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Kaufmann Herbeck

Der Kaufmann Herbeck ging, schon in der Mitte der Siebziger stehend, daran, sich ein neues Haus zu bauen. Fünfzig Jahre vorher hatte er das gleiche getan. Jung vermählt, seit wenigen Jahren erst selbständig, hatte er die Vorbedingungen eines gedeihlichen Lebensganges nicht eher erfüllt gesehen, als er seiner kleinen Familie, seinem aufstrebenden Geschäft nicht ein eigenes Heim bieten konnte. In rastloser Tätigkeit hatte er seiner Firma einen geachteten Namen verschafft. Seine Therese hatte ihm sechs Kinder geschenkt, eines starb im zartesten Alter, einen Sohn raffte es in blühenden Jahren dahin, wenige Wochen nach ihrer silbernen Hochzeit starb seine wackere Lebensgefährtin. Mit fünfundsiebzig Jahren endlich setzte sich Herbeck zur Ruhe. Er übergab das Geschäft seinem Ältesten und errichtete auf einem Grund, den er vor kurzem gekauft hatte, ein weitläufiges Familienhaus. Seinem Bedürfnis, immer unter Menschen zu sein und reges Leben um sich zu sehen, widerstrebte es, seine alten Tage in einem einsamen Landhaus zu verbringen. Dort, wo das Häusermeer der Stadt ins freie Feld verflutet, wollte er wohnen, und er setzte seinen Ehrgeiz darein, neben den pappenartigen Zinskasernen, wie sie rings erstanden, ein stattliches und geräumiges Haus zu bauen, das hell, luftig und solid, voll Charakter und Gediegenheit war. Seine beiden Töchter, die kindergesegnete Hausstände führten, sollten das erste Stockwerk innehaben. An ihre Wohnungen schlossen sich die Räumlichkeiten des Großvaters an. Für den jüngeren Sohn, der erst kürzlich geheiratet hatte, war im nächsten Stockwerk vorgesehen, und eines oder das andere der Enkelkinder, das zur Aussteuer kam, sollte sich dann friedlich hinzugesellen, indem die fremden Mietsleute den Angehörigen der Familie ihren Platz räumten. So waren die Grundlagen für ein Familienhaus im größten Stile geschaffen, ein Lieblingsgedanke des alternden Herrn seit Jahren.

Als das Gebäude fertig war, vereinigte der Großvater Kinder und Enkel in seiner neuen Wohnung zu einem festlichen Mahle. Er liebte bescheidene Tafelfreuden, wenn er die Seinen um sich haben konnte, und sorgte selbst um die Gerichte, nicht so sehr für sich, denn er aß wenig, wie um sich an dem herzhaften Appetit seiner jungen Enkelkinder zu erfreuen. Als nun alle ihre Sitze eingenommen hatten und das Mahl in fröhlichem Gang war, kehrte das Gespräch immer wieder auf das neue Haus und seine Bequemlichkeiten zurück und auf die ganze mühevolle Zeit seines Entstehens. Und es ergab sich von selbst, daß dann auch die Rede auf das erste Haus kam, das Herbeck als Zwanziger erbaut hatte. Die Enkel, die wenig von jener Zeit wußten, hörten mir voller Aufmerksamkeit den Erzählungen des Großvaters und der Eltern zu. Fünfzig Jahre, ein halbes Jahrhundert! Was für eine undenkbare Zeit war das für sie, und wie ganz anders, wie jung mußte der weißhaarige Großvater damals ausgesehen haben? Noch jünger, viel, viel jünger als ihre Eltern heute. Und auf einmal rief der dreizehnjährige Richard, ganz hingerissen von der Gedankenfolge, die sich ihm aufdrängte: »Großvater, wie du das alte Haus gebaut hast, das muß dir doch viel mehr Freude gemacht haben als jetzt das neue. Damals warst du noch jung und hast gewußt, daß du noch lange darin leben wirst.«

Weiter kam er nicht. Er merkte, daß er etwas Ungeschicktes gesagt hatte und verstummte errötend. Zugleich fühlte er einen strengen Blick seines Vaters auf sich ruhen. Eine peinliche Pause entstand, und im Augenblick fand keines das rechte Wort, sie zu kürzen. Der Großvater aber lächelte mild und sagte:

»Lieber Richard, du hast nichts Übles gesagt, wem möchte es nicht ebenso scheinen wie dir, und Fernerstehende werden es vielleicht sogar seltsam finden, daß ein alter Mann mit soviel Lust und Eifer den Bau eines Hauses betreibt, in dem die Jahre ihm schon gezählt sind ,… Das steht in Gottes Hand! ,… Aber sieh, es ist doch nicht so, und euch allen kann ich es heute sagen: ich war kein glücklicher Mensch damals vor fünfzig Jahren! An meinem ersten Hause haben Kummer und Sorge fast jede Nacht wieder ebensoviel eingerissen, als am Tage gebaut worden war. Unsere liebe, gute Mutter stand mir treu zur Seite und hat alles redlich mit mir geteilt. Aber es hätte uns bald beide erdrückt! ,…

»Das alte, große Handelshaus, dem ich angehörte, hatte in dem Jahre meines Wegganges eine Reihe seiner tüchtigsten Kräfte verloren. Ich darf mich wohl auch zu diesen zählen, denn ich war immer munter bei der Sache und genoß das volle Vertrauen meiner Prinzipale. Eines Tages winkte mich Fabian, unser Magazineur, der mein bester Freund war, beiseite und erzählte mir flüsternd, daß er soeben gekündigt habe. Er sei verlobt und gedenke, sich ein eigenes Geschäft zu gründen. Immer könne es ja nicht im gleichen fortgehen, endlich einmal wolle man doch sein eigener Herr sein. Er war kaum unter dem Bedauern und den Segenswünschen unserer Alten aus dem Hause geschieden, als sich bei dem und jenem von uns eine eigene Verdrossenheit bemerkbar machte. Verschiedene der Kollegen hatten gleich mir Fabians funkelnagelneues Geschäft besichtigt und beneideten ihn nun in ihrem Herzen um seine neue Stellung. Und richtig zog es bald einen nach dem andern die gleichen Wege. Ich habe nur von einem später gehört, daß er es nicht zu bereuen hatte. Mir aber ließ es von da an keine ruhige Stunde mehr. Ich rechnete, zählte und kalkulierte die ganze Woche und am Sonntag nur noch um so mehr, und eines Tages, als ich mich zweimal an der Wage geirrt hatte und etwas ins Kassabuch eingetragen hatte, was in das Warenkonto gehörte, vertauschte ich meinen abgetragenen Geschäftskittel mit dem langen Gehrock, den ich am Morgen angezogen hatte, und trat in die Schreibstube meiner Chefs. Sie errieten sofort, was mich zu ihnen führe. Und als ich ihnen meine Bitte, mich mit nächstem Monatsbeginn aus ihrem Dienste zu entlassen, vorgebracht hatte, wiegten sie beide, es waren zwei Brüder, alte, wackere Herren, ihre grauen Häupter, und der ältere sagte mir einem Tonfall der Stimme, den ich heute noch höre, zunächst nur die Worte: ›Also Sie auch!‹ Sie baten mich sodann, ihnen vertrauensvoll meine Verhältnisse auseinanderzusetzen, was ich bereitwilligst und, weil ich auf diese Frage vorbereitet war, genau und ausführlich tat. Sie warfen dabei ein ums andere Mal einander seltsame Blicke zu, und als ich geendet hatte, warnten sie mich vor allzuviel Vertrauensseligkeit und suchten mir eindringlich klar zu machen, daß die Umstände durchaus nicht danach wären, mir einen Erfolg für die Zukunft zu verbürgen. Im übrigen wollten wir beiderseits heute noch nicht das letzte Wort sprechen. Ich sollte mir die Sache noch einmal überlegen und nach einiger Zeit wiederkommen.

»Aber schon nach drei Tagen stand ich wieder vor den beiden Alten und sagte: Ich würde nie vergessen, was ich ihnen zu danken habe, und die Zeit, die ich in ihrem Hause verbracht, gehöre zu den schönsten Erinnerungen meines Lebens – aber ich sei jung und stark und wolle auch einmal sehen, wie es sich auf eigenen Füßen stehe. Und mit einiger Mißgunst des Schicksals könnte ich es schon aufnehmen. Darauf sagten sie nichts mehr. Aber ein väterliches Wohlwollen bewahrten sie mir noch auf Jahre hinaus. Ich kaufte mir von meinem kleinen Vermögen das Geschäft in der Brückengasse, und sie übergaben mir die Vertretung ihrer amerikanischen Farbhölzer für meinen Bezirk, in dem sich damals viele Färbereien befanden. Diese alle wurden meine Kunden, und mein kleiner Handel erblühte bald zusehends.

»Nach zwei Jahren lernte ich die Mutter kennen und einer glücklichen Bräutigamszeit folgte eine noch glücklichere Ehe. Dann kamst du, Rudolf, zur Welt, und ich hätte nun meinen Wünschen Einhalt gebieten können. Aber zur selben Zeit gab es allerlei Verdrießlichkeiten mit dem Hausherrn und da ich überdies der Meinung war, meine Geschäfte würden sich in einem eigenen Heim viel leichter abwickeln, auch Frau und Kind die Wohltaten eines, wenn auch kleinen Gartens zuwenden wollte, erstand ich in unmittelbarer Nachbarschaft ein geeignetes Grundstück zu mäßigem Preise. Meine weiteren Hoffnungen setzte ich auf meinen Schwiegervater. Ich hatte ihm gegenüber bisher von meinen Plänen geschwiegen, denn ich wußte, er würde sie mir ausreden wollen. Nun, wo ich den Anfang gemacht, hoffte ich, daß er mir ein wenig unter die Arme greifen würde – er hatte für seine übrigen Kinder schon viel mehr getan, als wir von ihm erwarteten, und seine Mittel galten damals noch für sehr bedeutend. Aber er war ein ganz besonderer Herr. Meine Verschwiegenheit beim Ankauf des Grundstückes hatte ihn beleidigt, und als ich eines Sonntags mit meiner Bitte herausrückte, kam es zu einem heftigen Auftritte. Er zeigte sich äußerst aufgebracht, daß ich, wie er sagte, eigenmächtig über sein Geld verfügte, und fragte mich höhnend, ob ich nicht vielleicht schon eine auf seinen Namen lautende Rechnung in der Tasche trage. Sein letztes Wort war, ich sollte den Platz, je eher, desto besser, wieder losschlagen, von ihm hätte ich nichts zu erwarten. Ich ging empört weg, willens, den Bau trotzdem zu beginnen, der Vater werde schon nachgeben, wenn er sehe, daß es mir ernst sei. Unsere Mutter ließ sich nicht abhalten, meinen Gang zu wiederholen. Es erging ihr nicht besser als mir. Aber sie vertraute in ihrer Liebe auf mich und riet mir von meiner Waghalsigkeit nicht ab.

»Wir gingen schon der Gleiche entgegen, aber der Vater ließ noch immer nichts von sich hören. Meine Barbestände waren nahezu erschöpft und ich hatte noch verschiedene wichtige Zahlungen vor mir. Um für die nächste aufkommen zu können, mußte ich einiges Kapital dem Geschäfte entlehnen. Meine Lieferungen stockten, nachdem die Gebrüder Wiesner, an meine pünktlichen Verrechnungen gewohnt, mein Konto schon außerordentlich anwachsen hatten lassen. Mehrere meiner Kunden wurden unruhig und verließen mich. In dieser Zeit der ersten Not ging unsere Mutter – ich selbst hätte es nicht über mich gebracht – nochmals in ihr Elternhaus, um den Vater zu erweichen. Sie traf ihn in großer Erregung an und wurde kaum zu Wort gelassen. Schluchzend kam sie zu mir zurück und verfiel in der Nacht darauf in ein heftiges Fieber. Nach einigen Tagen machte der Arzt eine bedenkliche Miene. Ich schrieb sofort dem Schwiegervater, ohne natürlich die nächste Ursache der Erkrankung auch nur anzudeuten. Andern Tages besuchten uns die Schwestern der Mutter und erzählten mir weinend, der Vater müsse Unglück im Geschäft gehabt haben, er rede nichts und sei wie gebrochen. Bald darauf erfuhr ich die volle Wahrheit. Nun hätte der Arme auch mir nicht mehr helfen können! Und ich durfte unserer Mutter kein Wort davon sagen! Sie siechte lange Wochen hindurch fort und erst nach einem Jahr erlangte sie ihre vollen Kräfte wieder. Das Haus aber ging inzwischen seiner Fertigstellung entgegen, nur in flüchtigen Minuten von mir besehen, der ich meine ganze Zeit zwischen dem Geschäft und der Pflege der teuren Kranken teilte. Und wenn ich manchmal abends durch seine kellerfeuchten Gelasse wandelte, in die das Feuerrot der untergehenden Sonne brach, stand oft mein Herz unter der bangen Frage still: »Wird es wieder so werden, wie früher? Wird mein lieber kleiner Kreis hier gesund und aufrecht einziehen, wird das neue Geschäftsschild hier so fleckenlos strahlen, wie das alte an dem fremden Haus? Die Hände ineinanderpressend, bin ich dann da und dort in mich versunken stehen geblieben, bis die Sorge mich wieder jählings heim trieb. Dort lag die kranke Frau und konnte sich nicht fassen, und ihre großen Augen blickten müd und traurig auf meine sorgenvolle Stirn. Dem Kind fehlte es an geregelter Pflege. Das Geschäft aber war nur mühsam im Geleise zu erhalten. Endlich hatte ich drückende Schulden aufnehmen müssen, um den Forderungen des Baumeisters und der Gewerksleute, die hoch über den Voranschlag gestiegen waren, zu genügen. Und das alles um eine Zukunft, deren Grundlagen so furchtbar erschüttert waren!«

Der Großvater hielt inne. Er lebte ganz in den vergangenen Zeiten und die Schatten alter Sorgen zogen an seinen Augen vorüber. Atemlos hingen die Seinen an seinem Munde. Endlich begann er wieder:

»So ist vor fünfzig Jahren mein erstes Haus erstanden. Leid und Kummer haben es vor mir bezogen. Aber ich habe ihnen den Aufenthalt nicht leicht gemacht. Die Mutter wurde wieder vollkommen gesund, unser Kind wuchs fröhlich heran, das Geschäft kam nach Jahr und Tag wiederum in seinen alten Gang, und jeder Kreuzer, den ich zurücklegte, wurde zur Abzahlung meiner Schulden verwendet. Nach zwanzig Jahren war ich frei. Es war kein kleines Stück, und wenn ich heute zurückdenke, so erscheint es mir noch unbegreiflich, wie alles wieder gut geworden. Freilich, ich bin auch dann noch nicht auf Rosen gewandelt. Schweres Leid ist mir in keinem Alter erspart geblieben, ich trug es mit Ergebung und habe mich niemals gegen den Himmel aufgelehnt. Und habe ich früher oftmals über dies und jenes, was mir in meiner Schicksalsfügung nicht klar erschienen war, den Kopf geschüttelt, so habe ich die Jahre her die Wege des Herrn immer besser verstehen gelernt. Und er hat mir das Wunderbarste ins Herz gesät: Mit meinem Alter nicht zu hadern. Ich weiß, es dauert nicht mehr lange. Aber mir ist es, als wäre es ein Leben für immer. An jedem von euch habe ich mein Leben wiedergelebt, und aus jedem liebenden Kinderblick grüßt mich die Verheißung, daß ich für euch nie schwinden werde. Ohne Sorgen, ohne Kummer und Lasten habe ich dieses neue Haus erbaut. Lächelnd bin ich durch seine Räume geschritten, als sie sich gewölbt hatten, und schon habe ich in allen Winkeln gute Geister nisten sehen. Ich habe keine Zukunft mehr, die ich zu fürchten hätte, es wird ein Hauch und ein Ende sein. Aber was ich mein Leben getan, nichts hat mir diese Freude bereitet, als nun an meinem Abend alle meine Erfahrungen und meine ganze Liebe in einem Werke zu vereinigen, dessen Inwohner dem alten Großvater, wenn er schon lange tot ist, ein Plätzchen in ihrem Herzen bewahren werden!«

Der Greis schwieg und seine Blicke leuchteten. Und seine Kinder und Enkel drängten sich an ihn heran und umarmten ihn mit Tränen in den Augen.


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