses war, seit dem Tode Schills und der Flucht Hirschfelds, noch kleiner geworden; der alte Hauptmann Götze bildete ihn jetzt fast ganz allein. Nach wie vor zehrte er an der Erinnerung jener ruhmreichen Tage, die er einst unter dem Alten Fritz gesehen hatte – sein Franzosenhaß aber wuchs mit jedem Tage mehr. Über die Geduld, womit der Doktor sein Leid ertrug, konnte er rasend werden, und mehr als einmal rief er in solcher Stimmung dem Freunde zu:

»Ein wahres Glück, daß der Johannes Eure Schlafmützigkeit nicht geerbt hat, sondern draufgeht für König und Vaterland, wie es einem guten Preußen geziemt.«

Wenn dann der Doktor ihn mit einem schmerzlichen Lächeln fragte, was das stürmische Vorgehen all dieser jungen Helden dem Vaterlande genützt habe, brach der Hauptmann erst recht los und rief wetternd:

»Frei vom Joche würden diese Heldenjungen uns gemacht haben, hätte unser guter König nur andere Räte gehabt, z. B. den Freiherrn vom Stein, den Scharnhorst oder den alten Blücher, aber sie weilten alle fern, und so wurde der rechte Augenblick des Losschlagens versäumt. Sapperment! ich bin ein Preuße mit Leib und Seele, deshalb tut es mir doppelt weh, daß wir uns vor den Österreichern schämen müssen, die dem Bonaparte gegenüber vom Leder zogen.«

»Gewalt geht eben vor Recht,« erwiderte der Doktor, »wir müssen uns fügen, bis unsere Zeit kommt. Tandem bona causa triumphat.«

»Ei was, Triumphat,« polterte Götze, »mit dem Triumphieren hat's bei uns ein Ende. Es ist nur ein Glück, daß wir nicht lauter Schlafmützen haben, sondern daß es fort und fort im Volke arbeitet. Allerorten beginnt sich's zu rühren, überall üben sich vaterländisch gesinnte Männer im Gebrauch der Waffen, und ich weiß auch, daß man in allerhöchsten Kreisen daran denkt, die Ketten endlich zu zerbrechen, denn in allen Militärwerkstätten sitzen Soldaten aus dem Handwerkerstande und arbeiten an der Ausrüstung für einen künftigen Krieg. Und der Komet, der jetzt nächtlich am Himmel leuchtet, zeigt an, daß in der Welt etwas Großes, Absonderliches Vorgehen wird.«

Der Doktor lächelte über diesen Aberglauben und meinte, daß es besser sei, das Übel der Zeit an den Wurzeln zu packen. »Das deutsche Volk«, fuhr er dozierend fort, »muß anders erzogen werden, wie es unser lieber Fichte in seinen Reden an die deutsche Nation dargetan hat.«

»Richtig, Ihr habt ja seine Vorlesungen im vorigen Winter besucht!« fiel Götze ein. »Der Mann mag von seinem Standpunkt aus recht haben, für mich ist er zu gelehrt. Ich halte es mit dem Jahn, der seit Jahr und Tag mit seinen Jungens nach der Hasenheide zieht und sie dort Leibesübungen machen läßt, turnieren oder turnen, wie er sich auszudrücken pflegt.«

Die Hoffnungen des guten Hauptmanns sollten bald wieder getrübt werden. Napoleon kam hinter die geheimen Rüstungen Preußens und legte Protest ein, so daß dem zur Nachgiebigkeit gezwungenen Lande nichts übrig blieb, als am 24. Februar 1812 ein Bündnis mit Frankreich einzugehen, wodurch es vollständig zum Vasallenstaate des Korsen wurde. Preußen verpflichtete sich, im Falle eines Krieges mit Rußland, der damals schon in der Absicht Napoleons lag, 20 000 Mann mit 60 Geschützen zu stellen und überhaupt die Verfügung über seine Kräfte den Franzosen anheimzugeben. Die Folge davon war, daß, als die Kriegserklärung gegen Rußland wirklich erfolgte, gegen 300 Offiziere in russische Dienste traten, um gegen den verhaßten Feind zu kämpfen

Es war jedoch eine Art »heiliger« Haß, der sich des Preußenvolkes bemächtigt hatte. Der Franzmann wurde verabscheut wie die Sünde; alles Falsche, Hinterlistige, Grausame und Frevelhafte bezeichnte man als »welsch« und »korsisch«; der Name Napoleon kam nicht über die Lippen eines guten Patrioten, man sprach nur von einem Bonaparte oder nannte ihn wohl gar nur »Er«, um damit die volle Verachtung zu erkennen zu geben.

Noch einmal entfaltete Napoleon seine ganze Macht und Herrlichkeit, indem er vor seiner Abreise nach Rußland einen jener Fürstentage hielt, die Deutschlands Herrscher tief erniedrigten. Auch Preußens König und Österreichs Kaiser mußten als Vasallen vor dem Korsen erscheinen, dessen gewaltiges Heer sich nunmehr unaufhaltsam gen Osten wälzte. Die Hoffnung, die gänzlich erloschen war, sproßte in den Herzen der Vaterlandsfreunde wieder auf, man hielt es für eine Christenpflicht, Gebete zum Himmel emporzusenden und Gott zu bitten, die Geißel, die er in Napoleon den Völkern gesandt hatte, endlich dem Untergange entgegenzuführen. Mit fieberhafter Unruhe wartete man auf die ersten Nachrichten vom Kriegsschauplätze, und jede noch so unbedeutende Mitteilung wurde mit großer Hast entgegengenommen.

Im Anfang des Feldzugs erfüllten sich die heißen Wünsche der Vaterlandsfreunde nicht, denn das französische Heer drang, ohne auf erheblichen Widerstand zu stoßen, weiter und weiter in Rußland vor. Aus dem Treffen von Smolensk wurde von den Franzosen eine große, siegreiche Schlacht gemacht, und bald folgte die Nachricht, daß Napoleon mit seinem Heere in der alten Kremlstadt Moskau zu überwintern und dort dem besiegten Zaren den Frieden zu diktieren gedenke. Paris jauchzte, das preußische Volk aber begrub die stillen Hoffnungen, die es in seiner Brust gehegt hatte.

Auf den Lärm der Siegesnachrichten blieb es eine geraume Weile still. Monate vergingen, ohne daß den harrenden Völkern Europas irgendeine Kunde vom Kriegsschauplätze wurde. Da begannen plötzlich im Christmonat eigentümliche Gerüchte durch die preußische Hauptstadt zu schwirren; sie waren geeignet, den drückenden Alp von der Brust eines jeden guten Preußen zu nehmen; aber noch wagte niemand an die Wahrheit zu glauben, bis endlich der Tag erschien, wo ein Kriegsbulletin des Korsen der staunenden Welt das Unerhörte meldete.

Der Hauptmann Götze hatte kaum von dem amtlichen Bericht Kenntnis genommen, als er auch schon nach dem Ratbodschen Hause stürzte und mit dem Ausrufe ins Zimmer platzte:

»Der Schwerenöter Bonaparte ist geschlagen ... halleluja!«

Es war eine geradezu betäubende Nachricht, die den Zuhörern den Atem versetzte.

Der Doktor und die beiden Frauen glichen Bildsäulen, und der Zeigefinger des ersten, der sich soeben eine Pfeife stopfen wollte, blieb unbeweglich in der Luft, während Frau Ratbod und Dora, in der gegenseitigen Befürchtung, vor Freude ohnmächtig zu werden, sich innig umschlungen hielten.

» Deo gratias!« lautete der erste Ausruf, den der Doktor nach einer Weile endlich über die Lippen brachte, und zugleich faltete er die Hände, das Rohr seiner geliebten Pfeife dabei krampfhaft zwischen den Fingern pressend. Es währte noch eine geraume Zeit, ehe die überraschte Familie sich so weit wieder gefaßt hatte, um dem Berichte des Hauptmanns folgen zu können, der in gedrängter Kürze den Brand von Moskau und die Übergänge über den Dniepr und die Beresina erzählte, um dann mit den Worten zu schließen:

»Der Bonaparte ist schon auf dem Wege nach Paris, sein Heer aber ist vollständig vernichtet.«

Jeder Tag brachte neue Einzelheiten über den russischen Feldzug. Obwohl es jedermann grauste vor den schauerlichen Berichten, die in ausführlichster Weise das Elend schilderten, das Hunger und Kälte über die französische Armee gebracht hatten, so dankte man doch Gott aus vollstem Herzen für diese für Preußen und Deutschland so bedeutsame Wendung.

»Laut darf der Jubel unserer Seelen freilich noch nicht werden,« ermahnte der Doktor Ratbod den allzu verwegenen Götze, »denn noch hält der Franzmann unsere Hauptstadt und die Festungen besetzt, und überall schleichen Spione umher, denen jeder gute Bürger aus dem Wege gehen muß. Darum festina lente! Zu früher Jubel könnte der Sache des Vaterlandes nur schaden und der alte Erfahrungssatz: Incidis in Scyllam, cupiens vitare Charybdim sich auch an uns bewahrheiten.«

»Laßt mich in Ruh' mit Euerm Kauderwelsch!« rief der Hauptmann und hielt sich die Ohren zu. »Ihr seid und bleibt ein Bücherwurm, eine Schweinslederseele, die von einer heldenmütigen Begeisterung nichts weiß, sondern sich fort und fort fürchtet – einer jener Tintenkleckser, die dem alten Blücher ein Greuel sind.«

Er polterte noch weiter, und der Doktor hörte ihm ruhig zu. Als er aber endlich schwieg, richtete sich der Gelehrte würdevoll empor und entgegnete:

»Ich liebe es nicht, mit Gesinnung zu prahlen, auch bin ich kein Brausekopf, wie gewisse andre Leute, da der Wahlspruch meines Lebens heißt: Quidquid agis, prudenter agas et respice finem! – auf gut Deutsch: Handle behutsam stets, und immer bedenke das Ende! ... Wenn der Augenblick aber erscheint, wo gehandelt werden muß, wird es auch an mir nicht fehlen.«

Damit wandte er dem brummenden Hauptmann den Rücken. Götze ging aufgebracht davon, kehrte aber am nächsten Tage schon wieder bei den Freunden ein und hatte, seiner alten Gewohnheit gemäß, allen Streit vergessen.

Das Jahr 1813, das für Deutschland so ruhmreich enden sollte, war angebrochen, und mit ihm erschienen die kläglichen Überreste des geschlagenen französischen Heeres. Von jenem Prunk und Übermute, wie ihn die Sieger von Wagram zur Schau getragen hatten, ehe sie über Weichsel und Niemen nach Osten gezogen waren, fand sich nichts mehr vor; die mit Lumpen bedeckten Scharen, die jetzt auf den deutschen Landstraßen dahinwankten, kannten nur den einen Wunsch, sich satt essen und in einer warmen Stube verweilen zu dürfen. Verschwunden waren die glänzenden Uniformen der mit funkelnden Ordenssternen geschmückten Generale und hohen Offiziere, nur elende Gestalten sah man, die wandelnden Leichen glichen, statt der blitzenden Waffen Krückstöcke trugen, mit deren Hilfe sie sich mühsam fortschleppten, und außer einigen Uniformüberresten nichts ihr eigen nannten, was an ihre militärische Laufbahn erinnerte; höchstens einige Mannschaften der Alten Garde ausgenommen, die ihre hohen Bärenmützen glücklich aus den Schnee- und Eisfeldern Rußlands gerettet hatten. Die Füße dieser Jammergestalten waren mit Stroh und Lumpen umwickelt, Pferdedecken, Weiberröcke und hin und wieder auch wohl ein Schafpelz umhüllten die Körper; Fetzen aller Art dienten zur Kopfbedeckung. So wankten die Napoleonischen Krieger langsam dahin; ein paar hundert wohlberittener preußischer Husaren hätten genügt, sie samt und sonders niederzuhauen, ja so mancher Bauersmann oder Städter verspürte nicht übel Lust, sein Mütchen an diesen Elenden zu kühlen, die noch vor kurzem die Quälgeister der deutschen Nation gewesen waren. Aber Männer und Frauen wandten sich mit Ekel und Abscheu von den Jammergestalten ab, und nur die übermütige Jugend suchte durch den Ruf: »Die Kosaken kommen!« die Napoleonischen Krieger zu erschrecken.

Die Spitäler füllten sich rasch mit Kranken aller Art, so daß man sich bald genötigt sah, vornehmere Patienten in den Häusern der Bürger unterzubringen. Auch die Familie Ratbod wurde von dieser Maßnahme heimgesucht und erhielt einen jungen französischen Offizier zur Verpflegung, der an einem typhösen Fieber erkrankt war.

Der Hauptmann Götze zankte und wetterte darüber, daß die Familie den Franzosen aufnehmen mußte, und hörte mit seiner Strafpredigt selbst dann noch nicht auf, als ihm der Doktor vorgestellt hatte, daß man dem eisernen Muß habe nachgeben müssen.

»Unsinn!« rief Götze unwirsch. »Mit der Herrschaft der Franzosen ist es vorbei! Niemand hätte euch zwingen können, den Franzosen aufzunehmen, noch dazu, da die Gefahr nahe liegt, daß ihr alle von dem Kerle angesteckt werden könnt. Das kommt aber von der verwünschten Schlafmützigkeit! Na meinetwegen, des Menschen Wille ist sein Himmelreich, mich aber seht ihr nicht wieder, solange der Parlevous-Franzose in euerm Hause liegt.«

Damit stürmte der Hauptmann von dannen. Vater Ratbod aber verfügte sich zu den beiden Frauen, die inzwischen das Bett für den feindlichen Offizier hergerichtet hatten.

Es war ein etwa fünfundzwanzigjähriger, bildhübscher Mann, mit weichen und sanften Zügen, die Lippen zierte ein feines Schnurrbärtchen, das durchaus nichts Kriegerisches hatte. Die großen schönen Augen starrten jetzt mit einem gläsernen Ausdruck ins Leere, denn der kranke junge Mann lag in Delirien, und nur von Zeit zu Zeit kehrte flüchtig sein Bewußtsein zurück, dann zuckte ein mattes Lächeln um seinen Mund, und dankbar heftete sich der Blick auf die beiden fremden Pflegerinnen; das weiche warme Bett schien seinem kranken Körper überaus wohl zu tun, ebenso der kühlende Trank, der ihm von Dora gereicht wurde. Er wandte den Blick von der holden Erscheinung des jetzt neunzehnjährigen Mädchens nicht ab, bis er nach und nach wieder verglaste und neue Fieberschauer seine Seele umnachteten.

Unter den Familienmitgliedern entstand jetzt ein aus der Besorgnis des Herzens hervorgehender Streit. Ein jedes wollte allein die Pflege des Kranken übernehmen, da es mit Recht eine Ansteckung befürchtete. Jedoch gelangte man zu keinem Ergebnis, da weder Vater, Mutter noch Tochter nachgaben, vielmehr alle drei entschlossen schienen, im schlimmsten Falle gemeinschaftlich zu sterben.

»Ihr seid mir eine nette Familie!« brummte Hauptmann Götze, der, trotz seiner Drohung, am nächsten Tage doch wiederkam. »Ihr wollt Christenmenschen sein und seid nahe daran, an euch einen Massenmord zu begehen.«

»Oh, weg mit der Brandfackel, sie blendet mein Auge!« barmte der Fieberkranke und faltete flehend die Hände. »Nehmt dort vom Felde den Eisblock und legt ihn mir auf das Haupt.«

»Ein närrisches Volk, die Franzosen,« meinte kopfschüttelnd der Hauptmann, »mir scheint, sie haben an dem russischen Eis und Schnee noch nicht genug gehabt.«

Da der Kranke abermals irre zu reden begann, so trat der Hauptmann dem Bette einige Schritte näher, stellte sich dann auf die Zehen und streckte den Kopf vor, um den Fremden besser zu sehen. »Ja ja, mein Bursche,« fuhr er fort, »das brennende Moskau quält Euch noch in Euern Träumen, geschieht Euch ganz recht, denn Ihr ... Es ist übrigens ein netter junger Mensch«, unterbrach er sich. »Schade für ihn, daß er ein Franzose ist.«

Der Zustand des kranken Offiziers verschlimmerte sich, und jene Zeit trat ein, wo der Typhuskranke mit Gewalt aus dem Bette will und nur gewaltsam zurückzuhalten ist. Diese Anfälle wiederholten sich namentlich zur Nachtzeit, wo Vater und Mutter Ratbod auf ihren Lehnstühlen einzunicken pflegten. Dora gönnte den armen Eltern aus Herzensgrunde den Schlaf und strengte lieber alle ihre Kräfte an, als daß sie die der Ruhe so Bedürftigen geweckt hätte. Es war sonderbar, der kranke Offizier gehörte ja doch zu den Todfeinden ihres Vaterlandes, und dennoch vermochte sie ihm nicht zu zürnen. Die Züge seines hübschen Gesichts verkündeten einen edeln Sinn und Reinheit des Herzens, und es kam ihr so vor, als ob er alles andere, nur kein Franzose sei.

Ähnlich wie ihr erging es auch den Eltern, die im stillen an ihren Sohn Johannes dachten, der fast in dem nämlichen Alter stand wie der Fremde und ebenfalls den Strapazen des Krieges ausgesetzt gewesen war, da die britische Regierung die kleine Schar des Braunschweiger Herzogs in den Feldzügen von Spanien und Portugal verwendet hatte. Nur der Hauptmann Götze blieb sich in seinem Hasse getreu, besonders als er die große Neuigkeit mitbrachte, daß der General von York in der Mühle von Poscherun mit dem russischen General Diebitsch eine Konvention abgeschlossen habe, nach der das preußische Korps neutrale Quartiere bezog und dem König die weitere Entscheidung anheimgestellt blieb.

»Der Eisenfresser York ist keine Schlafmütze!« rief der Invalide begeistert. »Er hat den großen Schritt getan ohne Wissen des Königs, denn er fühlte recht gut, daß der Augenblick zur Befreiung Deutschlands gekommen sei. Sein Abfall zwingt die Franzosen zum Rückzug, und wenn diese Burschen in unserm Vaterlande nicht mehr herumwimmeln, dann wird's im Herzen unseres Volkes Frühling.«

» Per aspera ad astra«, sagte Vater Ratbod im Tone tiefen Gefühls, während der Hauptmann, ihn mißverstehend, fortfuhr:

»Meinetwegen Aspern, aber auf dieses Aspern soll kein Wagram folgen! Jetzt schreibt nur schnell Euerm Johannes, daß er hierher kommt und mit seinen deutschen Brüdern in den Kampf zieht für König und Vaterland.«

Dies würde auch ohne Götzes Veranlassung geschehen sein, da die Familie jetzt freier aufatmete und die Wahrscheinlichkeit, daß die Franzosen das preußische Land räumen würden, mehr und mehr zur Gewißheit wurde. Es schien, als ob dieser neue Hoffnungsstrahl alles erwärmte und belebte.

In dem Befinden des schwerkranken französischen Offiziers trat eine wesentliche Besserung ein. Das Fieber legte sich, und er kehrte vollständig zum Bewußtsein zurück. Der Arzt erklärte die Krisis für überwunden, trotz der großen Schwäche, die im Körper des Patienten zurückgeblieben war.

Da nunmehr die Gefahr der Ansteckung vorüber war, verweilte Dora meist allein am Krankenbett; die Mutter ging den häuslichen Geschäften wieder nach, während der Vater jetzt viel auswärts verkehrte. Es war mit ihm eine eigentümliche Umwandlung vorgegangen; an die Stelle des bisherigen Phlegmas trat vaterländische Begeisterung, die gebeugte Haltung seines Oberkörpers verschwand, und mit ihr zugleich die Hinfälligkeit, die ihn älter hatte erscheinen lassen, als er in Wirklichkeit war.

Dora bemerkte diese erfreuliche Verwandlung des Vaters weniger, da sie noch viel mit ihrem Kranken zu tun hatte, der so schwach war, daß er öfters in Ohnmacht fiel. Wenn er dann wieder erwachte, richtete sich der Blick seiner großen, schönen Augen auf Dora, die er dankbar anlächelte.

Nach einem erquickenden Schlafe redete er Dora eines Morgens mit leiser, aber inniger Stimme an:

»Jetzt sagen Sie mir, wo ich mich befinde. Sie sind so überaus gut gegen mich und pflegen mich wie eine Schwester, trotzdem Sie keine Französin sind und wohl Ursache hätten, mir, als einem Feinde Ihres Vaterlandes, zu grollen.«

»Wir sind Christen,« erwiderte Dora sanft, »und die Lehre des Heilands erhebt sich über die engen Grenzen der Nationalität. Sie waren schwer krank und bedurften gewissenhafter Pflege. Ihre Fieberreden verrieten mir zugleich den liebenden Sohn, denn Sie gedachten oft Ihrer Mutter, und das hat mich herzinniglich gerührt.«

»Ach ja, meine Mutter,« sagte der junge bleiche Mann, die Hände über der Brust faltend, »die Ärmste wird meinethalben viel geweint haben, aber sich um so mehr freuen, wenn sie meine Rettung erfährt; denn, nicht wahr,« fügte er zögernd und besorgt hinzu, »ich werde wohl von meiner Krankheit wieder genesen?«

Dora bejahte und ließ es geschehen, daß ihr Pflegling in seiner überströmenden Dankbarkeit ihre Hand küßte. Auf seine wiederholte Frage, wo er sich befinde und wie der Name seiner Wohltäter laute, antwortete Dora freimütig:

»Sie wohnen im Hause meiner guten Eltern, die zwar arme, aber rechtliche Leute sind.«

»Ist Ihr Vater der Herr mit dem großen Schnurrbarte und der dröhnenden Stimme?«

»Nein,« lachte Dora, »das ist ein alter, verdienstvoller Offizier, der noch unter unserm großen Könige gedient hat. Er ist übrigens schon viele Tage nicht hier im Krankenzimmer gewesen, und ich wundere mich, daß Sie ihn überhaupt kennen.«

»Sein martialisches Gesicht vermengte sich mit den noch grausigeren meiner Träume,« erwiderte der Franzose langsam und sinnend, »er veränderte oft seine Physiognomie; bald blickte er drohend nach mir hin und zauste an seinem Barte, bald schien er ihn wegrasiert zu haben und blickte mich freundlich an –«

»Das war mein Vater!« schaltete Dora ein.

»Ja ja, das mag wohl sein! Aber auch Ihre Gesichtszüge, meine edle Pflegerin, veränderten sich öfter, und bald erschienen Sie mir wie ein Engel, bald wieder als eine ehrwürdige Dame.«

»Der Engel«, versetzte Dora neckisch, »war ich – aber, Gott sei Dank, ohne Flügel, die ehrwürdige Dame dagegen meine Mutter, mit der ich allerdings große Ähnlichkeit habe.«

»Ach, mein Gott,« rief der Kranke tränenden Auges, »und wie heißen alle diese guten Menschen?«

»Meine Wenigkeit nennt sich Dora, unser Familienname aber lautet Ratbod ... Knüpft sich für Sie an diesen Namen etwas Widerwärtiges?« unterbrach sich Dora, da sich eine schmerzliche Überraschung in den Zügen des Patienten kund gab. Sie dachte an Johannes und seine Beteiligung an Hirschfelds Unternehmen, deshalb schloß sie mit der Frage: »Sind Sie vielleicht mit meinem Bruder feindlich zusammengetroffen?«

Der junge Franzose schüttelte den Kopf und erwiderte, daß es nur eine vorübergehende Schwäche gewesen sei, die ihn angewandelt habe; er fühle sich indessen müde und wünsche zu schlafen. Die aufmerksame Pflegerin rückte ihm die Kissen zurecht und ging dann leise zu ihrem Nähtischchen am Fenster. Obgleich ihre Finger fleißig die Nadel führten, bemerkte sie doch, daß der junge Franzose nicht schlief, sondern sich nur ermüdet stellte. Es war offenbar, daß der Name »Ratbod« verstimmend auf ihn gewirkt hatte, wenn schon sich Dora vergeblich bemühte, das sonderbare Rätsel zu lösen. Der Kranke beobachtete während des ganzen Tages ein tiefes Schweigen und ließ sich erst am andern Morgen zu einem Gespräche herbei; sein offenes, zutrauliches Wesen war jedoch einer Zurückhaltung, einer gewissen Förmlichkeit gewichen. Mit zitternder Stimme fragte er plötzlich:

»Hat man Ihnen, als man mich krank hierher gebracht, meinen Namen genannt?«

Dora beeilte sich, diese Frage mit Nein zu beantworten, da der Blick des Franzosen mit fieberhafter Spannung auf sie gerichtet war.

»Sie hatten gestern die Güte, mich mit Ihrer Familie bekannt zu machen,« begann er in ruhigerem Ton, »die Höflichkeit fordert es, daß ich Ihrem Beispiele folge. Ich bin der Kapitän Viktor, von Geburt zwar Elsässer, aber doch Franzose mit Leib und Seele.«

Dieses Geständnis tat Dora weh, sie wußte selbst nicht, warum, aber sie empfand die Kluft, die sich plötzlich zwischen ihr und dem jungen Kapitän auftat und sich mit dem Fortschreiten seiner Genesung stetig vergrößerte.

Als Kapitän Viktor durch Götze die totale Niederlage Frankreichs erfuhr, war er nur mit größter Mühe von einer voreiligen Reise nach seiner Heimat abzuhalten. Die Vorstellungen Doras, daß er sein Leben aufs Spiel setze, ohne damit seinem Vaterlande zu nützen, gaben den Ausschlag, und er fügte sich seufzend in das Unvermeidliche. Es währte nicht mehr lange, so durfte er schon am offenen Fenster sitzen, und das Einatmen der frischen Luft wirkte stärkend auf seinen Körper. Er erholte sich äußerst rasch, und Dora genoß die Freude, ihren Pflegling in Gesellschaft der Mutter ins Freie begleiten zu dürfen. Kapitän Viktor zeigte sich jetzt wieder zutraulich, und nur hin und wieder flog ein düsterer Schatten über seine Stirn.

Indessen war es – nach den Aussagen des Doktors und des Hauptmanns – die höchste Zeit für ihn, Berlin zu verlassen, denn schon siedelte der König nach Breslau über, um dort, frei von allen französischen Einflüssen, seine Entschlüsse zu fassen.

An demselben Abende, wo sich der junge Kapitän zur Abreise anschickte, langte Johannes aus England an. Beide begegneten sich nur flüchtig; daß der Franzose aber trotzdem die Züge des andern sich fest eingeprägt hatte, ging aus einer Äußerung hervor, indem er Dora beim Abschiede sagte:

»Ich stehe für immer in Ihrer Schuld. Sie haben mir, im Verein mit Ihrer Mutter, gezeigt, was edle deutsche Frauen sind. Zum Vergelten fühle ich mich zu schwach, dagegen will ich Ihnen geloben, Ihren Bruder, den Sie so zärtlich lieben, vor jeder Gefahr zu schützen und zu schirmen, falls wir in dem neuausbrechenden Kampfe uns feindlich gegenüberstehen sollten.«

»Das vergelte Ihnen Gott!« flüsterten Doras Lippen, während der scheidende Viktor sich auf ihre Hand niederbeugte.

Wenige Minuten später saß er in dem Postwagen, der ihn rasch aus Berlin entführte. Er schied gern von der deutschen Erde, denn sein Herz schlug sehnsüchtig der Heimat entgegen. Eine Erinnerung aber nahm er aus dem Lande mit hinweg, dessen Volk sich jetzt zum Kampf gegen Frankreich anschickte – eine Erinnerung, die ihm über alles teuer war ...

Liebet eure Feinde ...!


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