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Fünftes Kapitel.
Frankreich in Magdeburg

»Deutsches Herz, verzage nicht,
Tu, was dein Gewissen spricht,
Dieser Strahl des Himmelslichts:
Tue Recht und fürchte nichts!«

(Arndt.)

Einige Tage später meldete der Diener des gestrengen Polizeikommissars Moisez zwei Herren, von denen indessen nur einer dem Chef der Polizei bekannt war. Der lange, hagere Mann runzelte die Stirn, wodurch die tiefliegenden Augen noch weiter in ihre Höhlen zurücktraten.

»Name des andern Besuchs?« stieß der mißtrauische Moisez, dessen lauernder Blick und spitze Nase fortwährend Verrat und Mord zu wittern schienen, mit seiner näselnden und dabei schnarrenden Stimme hervor.

»Eugen von Hirschfeld«, erwiderte der Diener. »Er bittet um die Gnade, in Gesellschaft des Herrn Kommerzienrats Cerf dem Herrn Generalkommissar seine Aufwartung machen zu dürfen.«

»Reinkommen!«

Der Diener entfernte sich, und gleich nachher traten die beiden Besucher herein.

»Guten Tag, mein Bester!« grüßte mit lauter Stimme der Bankier und eilte mit ausgebreiteten Armen auf den ruhig dastehenden Moisez zu, dessen prüfender Blick auf Hirschfeld ruhte. »Sie verzeihen, daß wir Sie so früh schon stören, doch mußten wir diese zeitige Stunde wählen, um Sie noch zu Hause anzutreffen.«

Bei diesen Worten zog der Kommerzienrat die an einer wertvollen Berlocke hängende goldene Uhr hervor und hielt sie, gewissermaßen zur Entschuldigung, dem Chef der Polizei dicht unter die Nase.

»Ich bin heute allerdings etwas pressiert,« versetzte Moisez, den Kopf nach rückwärts beugend, »doch bitte ich, Platz zu nehmen. Womit kann ich dienen?«

Der Besuch folgte der Einladung, und Cerf begann mit Gönnermiene:

»Herr von Hirschfeld ist der Neffe einer Freundin von mir und hat gegen mich den Wunsch ausgesprochen, in die ruhmreiche Armee des großen Napoleon eintreten zu dürfen. Vorerst gedenkt er hier in Magdeburg zu bleiben, um durch meine Vermittlung in den vornehmen französischen Kreisen eingeführt zu werden und sich in der französischen Sprache zu vervollkommnen. Ich bitte für ihn um Ihr Wohlwollen.«

»Eine so warme Empfehlung Ihrerseits genügt mir«, sagte Moisez trocken. Nach kurzer Pause fragte er den Leutnant plötzlich: »Sie nennen sich Hirschfeld? Der Name ist mir nicht unbekannt. Dienten Sie nicht als Offizier im preußischen Heere?«

Hirschfeld bejahte es und kam einer weitern Frage des Polizeichefs zuvor, indem er äußerte:

»Die bedeutende Verringerung des preußischen Heeres machte Hunderte von Offizieren überflüssig.«

»Warum traten Sie dann nicht gleich in die westfälische Armee?« examinierte Moisez, dessen scharf beobachtender Blick auf Hirschfeld haftete.

»Darf ich offen sein?« wandte sich der Leutnant lächelnd an den Bankier.

»Soviel Sie wollen!« beteuerte Cerf, das Haupt zur Seite neigend. »Der Herr Polizeikommissar ist ein Ehrenmann und hat, wie ich, ein weiches Herz.«

Das edle Metall in der Tasche begleitete diese Beteuerung.

»Nun denn,« äußerte Hirschfeld im Tone größter Offenherzigkeit, »so will ich Ihnen denn bekennen, Herr Moisez, daß ich bis vor kurzem ein Gegner Ihrer siegreichen Landsleute gewesen bin, daß das Genie Ihres ruhmreichen Kaisers aber meine Gesinnung vollständig umgewandelt hat. Ich kenne keine größere Sehnsucht, als seinen Fahnen zu folgen.«

»Bravo, bravissimo!« klatschte der entzückte Bankier. »Lieber Hirschfeld, Sie haben gesprochen wie ein junger Gott, kommen Sie her und lassen Sie sich umarmen.«

Alles Sträuben des Leutnants fruchtete nichts; er mußte sich die vertrauliche Berührung der wulstigen Lippen Cerfs gefallen lassen.

» Excusez!« ertönte in diesem Augenblick eine etwas heisere, aber ungemein sanfte Stimme.

Hirschfeld sah sich um und erblickte an der Tür einen hohen französischen Offizier, dessen schneeweißes Haar und gutmütige Gesichtszüge ihm etwas Ehrwürdiges gaben.

»Gott der Gerechte, welch glücklicher Zufall!« rief der Bankier und schnellte von seinem Stuhle auf. »Wollt' ich doch Ew. Exzellenz noch heute früh mit meinem Schützling hier einen Besuch abstatten und um Ihr freundliches Wohlwollen für ihn bitten.«

»Darf ich gleich jetzt um Vorstellung ersuchen?« erwiderte der alte Militär, worauf der gefällige Cerf schmunzelnd auf seinen Schützling deutete, in vornehmem Tone dessen Namen nennend, und dann hinzusetzte: »Se. Exzellenz, Herr Gouverneur von Michaud, mein Freund.«

Indessen hatte Moisez durch die Glocke seinen Diener herbeigerufen und ihm einen geheimen Auftrag gegeben.

»Herr von Hirschfeld verweilt schon längere Zeit hier in Magdeburg?« hüstelte der alte Gouverneur.

»Erst seit gestern, Exzellenz.«

»Sind im Gasthof abgestiegen?«

»Nein, sondern in der Nähe der Hauptwache, bei dem Weinhändler Schrader

Moisez faltete die Stirn und sagte mit strenger Amtsmiene: »Das ist keine gute Adresse, die Sie sich da gewählt haben. Schrader ist als ein Mann bekannt, der die Franzosen und die westfälische Regierung haßt.«

»Das habe ich nicht gewußt«, entschuldigte sich Hirschfeld. »Ich war Herrn Schrader die Rücksicht, mein Quartier bei ihm aufzuschlagen, schon insofern schuldig, als er ein Freund meines Vaters gewesen ist.«

»Herr von Hirschfeld gedenken also bei uns in Magdeburg zu bleiben?« fragte der freundliche Gouverneur weiter. Der Leutnant bejahte, und Cerf ergriff die günstige Gelegenheit, wieder einmal das Wort zu führen und in geschwätzigster Weise dem Gouverneur die Absichten und Wünsche Hirschfelds kund zu tun. Michaud schien an dem jungen Manne Gefallen zu finden, weshalb er ihm auch freundlich entgegenkam und das Versprechen gab, nach Möglichkeit seine Wünsche zu berücksichtigen.

Der Diener kehrte jetzt mit Gläsern und zwei Weinflaschen zurück; von diesen enthielt die eine deutschen, die andere französischen Wein. Dahinter versteckte sich eine geheime Absicht des mißtrauischen Moisez, indem er die beiden verschiedenen Weinsorten zu einer Art von Prüfstein für fremde Besucher benutzte. Er setzte dem nichts Ahnenden nämlich französischen und Rheinwein vor. Ließ sich das arme Opfer verleiten, dem deutschen Rebensäfte zuzusprechen, so war das politische anathema sit über ihn gesprochen und sein Name dem Haß- und Racheregister des Generalkommissars einverleibt. Auch Hirschfeld sollte diese Probe jetzt bestehen, doch glücklicherweise hatte ihn sein väterlicher Freund Schräder auf dieses Manöver aufmerksam gemacht, und so entschied sich denn Hirschfeld, obwohl ihn der goldene Rheinwein gar verlockend anblickte, für das französische Rebenblut.

In den Augen Moisez' blitzte es eigentümlich, als er jetzt fragte: »Sie wählen als Deutscher Frankreichs Wein?«

»Warum nicht?« versetzte der schlaue Leutnant mit einem verbindlichen Lächeln. »Ich gehöre nicht zu jener Sorte von Deutschen, die neidisch auf die Vorzüge Frankreichs blicken und sie in ihrem Ärger nicht anerkennen. Unser Rheinwein ist ja ganz gut, allein Frankreichs Feuerwein noch besser.«

»So wahr ich lebe,« ließ sich die Stimme des Bankiers vernehmen, »er spricht wie ein junger Gott! Natürlich, ist er doch der Neffe meiner Freundin, der Baronin von Eschwege.«

Aus den tiefliegenden Augen Moisez' strahlten ebenfalls Zufriedenheit und Wohlwollen, und der Gouverneur schüttelte dem Leutnant die Hand, stieß mit ihm an und sagte:

»Junger Mann, Sie gefallen mir. Oh, wären doch alle Deutschen so vernünftig! Es würde dann weniger Blut vergossen werden müssen.«

Das geschmeidige Wesen Hirschfelds sowie der Bordeaux taten ihre Schuldigkeit. Die alte Exzellenz wurde sehr aufgeräumt, Moisez ließ seine strenge Amtsmiene fallen, der Kommerzienrat strahlte vor innerer Freude, und Hirschfeld entpuppte sich als ein liebenswürdiger Gesellschafter. Als er sich empfahl, wollte das Händeschütteln des Gouverneurs kein Ende nehmen, und auch Moisez zeigte sich ihm sehr gnädig, indem er den Herrn Leutnant zu einem Spaziergang am Spätnachmittag einlud.

»Wir werden da verschiedenen Leuten von Distinktion begegnen,« fügte er hinzu, »die Herrschaften erkundigen sich dann nach Ihnen, und die Folge ist, daß Sie rasch in die besseren Familien eingeführt sein werden.«

Dankend empfahl sich Hirschfeld. Auf der Treppe sah er sich zu seinem Schrecken von dem Kommerzienrat mehrere Male umarmt und geküßt.

»Sie sind ein Ausbund von Liebenswürdigkeit, der jedes Herz im Sturm erobert!« lachte Cerf. »Selbst Moisez' Mißtrauen haben Sie bezwungen. Sie sind mein Freund – kommen Sie her und geben Sie mir den Bruderkuß.«

Es blieb dem armen Hirschfeld nichts übrig, er mußte in den säuern Apfel beißen. Cerf wollte zwar durchaus, daß der Leutnant ihn nach Hause begleite und zu Mittag sein Gast sei, doch lehnte Hirschfeld die Einladung für dieses Mal ab und beurlaubte sich von seinem aufdringlichen Gönner, noch ehe dieser sein Daheim erreicht hatte.

»Auf Wiedersehen ... du Ausbund, du junger Gott!« rief Cerf scherzend und mit seiner Rechten dem lachenden Leutnant mehrere Kußhändchen zuwerfend. »Ich nenne dich fortan bei deinem Vornamen, du bist mein Freund Eugen. Und wie wirst du mich rufen?«

»Napoleon!« lautete die Antwort des Schalks.

»Schmeichler!« tönte es zurück, »ich heiße ja Artur!«

Hirschfeld eilte schnell davon, denn er konnte sich des Lachens nicht länger enthalten. Bald erreichte er das Schradersche Haus, das beim Altmarkt hinter der Hauptwache lag.

Der Weinhändler, eine ehrliche, biedere Seele, war in ganz Magdeburg als der wütendste Franzosenhasser bekannt. In seiner kleinen Weinstube versammelten sich daher nur deutsche Patrioten und ehemalige preußische Offiziere. Kein Spion wagte dieses Heiligtum zu betreten, über das die kleinen Argusaugen Schräders wachten. Er war außerordentlich erfreut darüber, daß Hirschfeld und Johannes bei ihm ihr Quartier aufgeschlagen hatten, besonders als er aus einigen Äußerungen des Leutnants entnahm, daß sein Verweilen in Magdeburg einem patriotischen Zwecke gälte.

Die heutige Abwesenheit Hirschfelds hatte Johannes zu brieflichen Mitteilungen an die Eltern und die Schwester benutzt, er hatte sein Schreiben kaum beendet, als der Leutnant in fröhlichster Laune von seinem Besuche bei Moisez zurückkehrte.

»Ich habe heute einen Sieg errungen, ohne daß ich das schwere Geschütz ins Treffen zu führen nötig gehabt hätte!« rief er dem Freunde und Vater Schräder zu, die in gespannter Erwartung den Mitteilungen Hirschfelds lauschten.

»Alles ganz schön und gut,« nickte der Weinhändler, »aber – – Moisez ist ein schlauer Teufel, darum seien Sie vorsichtig, mein lieber Eugen.«

Hirschfeld nickte dem ehrlichen Alten freundlich zu, der sich wieder an sein Geschäft begab, bald nachher aber mit einem westfälischen Unteroffizier zurückkehrte, in dem Hirschfeld einen seiner ehemaligen Untergebenen erkannte. Der brave Bursche hatte kaum des Leutnants Anwesenheit in Magdeburg erfahren, als er in alter Anhänglichkeit zu ihm geeilt war.

»Es ist zwar keine hübsche Uniform, die Ihr da tragt,« äußerte Hirschfeld zu ihm, »und ich könnte Euch deshalb gram sein, doch vergesse ich nicht des großen Dienstes, den Ihr mir bei Jena geleistet habt, als Ihr mich mit Gefahr Euers Lebens aus einem Rudel von Feinden glücklich heraushiebt.«

»Ich bin der Alte geblieben, Herr Leutnant,« versetzte der Unteroffizier, »das treue deutsche Herz schlägt auch unter dieser französischen Uniform. Wie ich, so sind übrigens auch noch andere hier gesinnt. Viele der hiesigen deutschen Soldaten sehnen sich nach ihren alten Regimentern zurück. Dasselbe gilt auch von der Mehrzahl der Bürger. Wenn wir nur einen Führer hätten, so wollten wir uns bald von dem französischen Drucke befreien.«

»Euer Wort in Ehren,« erwiderte Hirschfeld, »der Fall könnte eintreten.«

»Dann erinnern Sie sich meiner!« rief der treuherzige Unteroffizier. »Ich werde mit meinen Kameraden zu jeder Stunde bereit sein.«

Diese Treue und Anhänglichkeit ehemaliger deutscher Soldaten tat Hirschfeld außerordentlich wohl und hob seinen Mut.

Die nächsten Tage benutzte der Leutnant dazu, sich des Wohlwollens Moisez' und Michauds vollständig zu versichern. Auf Schraders Rat führte er auch Johannes bei dem Chef der Polizei ein, denn es war besser, dieser erfuhr durch den Leutnant die Anwesenheit des jungen Ratbod, als durch die geheime Polizei. Moisez zeigte sich auch gegen Johannes zuvorkommend, dessen Jugend von vornherein das Mißtrauen des Polizeichefs nicht aufkommen ließ.

Hirschfeld und Johannes begleiteten den gefürchteten Franzosen auf seinen Spaziergängen, die er gewöhnlich am Spätnachmittag anzutreten pflegte.

Auch heute unternahmen sie einen gemeinschaftlichen Ausflug vor das Tor und die Festungswerke und schlugen die Landstraße ein, die nach dem Salinestädtchen Schönebeck führte. Von dort kam ein Hausierer mit einem jungen Mädchen, das seine Tochter zu sein schien. Der Mann schob einen leichten Karren vor sich her, der mit einer Plane überdeckt war und das kärgliche Warenlager enthielt.

Als der Handelsmann an den Spaziergängern vorüberging, grüßte er mit lauter Stimme, bei deren Klange Hirschfeld stutzte. Er blickte den Fremden mit dem borstigen Backenbarte und dem unter der Mütze hervorquellenden dichten Haare genauer an, und sein Blick begegnete dem seinen; das Feuer dieser Augen, die denen der Tochter auf ein Haar glichen, wurde zum Verräter, und Hirschfeld wußte jetzt, daß er Romberg vor sich hatte.

Der Leutnant konnte nur schwer seine innere Unruhe verbergen; er fürchtete, Romberg könne, da er unmöglich ahnte, daß sein Begleiter der verschmitzte Moisez sei, verraten, mit ihm bekannt zu sein. Aber der Bauer blieb ruhig und gab sich den Anschein, als ob er den jungen Herrn zum ersten Mal in seinem Leben sähe.

»Wer seid Ihr?« forschte Moisez, die feurigen Augen von Vater und Tochter aufmerksam prüfend.

»Ich bin der Hausierer Friedel aus Andreasberg auf dem Harz«, antwortete der verkleidete Romberg. »Die Sachen, mit denen ich handle, sind meistens von Holz. Will der gnädige Herr sie sehen?« schloß er, mit einer Bewegung nach der Plane hin.

Moisez verneinte und examinierte weiter:

»Wohin wollt Ihr jetzt mit den Sachen?«

»Nach Magdeburg, Herr!«

»Eure Tochter kann Euch bei Euerm Handel doch nichts nützen, weshalb nehmt Ihr sie mit?«

»Ja, Herr, das hat seinen ganz besondern Grund. Erstens kann ich und das Mädel von dem geringen Erlös, den ich aus dem Verkauf der Sachen da ziehe, nicht satt werden, denn die Zeiten sind schlecht – und zweitens hat meine Tochter Lust, sich die Welt auch einmal anzusehen und sich ihr Brot selbst zu verdienen. Na, und da will ich denn versuchen, ob ich nicht in der einen oder andern Stadt ein Unterkommen für sie finden kann. Wollen die gnädigen Herren mir nicht eine Kleinigkeit abkaufen, ich habe heute noch nichts eingenommen.«

»Mir fehlt jede Verwendung für derartige Gegenstände,« entgegnete Moisez; »doch hier nehmt.« Er reichte dem Hausierer ein Geldstück, Johannes tat dasselbe, und Hirschfeld schloß sich dem Beispiel, ebenfalls an, die Gelegenheit benutzend, Romberg mit einem festen Druck der Hand zu verstehen zu geben, daß er ihn erkannt habe.

»Danke, ihr Herren, mög' es euch wohl gehen!« versetzte der Hausierer mit einer linkischen Verbeugung und schob seinen Karren weiter.

Moisez blickte Vater und Tochter gedankenvoll nach, dann sagte er zu seinen beiden Begleitern:

»Der Mann hat ein äußerst schlaues Auge. Ich traue all den Menschen nicht, die als Hausierer oder dergleichen im Lande herumziehen. Derartige Geschäfte sind in der Regel nur Vorwand, um geheime Absichten und Zwecke zu verbergen. Wie gesagt, der schlaue Blick jenes Mannes flößt mir Mißtrauen ein – ich werde ihn scharf beobachten lassen.«

»Sollten Sie in diesem speziellen Falle nicht zu weit gehen, Herr Generalkommissar?« warf Hirschfeld ein.

»Ich habe meine Erfahrungen!« versetzte Moisez empfindlich und kürzte, sich der Stadt wieder zuwendend, den Spaziergang ab. Hirschfeld war jetzt fest davon überzeugt, daß Moisez noch in derselben Stunde der gesamten Polizei Befehl erteilen werde, den fremden Hausierer aufs genaueste zu beobachten. Um so mehr mußte dem Leutnant daran liegen, möglichst bald mit Romberg zusammenzutreffen, um ihn zu warnen.

Man hatte das Tor wieder erreicht, wo soeben die Wache unters Gewehr trat und der Ablösung harrte. Es schien heute größere Inspektion stattzufinden, da der Kolonel der Festungstruppen mit anwesend war. Moisez grüßte den kaum dreißig Jahre zählenden Offizier sehr zuvorkommend und äußerte zu Hirschfeld, während er sich mit ihm und Johannes dem Kolonel näherte:

»Ich will Sie Ihrem künftigen Chef vorstellen.«

Der französische Oberst kam dem Generalkommissar verbindlich einige Schritte entgegen und eröffnete das Gespräch mit den Worten:

»Nach der Beschreibung des Generals von Michaud zu schließen, führen Sie mir in diesem jungen Manne hier Herrn von Hirschfeld zu.«

Der Leutnant machte eine militärische Reverenz, während der Polizeichef auf den Kolonel deutete und mit einem gewissen Respekt sagte: »Herr Comte d'Haunaigue, einer unserer gediegensten Offiziere.«

Der Vorgestellte setzte diesem Lob ein verächtliches Lächeln entgegen und deutete mit einem Blicke an, daß er auch dem seitwärts stehenden Johannes vorgestellt zu werden wünsche. Moisez hatte den für ihn schrecklich klingenden deutschen Namen vergessen, weshalb Hirschfeld seinem Gedächtnisse zuvorkam. Bei Nennung des Namens »Ratbod« zuckte der Kolonel leicht zusammen, aber auch in der Seele von Johannes schien etwas vorzugehen. Hirschfeld beobachtete beide, und es wollte ihn bedünken, daß etwas Feindseliges in der Stimme des Grafen liege, als dieser jetzt an Johannes die Frage richtete:

»Stammt Ihre Familie aus dem Elsaß?«

Auf die bejahende Antwort hin zog sich der französische Offizier sehr kalt zurück, worauf Moisez mit seinen Begleitern den Weg in die innere Stadt fortsetzte. Auch ihm war der üble Eindruck nicht entgangen, den die Vorstellung des jungen Ratbod bei dem Kolonel hervorgebracht hatte. Hirschfeld ließ das Mißtrauen des Polizeichefs jedoch nicht aufkommen, indem er ihn rasch in ein Gespräch verwickelte und nach dem Grafen fragte.

»Er ist Günstling Napoleons,« gab Moisez etwas nachdenklich zur Antwort, »allein mit Recht, denn einen tollkühnem und für Frankreich begeistertem Offizier gibt es kaum in der Armee. Er hat wie ein Löwe in der Schlacht bei Jena gekämpft, seine Kameraden nennen ihn daher auch nur den ›wilden Raoul‹. Er hat noch einen jüngern Bruder, der ebenfalls im Heere dient, ihn aber bei weitem nicht erreicht.«

»Und d'Haunaigue lautet der Familienname?« fragte Hirschfeld weiter.

»Es ist ein uraltes Adelsgeschlecht«, fuhr der Polizeichef mit dem Kopfe nickend fort. »Während der Revolution sah es sich aus dem Elsaß vertrieben, doch erkannte der Kaiser gar bald die Treue und Ergebenheit der Grafenfamilie, weshalb er sie in ihre Rechte wieder einsetzte. Raoul d'Haunaigue scheint den Namen Ihres Freundes zu kennen.«

Hirschfeld zuckte die Achseln, Johannes aber erwiderte rasch:

»Unsere Vorfahren haben im sechzehnten Jahrhundert in Straßburg gelebt, wie denn überhaupt der Name Ratbod elsässisch ist.«

Da man das Haus Moisez' erreicht hatte, trennte man sich. Jetzt erfuhr Hirschfeld von Johannes die volle Wahrheit, nämlich daß zwischen den beiden Familien d'Haunaigue und Ratbod schon seit nahezu drei Jahrhunderten ein tödlicher Haß bestehe, der durch ein unterschlagenes Testament hervorgerufen worden sei.

»Ich vermag dir das Nähere nicht zu erzählen,« schloß Johannes, »dagegen wird es mit Vergnügen mein Vater tun, wenn du uns in Berlin wieder besuchst.«

»Ich hätte jetzt auch zum Anhören der Geschichte weder die nötige Zeit noch Ruhe,« gestand Hirschfeld offenherzig, »denn ich bin um Romberg besorgt und fürchte Moisez' Schlauheit. Jedenfalls will ich den braven Mann warnen.«

In der Tat stellte Hirschfeld emsige Nachforschungen wegen Romberg an, doch sie hatten nicht den gewünschten Erfolg, und obwohl Hirschfeld tagelang durch die Straßen Magdeburgs irrte, stieß er weder auf Romberg noch auf dessen Tochter. Schon glaubte er, daß der vorsichtige Mann die Stadt wieder verlassen habe, als sich ihm plötzlich, beim Biegen um eine Straßenecke, eine fremde Hand auf die Schulter legte.

Erstaunt wandte sich Hirschfeld um und erblickte einen ältlichen Mann mit langen grauen Haaren und einer etwas altväterischen Brille. Die dürftige Kleidung sowie ein Bund Akten, den das ältliche Männchen unter dem Arme trug, ließen Hirschfeld darauf schließen, daß er es mit einem der vielen Schreiber zu tun habe, die in den zahlreichen Bureaus beschäftigt waren. Mechanisch langte unser Freund in die Tasche, um dem Fremden ein Almosen zu verabreichen, doch dieser schüttelte den Kopf und sagte:

»Nicht so, Herr Eugen von Hirschfeld, Sie haben mir ja erst vor wenig Tagen eine milde Gabe gegeben.«

»Ha, Romberg!« rief Hirschfeld hocherfreut, die Hand des endlich Aufgefundenen herzlich schüttelnd. »So wahr ich lebe, an Euch ist ein Schauspieler verloren gegangen. Doch sagt, wo habt Ihr so lange gesteckt?«

»St!« stieß Romberg hervor. »Auf der Straße darf man solche Angelegenheiten nicht verhandeln. Führen Sie mich nach Ihrem Quartier.«

Dort angelangt, brachte Hirschfeld, nachdem er den ehrlichen Landmann mit Johannes näher bekannt gemacht hatte, das Gespräch zunächst auf die Angst, die er bei seiner Begegnung mit Romberg vor dem Tore der Stadt ausgestanden hatte.

»Hütet Euch vor diesem Moisez, dieser politischen Spinne,« rief er Romberg warnend zu, »denn sie hat Verdacht gegen Euch und sucht Euch zu umgarnen.«

»Weiß wohl, Moisez läßt nach mir forschen, deshalb verbarg ich mich auch hier bei einem guten Freunde, bis ich mir diese neue Verkleidung angeschafft hatte. Aber auch Ihnen mißtraut die lange Spinne.«

Hirschfeld und Johannes sahen den Sprecher betroffen an.

»Mein Freund hier,« fuhr Romberg fort, »ein grundehrlicher Kerl und im Herzen gut deutsch, hat, von Not getrieben, in die verhaßten französischen Dienste treten müssen. Durch seine schöne Schrift und die Kenntnis der französischen Sprache hat er den Posten eines ersten Schreibers bei Moisez erhalten. Durch ihn erfuhr ich, daß der Polizeikommissar von Ihrem kürzlichen Aufenthalt in Kassel unterrichtet sei, wenn schon er den Zweck Ihres Besuches nicht zu erforschen vermochte, da der Oberst Dörnberg stumm wie das Grab ist. Aber die mißtrauische Neugierde Moisez' ist jetzt erweckt, und er hat bei der Kasseler Polizei Nachforschungen über Ihre Person anstellen lassen.«

»Verwünscht!« rief Hirschfeld, mit dem Fuße stampfend. »Wie lautete das Antwortschreiben der Kasseler Behörde?«

»Noch wüßte man nicht viel über Sie; Moisez möge selbst ein scharfes Auge auf Sie haben. Aber auch gegen mich«, fügte Romberg finster hinzu, »hat die Polizei Verdacht geschöpft und läßt mich überwachen, ohne daß ich weiß, von wem. Das Schlimmste aber ist, daß man ahnt, was im Werke ist, die Namen der Parteiführer aber glücklicherweise noch nicht kennt. Ich will deshalb nach Berlin, um den Herrn Major von Schill und seine Genossen zu warnen.«

Hirschfeld schritt in tiefer Niedergeschlagenheit durchs Zimmer, während Johannes mutlos auf einen Stuhl gesunken war. Endlich blieb der Leutnant vor Romberg stehen und fragte ihn nach seiner Tochter.

»Ist es Euer Ernst, daß sie sich hier ein Unterkommen suchen soll?«

Romberg schüttelte den Kopf und erwiderte mit einem schweren Seufzer:

»Es war dies nur eine Ausrede dem neugierigen Moisez gegenüber. Ich habe sie diesmal mitgenommen, weil ich mich nicht von ihr trennen mochte. Es ist eine Ahnung in mir, als sollte ich das Mädchen nicht mehr oft sehen. Außerdem flehte sie selbst so innig, mich begleiten zu dürfen, daß ich es ihr nicht abschlagen konnte. Und dennoch kann ich sie nicht weiter mit mir nehmen, denn die Gefahren, die ich von hier bis Berlin zu bestehen habe, sind zu groß und viele.«

»Wo soll Gertrud hier in Magdeburg bleiben?« fragte Hirschfeld teilnahmvoll.

»Bei meinem Freunde«, erwiderte Romberg achselzuckend. »Es bleibt mir keine andere Wahl.«

»Ei, Freund,« rief Hirschfeld, dem es wie ein Blitz über das Antlitz fuhr, »bringt sie hierher zum Vater Schrader! Es wird ihn freuen, einem Manne, dem kein Opfer für das Vaterland zu groß ist, eine derartige Gefälligkeit erweisen zu können, und hier ist sie so sicher wie in Abrahams Schoß. Ich spreche noch in dieser Stunde mit Schrader über diese Angelegenheit, und heute abend bringt Ihr ihm Eure Gertrud, die von Fräulein Friederike, der einzigen Tochter meines verwitweten Freundes, mit schwesterlicher Liebe ausgenommen werden wird.«

Romberg drückte dem Leutnant gerührt die Hand und gab damit sein Einverständnis zu erkennen, dann zog er ein Blatt Papier hervor. Auf den fragenden Blick des Leutnants sagte er:

»Es ist dies die Abschrift einer geheimen Kabinettsorder des Königs von Preußen, worin Friedrich Wilhelm offen ausspricht, daß das bedrohte Vaterland nur durch die Hilfe und Opfer des deutschen Volkes gerettet werden könne, und daß deshalb Unternehmungen, die sich gegen die französische Gewaltherrschaft richten, von ihm gern gesehen werden würden. Das Original der Kabinettsorder ist in Dörnbergs Händen, und ich habe es mit meinen eignen Augen gesehen. Ich bat den Herrn Obersten um eine Abschrift, weil ich glaubte, Ihnen damit dienen zu können.«

»Ganz gewiß, mein Freund!« rief Hirschfeld, indem er Johannes das Papier zum Lesen überreichte. »Diese wenigen Zeilen werden mir für meine Zwecke mehr nützen als der beste Empfehlungsbrief, da die Bürger mehr Vertrauen zu unserm Unternehmen gewinnen werden, wenn sie erfahren, daß es der König gutheißt und wünscht.«

Die beiden Bundesgenossen trennten sich.

Im Laufe des Tages nahm Hirschfeld mit Vater Schrader Rücksprache wegen Rombergs Tochter, und wie er vorausgesehen hatte, freute sich der gutherzige Weinhändler, einem so würdigen Patrioten, wie dem schlichten Bauern aus dem Harze, einen Dienst zu erweisen.

Als sich Gertrud gegen Abend mit ihrem Vater einfand, wurde ihr der gastlichste Empfang zuteil, und Schraders Töchterlein tat alles, das neue Heim ihr lieb und wert zu machen.

Dennoch blickte das junge Mädchen traurig vor sich nieder; der Abschied vom heißgeliebten Vater, die Trennung auf unbestimmte Zeit erfüllte gänzlich ihre bangende Seele. Auch sie hatte die düstere Ahnung, daß sie den Vater, an dem ihr ganzes Herz hing, nicht wiedersehen sollte. Es waren schwere Augenblicke, als Vater und Tochter voneinander Abschied nahmen.

»Mut, meine Gertrud,« flüsterte Romberg, all seine Kraft zusammennehmend, »wende den Blick nach oben – Gott hilft tragen! Ich lasse dich hier bei guten Menschen zurück und kehre, wenn es des Herrn Wille ist, bald wieder, um dich mit mir zu nehmen. Mut, Mädchen – Mut!«

Gertrud biß die Zähne fest übereinander, fuhr mit der Hand über die Augen und stand so gefaßt und ruhig da, als ob die Trennung vom Vater sie nichts anginge.

»Das ist mein wackeres Mädchen!« rief Romberg mit halbgebrochener Stimme und ging nach der Tür. »Auf Wiedersehen!«

»Dort!« schloß Gertrud leise und richtete den Blick zum Himmel. Ein paarmal atmete sie schwer auf, dann wandte sie sich in herzlicher Weise ihrer neuen Freundin zu, die sie nach ihrem Zimmer führte.

Der Leutnant war Romberg gefolgt. Im Vorhause angelangt, raunte ihm dieser zu: »Ich muß schleunigst die Stadt verlassen, denn ich bin heute auf der Straße einem Menschen begegnet, der mich besorgt gemacht hat.«

»Wer ist es?«

»Der Spion Würz. Seine beiden Katzenaugen, die überall umherspähen, sprechen nur zu deutlich, daß er mich sucht. Darum muß ich schleunigst fort, und zwar noch diese Nacht. Ich werde einen Umweg über Gardelegen und Stendal machen, um dem Hauptmann Katte alles getreulich zu berichten, was ich hier vernommen habe. – Leben Sie wohl, Herr Leutnant, nehmen Sie sich meines armen Kindes an, und ... und«, setzte er mit vor Wehmut stockender Stimme hinzu, »wenn ich nicht wiederkehren sollte, so geben Sie ihr hier die geringen Ersparnisse, die ich mir im Laufe der Zeit zurückgelegt habe – sie sind der armen Gertrud ganzes Erbteil.«

Während der liebende Vater dies sprach, händigte er dem vor Schmerz stumm dastehenden Hirschfeld ein kleines Päckchen ein. Gebeugten Hauptes ging er der Haustür zu, wandte sich hier noch einmal um und rief:

»Gott mit Ihnen, mein Freund! – – Grüßen Sie mir mein Kind, meine Gertrud!«

Dann war er verschwunden.

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