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Der Weberknecht

Es regnete unaufhörlich. Die gebräuchliche Wendung »wie in Strömen« drängte sich mir nicht auf. Es regnete einfach ausgiebig, tüchtig zwar und vor allem ohne Unterbrechung. Ich stieg aufwärts, hatte felsigen Boden unter mir, der nicht erweichte, und fühlte mich wie von einer, nicht vor Nässe, aber vor Weltunbill schirmenden Wasserglocke umhütet. Schön mochte es sein in diesem Hochtal, das einem sonst wohl bei jedem Schritt aufwärts neuen Ausblick auf nahe und ferne Bergzüge und Gipfel aufschloß. Davon sah ich nichts, just nur die krüppeligen Kiefern, die meinem Pfad zunächst standen, und wie gespenstisch tauchten immer neue Blöcke und Trümmer auf, die auf ihrer Wanderung in die weite Welt hier für ein paar Jahre oder Jahrhunderte Rast hielten, eh' sie in plumpen Sprüngen weitersausten. Und je mehr ich mich so in meinem Verlangen nach Licht, Erdenweiten und Himmelsluft getäuscht sah, ergötzten sich meine Gedanken an dem Erlebnis vor drei Wochen, wo ich das alles gehabt hatte, ohne es ruhig genießen zu können, und von dem steilen, düsteren Bergpfad hinweg flog meine Seele hinunter zu den schimmernden Fernen des Adriatischen Meeres.

Zum erstenmal auf der Reise hatte ich mich damals in Chioggia vereinsamt gefühlt. Ich saß auf der Terrasse des Gasthofs und speiste meine Branzine, während die anscheinend zusammengewürfelte Gesellschaft, mit der ich auf dem Lagunendampfer hergekommen, am Nebentische in unangenehm lärmender Art ihr Vergnügen suchte. Zwei widerliche Alte stellten sich vor mir auf und sangen tänzelnd mit kreischenden Stimmen einige schale Lieder. Ich warf ihnen ein paar Soldi zu und sah scheu um mich, als sie sich entfernt hatten, denn die Terrasse war von einem Haufen schmutziger Bettler und Schiffer umlagert, die, am Nachbartisch mit einigen energischen Worten unsanft abgefertigt, nun ihre ganze Hoffnung auf mich zu setzen schienen. Aus meinem Reisehandbuch wußte ich, daß es sich lohne, zu den gewaltigen Steindämmen überzufahren, welche die Lagunenlandschaft gegen den Ansturm des Meeres sichern. Und das schien mir nun auch das Einzige für meinen Zustand: drüben von den Mauern in die blaue Adria hinauszuschauen, lange, lange, ja das mußte hier in dieser Einsamkeit eigentlich noch viel schöner sein als droben im Badetreiben des Lido.

Aber der Gedanke war mir lästig, daß ich in dem Augenblick, wo ich mich vom Tisch erheben und auf die Straße treten würde, den ganzen Rudel um mich hätte, der nebensitzenden Gesellschaft sicher zur heimlichen Belustigung. So war es mir nicht ungelegen, als sich ein brauner Geselle mir blitzenden Augen an mich heranschlich, mich zu einer Fahrt nach dem »Murazzi« zu überreden. Zwar machte ich zuerst eine leicht abwehrende Bewegung, aber als der andere mit seiner eindringlichen Zusprache, aus der ich nur einige Wörter herauslösen konnte, fortfuhr, sagte ich endlich, nur um ihn loszubringen: »Später – Più tardi!« Der Unterhändler sah dies als fertige Abmachung an, ging zu seinen Genossen zurück, und ich merkte, wie sich noch zwei andere zu ihm gesellten und ruhig auf meinen Aufbruch warteten. Nun gab es also kein Zögern mehr. Ich beschloß, hier am Platze keine weitere Verständigung zu versuchen, beglich meine Wirtsrechnung und schritt geradenwegs auf die Fischerbarken zu, auf die nun, ihre verfärbten Mützen zum Gruße schwenkend, über ein Dutzend der Harrenden loseilte. Über diese übertriebene Geschäftigkeit zur Flottmachung eines kleinen Kahnes mußte ich lächeln, sah aber bald, daß es sich nicht um ein einruderiges Boot, sondern um eine größere Barke handelte, die dreier zu ihrer Bemannung bedurfte. Gern hätte ich gefragt, ob es nicht einfacher auch ginge, aber ein eigentümlicher Stolz hielt mich zurück. Hier gab es nichts mehr, als alles für selbstverständlich hinzunehmen, eine vornehme Miene aufzustecken und weder den um mich Beflissenen, noch den Nachblickenden die Bedenken zu verraten, daß ich, wie mir aufdämmerte, im Begriffe sei, mich in eine etwas kostspielige Sache einzulassen.

Ein paar feste Ruderschläge und das Schiff flog dahin. Nun erst hatte ich Zeit, mir meine Leute genauer anzusehen. Da war vor allem vorn am Bug der, welcher mich zuerst angesprochen hatte, ein schwarzer, sehniger Kerl, aus dessen sonnverbranntem Antlitz das Weiß der Augen und Zähne seltsam hervorstach. Einer, mit dem sich prächtig auskommen ließ, solang es nicht schief ging, der einem aber auch, wenn's drauf ankam, mit lachenden Augen und blinkenden Zähnen die Gurgel durchschnitt. So entzifferte ich ihn mit einem gewissen romantischen Behagen. Der zweite war ein grauer Alter mit einem Viktor-Emanuel-Bart, ein liebenswürdiger Schwätzer und Betrüger, der die Aufgabe hatte, durch biedermännische Sorglichkeit das Vertrauen des Reisenden zu erwärmen. Über den dritten, der hinten am Steuer saß, war nicht viel zu sagen: ein stumpfer Geselle, der aus Eigenem nichts vorzubringen hatte und nur immer bestätigend die Schlußworte jeder Rede des Alten wiederholte.

Als die Barke in die Nähe der Dämme kam, sagte der Graubart: »Signore, in alto mare!« und wies auf die herrlich erschimmernde Fläche der Adria hinaus. Ich war hingerissen. »Si, si!« nickte ich und im selben Augenblicke schon dachte ich bei mir: Ich mache es ihnen wahrhaftig leicht, mich tüchtig zu rupfen. Aber ich hätte mich den ärgsten Philister schelten müssen, wenn ich hier, an der Pforte des Meeres, nur einen Augenblick gezögert hätte. Wohl hatte ich gemerkt, wie sich auf meine Einwilligung hin die Augen der Schiffer bedeutsam zugeblinzelt, und als nun der Alte freudig auf Mast und Segel wies, die bis dahin unbeachtet auf dem Boden gelegen waren, und mit den anderen alsbald daranging, das klobige Holz einzurammen und die gelbrote, vielfach geflickte, grobe Leinwand daran zu befestigen, verursachten mir diese dienstbeflissenen Anstalten ein eigentümliches Unbehagen, durch das die Stimme der Anspruchslosigkeit hindurchklang: das alles um meinetwegen! Ich wäre ja so auch zufrieden gewesen. Was denkt ihr von mir, daß ihr mir eure besten Künste zeigen wollt! Aber schön war es doch, wie sie das bunte Tuch in die Höhe zogen und mit einem Gewirre verwaschener, endlos verknüpfter Leinen festbanden – und nun saß ich auf einmal in einer jener malerischen Barken, deren ich in diesen Tagen so viele gesehen hatte, und die mir so geheimnisvoll, so von Lied und Sage umspielt erschienen waren. Die Ruder waren eingezogen, eine sanfte Brise trieb das Fahrzeug lautlos über den Spiegel. Und so verschüttete ich alle Unruhe in mir und genoß den Augenblick.

Nun waren wir schon weit draußen. Die Schiffer feierten. Der Alte hatte sich ein Pfeifchen angezündet und wies damit links auf entfernte Hütten, indem er erklärend sagte: »Pelestrina!« Ich nickte. Das wußte ich schon von der Dampferfahrt her. Auch meine Karte hatte es mir längst bestätigt. Dann deutete er zurück und sagte im gleichen Ton: »Chioggia!« Nun, das war doch selbstverständlich. Und nach einer Weile: »Bon vento, Signore!« – »Bueno vento,« wiederholte ich. Und wieder nach einer Pause – wunderbare Stille! Hätte ich mich ihr nur völlig hingeben können! – kam es in gebrochenem Deutsch heraus: »Signore, fahren wir nach Pelestrina!«

Also das war es! Man hatte mich so weit herausgefahren, um nun noch eine höhere Taxe zu erpressen! Mit Kopf und Händen heftig verneinend rief ich mehrmals: »No, no!« Aber nun mischte sich der Schwarze, der diesen Augenblick abgewartet zu haben schien, darein: »Signore, hier Mezza Strada!« – »Si, si, hier halber Weg,« übersetzte sein Gefährte. »Signore vor Dampfschiff in Pelestrina, kommt vier Uhr swanßig.« Ich aber wiederholte mein: »No, no!« und befahl: »Ritorniamo a Chioggia!« Doch sie machten keine Anstalten, lächelten still wie über einen, der seinem eigenen Vorteil im Weg ist, und zergliederten immer von neuem ihren Vorschlag, dessen Haupttrumpf darin bestand, daß sie in Pelestrina fast eine Stunde vor dem nach Venedig zurückfahrenden Dampfer anlangen würden. Endlich stellte ich, wieder einen Schritt nachgebend, die jedem Fremden geläufige Frage: »Quanto costa!« Aber sie verflog über die Wasser. Ich fragte, was sie verlangten, und sie zeigten mir, dort liege Pelestrina und dort Chioggia. Ich wollte ihre Taxe wissen und sie versicherten mir, ich würde vor »vier Uhr swanßig« an Ort und Stelle sein. Ich schrie schier hilflos: »Quanto costa?« und sie sagten mir, daß heute eine so schöne Brise sei, wie nur an wenigen Tagen im Jahre. »Ritorniamo!« rief ich unwillig und mit aller Strenge aus, aber sie lächelten achselzuckend in die blaue See, und der Alte begann von neuem mit denselben Argumenten auf mich einzusprechen. Ich hatte mir auf italienisch den Satz zurechtgelegt: »Ich verstehe Euch ja, aber ich sage nichts, solange ich nicht Eure Forderung kenne!« Und der Alte hinwieder in seinem Kauderwelsch: »Wir fahren nach Pelestrina; der Wind ist gut, Sie warten dort auf den Dampfer und geben jedem von uns« – er sagte es ganz gelassen – »acht Lire!«

Ich erschrak: vierundzwanzig Lire! Herr des Himmels, hielten mich die Leute für einen Millionär! Für zwei Stunden Kahnfahrt! »Niente, ritorno!« rief ich, »troppo, troppo, viel zu viel!« aber die Schiffer schüttelten den Kopf, wie man ihn über ein störrisches Kind schüttelt, und nachdem ich wieder zugewartet, fügte ich bei: »Non ho denaro,« und, um volkstümlich zu werden: »Sono un povero diavolo!«

Nachdenklich indes und ein wenig wehmütig lächelnd meinten die Schiffer, sie seien die armen Teufel, die ihr tägliches Brot hart erarbeiten müßten, und ich sah in diesem Augenblicke nickt die Fremdenausbeuter in ihnen, sondern die mühselig fronenden Familienväter, und ich sah ihre abgehärmten Weiber und hungrigen Kinder vor mir und dachte an ihr enges, kümmerliches Leben, über das sich das meine freilich weit emporhob. Und sah ins Meer hinaus, dessen Stille immer vertrauter wurde. Zauberhaft glitt die Barke dahin. welch unwürdiger Zwiespalt der Gefühle! Ich mußte um den schnöden Mammon feilschen, jetzt, wo mir einer der größten Genüsse des Lebens ward! Was würde denn darauf wieder folgen: Stubenhocken, das stumpfe Stadtleben und dann das andere alles, alles ,…

Und ich lächelte wie in Träumen und sagte nur noch einmal: »Troppo!« Da rief der Schwarze: »Diciotto Lire, Signore!« und der Alte verdeutlichte: »Quindici Lire e una bottiglia per uomo!« Fünfzehn Lire allen dreien und noch jedem eine als Trinkgeld. Meer und Sonne leuchteten überwältigend. Ich sagte: »Bene!«

Es war, als ob sich ein Alpdruck von der Barke löse. Die Schiffer zeigten sich geschäftig, obwohl nichts zu tun war, das Steuer knarrte, ihre Blicke flogen voraus. Und schneller, als es mir nur erwünscht sein konnte, ging die Fahrt zu Ende. An der Rückseite des Dörfchens bei wuchtigen Felstrümmern wurde gelandet. Ein Mann sprang herzu und schlang die Schiffsleine um einen Steinvorsprung. Der Schwarze reichte mir die Hand und führte mich von Fels zu Fels, bis zu einem ebenen Pfad hinauf. Als ich hier meine Brieftasche zog, wandelte es mich an, einen Scherz zu versuchen. Ich hielt ihm drei Fünflirescheine hin und sah ihm verschmitzt lachend in die Augen. Aber in diesen blitzte es so plötzlich und drohend auf, daß ich eiligst die drei Silberstücke hinzulegte ,…

Auf dem Dampfer umringte mich dann die Gesellschaft aus dem Gasthof. Man war erstaunt, mich hier zu finden, fragte mich über die Fahrt aus und was ich bezahlt habe. Ich nannte einen weit geringeren Betrag als den, um den ich eben ärmer geworden, und merkte deutlich, daß man mich um meine Unternehmungslust und mein Erlebnis beneidete.

Ich aber trat an die Planken, sah in das Abendrot der Lagunen hinaus, sah im Feuerschein San Giorgio Maggiore und die Wunder des Marcuskanales auftauchen und pfiff ein Liedchen durch die Zähne. – – – – –

Es regnete unaufhörlich. Und ich fühlte, wie sich wieder meine Lippen spitzten, und ich pfiff dasselbe Liedchen wie damals, lächelnd, unzufrieden mit mir und doch in einem eigentümlichen Behagen. Es war ein Erlebnis gewesen. Gut. Jetzt war ich geborgen, der Regen konnte mir nichts antun und morgen stand ich vielleicht im reinsten Sonnenäther droben auf dem Gipfel und unter mir versank alle kleinliche Not und Beschwer. Ich hob den Kopf zur Höhe und aus den Nebeln lösten sich die Umrisse des Wirtshauses, in dem ich zur Nacht bleiben wollte. Es war Mitterberg, ein Ort, der nur aus dieser Herberge und einigen Almhütten besteht. Eine halbe Stunde seitab mußten die Stollen eines Kupferbergwerks liegen. Nur noch diese paar Schritte – und nun tat es gar wohl, die triefenden Oberkleider loszukriegen, in einem mild durchwärmten Wirtszimmer Suppe und roten Tiroler zu trinken und vor allem wieder ein schirmendes Dach über seinem Kopf zu wissen. Um zwei Uhr nachts sollte aufgebrochen werden. Bis dahin konnte der Regen längst vorüber sein, und im frühen rosigen Dämmer den langgestreckten Eisstrom des Gletschers zu beschreiten und dann auf dem Gipfel auf die Auferstehung der Sonne zu warten, das mußte wundervoll sein. Ich nahm in der Herrenstube meine Mahlzeit und ging dann hinüber in die Tavern, wo die Bergknappen bei lärmenden Blechinstrumenten, Tanz und Sang ihren Sonntag feierten. Es waren ihrer fünfzehn bis zwanzig, Graubärte und junge Burschen, die meisten mir ihren Weibern, unter denen mir eine blühende Frau von südländischem Typus auffiel, die ein rotes Tuch um die Schultern und lange goldene Ohrgehänge trug. Ihr Gesicht war dunkler als das der andern, und ihr gescheiteltes Haar fiel beiderseits gegen die feurigen, lachenden Augen ab, die unermüdlich im Kreise herumwanderten. Auch einige der Hausmädchen, die sich vom Dienste weggestohlen hatten, saßen inmitten der Männer, die sie durch ihre Rauchwolken fast verhüllten und versteckten. Wohl über eine Stunde sah ich dem Treiben zu, das betäubend auf mich eindrang, bis meine Blicke die Wirtin suchten, die mir eröffnete, sie habe Rucksack, Stock und Mantel von mir in ein Nebenhaus tragen lassen, weil ich hier, wo das Gelage der Knappen immer bis zum frühen Morgen dauere, selbst im letzten Hinterstübchen keine ruhige Stunde finden würde. Ich trat zur Tür, und an der Schwelle wandte ich mich noch einmal schlaftrunken um. Da sah ich, wie das Weib mit den schwarzen Augen sein Glas erhob und die Blicke, war's Zufall oder nicht, durchdringend auf mich richtete. Einen Augenblick lang zögerte ich. Aber schon war ich wieder verwandelt. Die kühle, reine Luft der Nacht empfing mich, der Lärm erstarb hinter der geschlossenen Tür und der Regen, der noch in gleichen festen Strichen zur Erde ging, schlug mir keck und ernüchternd ins Gesicht. Eine Magd leuchtete voran und schloß nach wenigen Schritten das Tor eines scheunenähnlichen Holzbaues auf, in den wir eintraten. Hier sah es seltsam genug aus. Wir standen auf einer großen Tenne, in der einige Heuwägelchen und sonstige Haus- und Almgeräte untergebracht waren. Aber welch liebliches Zimmerchen wurde mir nun aufgetan! Man sah auf den ersten Blick, es war erst seit ganz kurzer Zeit in die Scheune eingebaut worden: denn alles, Wände, Decke und Diele, war von blankem, weißem, noch harzig duftendem Holz, und die paar Geräte, Bett, Tischchen, Stuhl und Waschtisch, die das Gelaß beinahe ausfüllten, zeigten noch keine Spur von Gebrauch. Und durch das kleine Fensterchen, das kaum beiden Schultern Platz bot, sah man hinaus in die raunende Nacht, die ihren strömenden Segen auf die herbe Süße der Matten niedergleiten ließ. O, wie tat diese Stille, diese Heimlichkeit jetzt wohl! Ich streckte mich auf dem festen Lager und ließ die Kerze weit herunterbrennen, eh' ich sie verlöschte.

Zwei Stunden nach Mitternacht, wie ich mir's vorgenommen, erwachte ich. Ich sprang ans Fenster und öffnete es ein wenig. Rauh grüßte die Nachtluft herein und der Regen war noch immer gleich wie früher. Da mußt' ich, ob ich wollte oder nicht, wieder zurück ins Bett, aber die Hoffnung, daß es vielleicht doch besser werde, ließ mich nur einen unruhigen Schlaf finden. Immerzu hörte ich das milde, ausdauernde Klopfen auf dem Dach und wie das Wasser draußen gleichmäßig auf die Traufe niederrieselte. Auf einmal klang ein seltsamer Ton dazwischen. Was war das? Schon stand ich wieder an den Scheiben. Einige Gestalten torkelten weinselig aus dem Wirtshaus, aber aufrecht, das Haupt stolz erhoben, ging das Weib, das wie eine Italienerin aussah, zwischen ihnen und sang in der unverfälschten Mundart der Älpler, wobei ihre Stimme gegen den Schluß eines jeden Absatzes schrill und aufgeregt wurde. Obwohl sie mich nicht sehen konnte, schaute sie wie starr nach meinem Fenster, und mir war es, als sähe ich das Glosen ihrer schwarzen Augen. Ich hüllte mich in meinen Mantel und öffnete den Rahmen. Aber schon schwankte die ganze Gruppe in den Nebel hinein, der nur eine helle, singende Frauenstimme lange nicht ersticken konnte. Endlich trommelte nur wieder der Regen und rieselte die Traufe.

Als ich wieder erwachte, war es neun Uhr am Morgen. Draußen noch immer das gleiche. Aber wer dachte jetzt noch an Gletscher, Gipfel und Sonnenaufgang! Jetzt wollte ich erst recht die Regenmusik und meine Einsamkeit in vollem Behagen genießen. Und wenn es galt, blieb ich bis Mittag liegen und tat, als wäre niemand auf der Welt außer mir.

Die Zimmerdecke war so nahe über dem Bett, daß ich sie fast mit den Händen greifen konnte. Und als ich so sann und meine Gedanken die wunderlichsten Wanderungen antraten, gleichsam aus dem Mittelpunkt wohligsten Friedens nach allen Richtungen ausstrahlend, folgten meine Blicke den Linien der Holzzeichnungen über mir, zählten Bretter und Fugen, maßen und verglichen ohne Zweck und ohne Ziel die Entfernungen, um sie dann aus freien Stücken in drei, vier und mehr Teile zu zerlegen. Und bei all dem merkte ich die längste Zeit den kleinen, spinnenähnlichen, hochstelzigen Weberknecht nicht, der gerade über mir hockte und nur darauf zu warten schien, mir endlich seine Reverenz zu machen. Denn nun, da ich ihn ersah, nickte er mir über die Maßen freudig zu und begann sofort allerlei seltsame Bewegungen auszuführen, die nur für mich bestimmt sein konnten. Es war kein Zweifel, er wollte mir die Zeit verkürzen und mühte sich redlich ab, alle seine Kunststücke vorzuführen. Und das war in der Tat sehenswert. Zuerst hob er die beiden vordersten, dann die beiden letzten Beine und streckte sie geradeaus vor sich hin. Dann erhob er zur gleichen Zeit das erste und das dritte Beinpaar und hielt sich nur mit den beiden anderen fest, um hierauf diese zu senken, womit er abwechselnd eine geraume Zeit fortfuhr, um sich dann durch Wegstrecken aller vier Beine der einen Seite in die Höhe zu heben, in welcher Stellung er fast eine halbe Minute verharrte. Auch nach der andern Seite hin gelang ihm das gleiche Schaustück nicht minder vorzüglich und es war dann sehr artig anzusehen, wie er durch immer schnelleren Wechsel dieser Übung in ein eigentümlich rhythmisches Wiegen kam, aus dem er plötzlich in eine kreisende Bewegung überging, die dem Radschlagen aufs Haar ähnlich sah. Mein Beifallsgemurmel ging hier in ein lautes, hingerissenes »Bravo, bravo!« über, und dies mochte der Grund gewesen sein, daß er alle Vorbereitungen zu einem Kunststück traf, das mich in seiner Verwegenheit geradezu bestürzte. Er hatte sich nämlich nicht mehr und nicht minder in den Kopf gesetzt, als auf einem Bein zu stehen. Fünf seiner Füßchen hatte er im Nu in der Höhe, das sechste folgte nach einigem Schwanken und Versuchen. Aber wie er jetzt nur mehr auf zwei Beinen stand, an und für sich schon bewunderungswürdig, war es ihm beim größten Mühen nicht möglich, sein ganzes Gleich- und Schwergewicht auf einen einzigen Punkt zusammenzufassen. Er taumelte und drohte sich zu überstürzen, zog alle seine Glieder krampfhaft an sich und streckte sie ebenso krampfhaft wieder weg und schien soviel körperliche Anstrengung und seelischen Ehrgeiz in diese in hundert Weberknechtgenerationen vielleicht nur einmal erreichbare Programmnummer zu setzen, daß mir ernstlich um ihn bangte, weshalb ich endlich nach mehrmaligen, abwehrenden Zwischenrufen ein so herzlich-entschiedenes »Genug, genug, lieber Freund!« ausrief, daß er doch von seinem Vorhaben abstand und sich verlegen und mit entschuldigender Gebärde vor mir verbeugte. »Nichts da, mein Bester,« rief ich, »was du mir mit so vollendeter Gewandtheit gezeigt hast, war so außerordentlich, daß man das Unmögliche nicht verlangen darf. Und sieh: ich glaubte mir allein zu genügen, und nun hast du mir durch die Errungenschaften deiner Mußestunden die Zeit auf die schönste Weise vertrieben. Und wenn du jetzt noch ein übriges tun willst, so wollen wir auch noch ein Weilchen zusammen plaudern.«

»Sehr gern,« sagte der Weberknecht, und ich hörte jetzt zum erstenmal seine feine, nur etwas scharfe Stimme, »sehr gern, und wenn's beliebt, von unserem Sport.«

»Von unserem Sport?« fragte ich verwundert, »ich verstehe dich nicht.«

»Ei,« lachte der Weberknecht, »wir sind doch sozusagen beide Bergsteiger.«

»Wahrhaftig,« rief ich, »nein, daß mir das nicht gleich einfiel! Da sind wir ja eigentlich Genossen. Freilich, ein richtiger Sportsmann bin ich ja nicht, wenn sich auch manches Mal ganz plötzlich und prickelnd in mir die Lust regt, einen Berg nur des Kletterns wegen zu besteigen, so daß ich mir dann immer Vernunft predigen und die Zügel anlegen muß, daß meine stille Liebe nicht zur Leidenschaft entarte. Also du siehst, ich bin nur ein Stümper gegen dich. An einer senkrechten Wand bin ich noch nie hinangestiegen, noch weniger an einem überhängenden Felsen gesessen, und dort gar noch Akrobatenstücke auszuführen, das gelänge mir nicht und wenn ich tausend Jahre alt würde.«

Der Weberknecht schien über diese Eröffnungen sehr erstaunt. »Wie,« rief er, »du gehst nicht des Steigens und des Kletterns wegen in die Berge? Ja, wozu denn sonst?«

»Der göttlichen Natur wegen, mein Lieber. Der klaren, himmlisch reinen Luft wegen, des prächtigen Wassers wegen, seines Rauschens und Brausens. Dann weil hier die Sonne viel heller scheint als drunten in den Tälern. Und weil alles zusammen, Luft, Wasser und Sonne, dem armen Erdenleib so unendlich wohl tut. Und weil das Blut viel leichter wird und die Sinne freier und fröhlicher. Und weil der Blick sich in weiten Fernen mißt und es die Seele so weit und glücklich macht, in einem Augenblick ganze Länder zu umfassen und hoch, hoch über ihrem Trubel und Hasten, ihren Leidenschaften und ihrem Elend zu stehen.«

»Davon verstehe ich nichts,« sagte der Weberknecht.

»Ich bin noch nicht fertig,« fuhr ich fort. »Denn ich muß noch eines sagen, schier das Wichtigste: Ich gehe auf die Berge, um einsam zu sein. O, diese unbeschreibliche Wonne, so immer höher und höher zu steigen und sich bei jedem Schritt zu sagen: Nun sind es wieder Tausende, die dir nicht mehr folgen können, und aus Millionen hebst du dich heraus, deren Larven hinter dir versinken ,…«

»Oho,« unterbrach mich hier mein Gesellschafter, »du bist ja der reinste Menschenfeind!«

»Beinahe,« antwortete ich etwas kleinlaut und wurde nachdenklich. »Manchmal glaube ich's beinahe selber. Zum Beispiel jetzt. Du ahnst gar nicht, wie mir mein augenblicklicher Zustand behagt. Wirklich, mir wär' am wohlsten, wenn ich den ganzen Tag keinen Menschen zu sehen brauchte. Schon fürchte ich den ersten Schritt, der mich aufstört. Und jetzt liege ich so allein und vergessen da in meiner Scheune, verträume die Stunden und lasse die ganze Menschheit Menschheit sein. Ich sage dir, ich wüßte jetzt wirklich nichts, was mich von hier vertreiben könnte.«

»Ja, ja,« sagte der Weberknecht bedächtig, »das ist in ihrer Art auch eine große Eigenschaft.«

Dann schwiegen wir beide durch geraume Zeit. Ich war ganz von den Gedanken und Empfindungen meiner Rede eingenommen. Auf einmal sah ich, wie mein Gefährte seinen Platz verließ und langsam der Fensterwand zustelzte. »Willst du mich schon verlassen?« fragte ich halb träumend.

»Verzeih!« erwiderte der Schreitende mit bedauernder Stimme und setzte dann nur so beiläufig hinzu: »Es geht schon gegen elf. Da kommen von den Knappenhäusern immer allerlei Leute herauf, das Mittagessen zu holen. Unter ihnen ist eine Frau von südländischem Aussehen, die ein rotes Tuch um die Schultern hat und lange, goldene Ohrgehänge trägt. Ich habe eine kleine Schwäche für sie. Vom Dachvorsprung aus um die Ecke herum sehe ich sie kommen und möchte ungern auch nur einen Tag auf ihren Anblick verzichten.«

Schon war er durch eine Fuge im Fensterrahmen verschwunden. Noch einen Augenblick lag ich wie starr in meinen Polstern ,…

Dann ,… Was war es nur? Es hatte mich aufgerissen, daß es mir noch eine ganze Weile in den Gliedern lag, daß ich ganz müde davon war. Ah, noch einmal hinlegen! ,… Aber nun stehe ich auf einmal schon angekleidet da und meinte doch, ich hätte mich gerade von einer Seite auf die andere gelegt ,… Natürlich, es ist ja noch gar nicht Tag. In der Tavern brennt noch das Licht und ich höre sie singen und schreien. Auf einmal bin ich drin. Ja, dort sitzt sie noch, die Südländerin, wie ein Meisterbildnis aus der Mediceerstadt. Wie schön sie ist! Nun hat sie ein weißes Kleid umgetan, das auch den Kopf umhüllt und so der Rahmen ist den schwarzen Locken, den feurig brennenden Augen. Gleich hat sie mich erkannt und ihre Blicken kommen auf mich zu, lächelnd und lockend durch den Lärm und Rauch der menschenerfüllten Stube. Mit Verwunderung höre ich welsche Laute. Mein Blick streift die zechende Schar. Die drei dort kenne ich. Was wollen die hier? Warum sind sie nicht daheim in Chioggia, wo sie die Fremden schröpfen? Wieder, unwillkürlich, spitzen sich meine Lippen und ich pfeife jenes Liedchen, das ich in die Lagunen gepfiffen habe. Keiner kann es in dem Schreien gehört haben, aber der Schwarze dort, aus dessen sonnverbranntem Antlitz das Weiß der Augen und der Zähne seltsam hervorsticht, mit dem sich prächtig auskommen läßt, solang es nicht schief geht, der einem aber auch, wenn's drauf ankommt, mit lachenden Augen und blinkenden Zähnen die Gurgel durchschneidet, der sieht höhnisch herüber und spottet mir nach. Ich pfeife noch lauter und nun beginnen auch der Alte mit dem Viktor-Emanuel-Bart und der dritte mit dem stumpfen Gesicht zu hänseln und zu spötteln, daß die andern aufhorchen, lachen und den Lärm ins Ungeheure steigern. Was liegt mir daran! Ich bin bei der Schönen, habe mich neben sie auf die Bank gesetzt und frage, wie es komme, daß sie als Welschländerin heute nacht so richtig in der Mundart der Älpler hätte singen können. Worauf sie lachend meint: Sie eine Welsche? Sie sei ein Salzburger Kind wie alle, die hier herum sitzen. Ich aber sage, sie solle mich nicht zum besten halten, gerade jetzt hätte ich deutlich einen Fluch in italienischer Sprache rufen hören. Zugleich blicke ich nach der Richtung, wo er hergekommen, und sehe die Augen des Schwarzen wild aufleuchtend auf mich gerichtet. Da sagt sie: »Was wollen Sie von mir?« Trotzig, und gleich darauf noch einmal, aber viel milder: »Was wollen Sie?« Ich antwortete nur mit den Blicken und habe das Gefühl, daß ich nicht soviel mit Worten sagen könnte. Und nun ist mein Arm schon um ihre Hüfte: wer soll es sehen in diesem wilden Treiben! Nur der Einsame dort, der ganz allein still an seinem Tischchen sitzt, um den sich niemand kümmert, der Graugelbe, Dürre, mit den langen Beinen, der sieht es, aber lächelt nur, indem er mir verstohlen zuwinkt. Brav, Freund Weberknecht, du sollst sehen, ich fürchte mich nicht! Hei, dieses Gelärme! Und nun ist es mir, als hätte es sich an einem Punkt, ganz nahe meinem Ohr, verdichtet. Ich habe das Weib in meinen Armen und fühle mich plötzlich von ihr weggerissen. Sie streckt die Hände nach mir aus, sieht mich mit einem vollen Blick an, daß ich mich frei mache und nur sie fühle, die mir ihre offenen Arme entgegenhält, deren Mund nach dem meinen dürstet. Da wird der Trubel hinter mir zu einem wilden Aufschrei, daß ich mich unwillkürlich wende: Bänke und Stühle stürzen, der Alte und der Stumpfe hetzen den Schwarzen, andre suchen ihn zurückzuhalten. Aber schon blitzt ein Messer, ein leiser Schrei haucht durch die Luft, mein Auge sucht die Klinge, die ihren Glanz verloren hat und langsam und rauchend trüb aus der Brust des jungen Weibes hervorkommt, das sich schützend über mich geworfen hat. Ein langer dumpfer, dumpfer Klagelaut ist zu hören. Sonst nichts. Jedes andere Geräusch ist erstorben. Das Schankzimmer ist plötzlich menschenleer, nur dieser eine Ton klingt fort, furchtbar, zerrüttend in dieser schwarzen Nacht, in der ich das verheißungsvolle Leuchten eines schönen Augenpaares langsam, ganz langsam versinken, entschweben, verlöschen sehe. Ich liege regungslos, nur leise bebend und mein Herz hämmert in Wahnsinn. In Todesangst und scheu tue ich die Lider auf. Noch immer klingt der Ton fort, kaum merkbar verhallend und als wäre sonst nichts, kein Laut, kein Geräusch sonst auf der ganzen Welt. Ich schließe noch einmal die Augen. Jeder Gedanke, jedes Empfinden ist aus mir entflohen. Ich habe kein Gefühl der Zeit, keine Macht über meinen Körper ,… Endlich kommt die Allmutter Sonne, scheint zum Fenster herein, reinigt mir die Sinne von Schlaf und Traum, daß ich mich ermanne, mich von meinem Lager erhebe, das Fenster auftu' und frischen Atem hole und die Sehnsucht nach freier Luft, Licht und schimmernden Fernen ,…

Eine halbe Stunde darnach bin ich unterwegs. Und bei jedem Schritt aufwärts wird es mir wohlgemuter in der Brust, die bald keinen Raum mehr hat für Nacht und Spuk, so beseligend tun sich Erdenweiten, Himmelstiefen um mich, über mir auf.


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