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Die beiden Brüder

Vor einigen Jahren besuchte ich einen Jugendfreund, den ich lange nimmer gesehen hatte. Das Leben hatte uns weit auseinander gebracht und alle Versuche, die alte Vertraulichkeit wieder herzustellen, kamen über die ersten Anläufe nicht hinaus. Ich jagte damals meinen besonderen Zielen nach und bildete mir ein, daß meine Bestrebungen in dem alten Kreise nur Gleichgültigkeit oder heimlichem Sport begegneten, wie es auch sei, ich hatte jedenfalls den Flug zu hoch nehmen wollen, und als ich dann ernüchtert war, sah ich mich verlassen, und die Sehnsucht nach den Gefährten einer froheren Zeit meldete sich stärker und lebhafter mit jedem Tage. Gerade damals kam mir eine Nachricht zu Ohren, die mich sofort zu einem festen Entschlusse brachte: Ludwig, der der älteste unter uns gewesen, stehe vor seiner Hochzeit – da wußte ich, daß ich ihn aufsuchen werde.

Er hatte seit kurzer Zeit ein Landhaus in der Nähe von Wien erworben und ohne vorherige Anmeldung machte ich mich dahin auf. Der Empfang war voll ungeheuchelter Herzlichkeit. In schlichten Worten, kurz und abgerissen, erzählte ich von der Stimmung, die mich zu ihm geführt, und beglückwünschte ihn zu seinem bedeutsamen Vorhaben. Er zog mich an sein Herz und rief ein übers andere Mal, daß er mich nun nicht so bald wieder von sich lassen werde. »Es ist, als ob der Himmel nun auf einmal seinen ganzen Segen über mich ausschütten würde, da auch die alten Freunde zurückfinden. Wenn das Otto wüßte, der würde jubeln!«

Otto, sein Bruder, den ich auch schon fast vergessen hatte! »Was ist's mit ihm? Er ist doch wohlauf!« fragte ich sofort.

»Danke! Augenblicklich ist er im Auftrag seiner Behörde in der ungarischen Hauptstadt. Vorige Woche schrieb ich ihm meine Neuigkeit, die für ihn ebenso überraschend war, wie für euch alle. Er hat mir dann ausführlich geantwortet und in seinem Brief auch deiner gedacht. So kam es, daß ich gerade in den letzten Tagen mehr als sonst an dich erinnert war und es nicht als bloßen Zufall gelten lasse, was dich heute in mein Haus geführt hat.«

Er sah mich mit seinen blauen, vor Glück lachenden Augen an und ich ergriff, innerlich beschämt, seine Hände und drückte und schüttelte sie. Daß ich ihn, so wie ich es vorgehabt, heute noch verlasse, davon könne keine Rede sein, wiederholte er. Eine Nacht wenigstens müsse ich unter seinem Dache weilen, und mir fiel es nicht schwer, darauf einzugehen.

Gemeinsam verbrachten wir hierauf den Tag und er verging wie im Fluge. Mein Hauswirt tat, als ob nichts zwischen heute und damals läge. Er führte mich in allen Teilen seines kleinen behaglichen Besitzes herum, welcher durchaus von dem feinen Sinn eines Kunstliebhabers zeugte, der am liebsten selber überall Hand anlegt.

Aus unseren gemeinsamen Erinnerungen ward dies und das hervorgeholt und noch einmal spielte Ludwig auf den Brief seines Bruders an. Von seiner neuen Lage sprach er nur im Vorübergehen und kaum einmal nannte er den Namen seiner Braut, die, wie ich wußte, einer ihm nahestehenden Familie entstammte. Allein jeder Schritt, den ich in Haus und Garten tat, zeigte mir, daß er nur dafür lebe, hier seine Königin zu empfangen. Und er selbst war ein anderer, als er vor fünf Jahren gewesen: rascher, freudiger und lebhafter, und in allem, was er sprach, waren helle Farben und ein tiefer Klang, wie ich es nie an ihm gekannt hatte.

Es drängte mich, da er mir den ganzen Tag über ein liebenswürdiger Gesellschafter gewesen, ihn in den Abendstunden sich selbst zu überlassen. »Du denkst,« sagte er lächelnd, »daß man Verliebte bei Mondenschein und Nachtigallenschlag allein lassen soll. Gut, ich will dich nicht zurückhalten. Ich nehme deinen Vorschlag an. Aber auch du wirst vielleicht noch nicht dein Bett aufsuchen wollen. Darum gebe ich dir für dieses Stündchen etwas mit. Ich habe fast den ganzen Tag nichts über meine Verlobung gesprochen. Aber du sollst nicht glauben, daß es aus Mangel an Zutrauen geschehen ist. Lies dieses hier, es ist der Brief meines Bruders.«

Wir sagten einander gute Nacht und trennten uns. Droben hatte ich ein liebes Zimmerchen angewiesen bekommen, das mit frischen Blumen geschmückt war und auf den dunklen Kamm der Voralpen hinausschaute, deren Zackenlinie sich von dem verglühenden Golde des Himmels abhob. Die schweren Düfte des Rosenmonats entstiegen dem Garten. Grillen zirpten und von weit draußen drang zuweilen das gedämpfte Schüttern der Eisenbahn herüber. Lang blickte ich hinaus in den Abend. Dann zündete ich die Lampe an, entfaltete den Brief und begann zu lesen.

*

Lieber Bruder! Ich bin den ganzen Sonntag heute gewandert. Wenn wir von dem alten Hunnenlande hören, denken wir immer nur an die Pußta und die Zigeuner Lenaus oder auch an die Meeraugen der Karpathen, von denen wir schon in der Schule gelernt haben. Aber die wenigsten haben eine Vorstellung davon, daß in unmittelbarer Nähe der Hauptstadt ein liebliches Waldgebirge liegt, welches so heimatlich-deutsch anmutet, daß man jeden fremden Laut, den man darin vernimmt, wie eine störende Ungehörigkeit empfindet. Denn auch die Bewohner dieser Berge sind blondhaarige, blauäugige Schwaben, ein Rassevolk von herrlichster Reinheit. Welche Empfindungen mich beim Anblick ihrer hellen Dörfer überkamen, als ich an die Zukunft der rührend anmutigen Kinder, die da emporwachsen, denken mußte, davon will ich dir lieber gar nicht schreiben!

Schon früh am Tage bin ich aufgebrochen. Ging längs des alten Wasserstädter Friedhofs – er hat fast durchaus deutsche Grabschriften, von denen ich mir kürzlich eine Reihe schöner und tiefer Sprüche angemerkt habe – nach dem Auwinkel, einem freundlichen Talschluß, und dann an der Gastwirtschaft »Zum Saukopf«, wo das beste Wasser weit und breit aus einem riesigen Eberkopfe quillt, vorüber durch Eichenwälder und über Wiesen mit weiten Fernblicken zu dem uralten, sagenumwobenen Normabaum, an dem vielleicht einmal die Nornen gesponnen haben mögen. Von dort kam ich auf den Gipfel des Johannesberges, des höchsten Berges in der Umgebung, der mich, ich weiß nicht warum, lebhaft an unseren Hermannskogel gemahnte. Den Rückweg nahm ich über die ganz versteckt im Walde liegende Kapelle Maria Eichel nach dem Schwabenberg, wo ich einen Wagen mietete, um dem hier schon unerquicklich werdenden Sonntagstrubel der Großstädter zu entfliehen.

Du darfst aber nicht glauben, daß ich bis zu diesem Augenblick wie ein aufgezogenes Räderwerk hügelauf, hügelab durch Wald und Wiesen gelaufen bin. Wohl ein Dutzend stiller Plätzchen habe ich mir aufgestöbert, wo ich ungestört meinen Gedanken nachhängen, mich ganz der Einsamkeit hingeben konnte. Ich wollte keinen Gefährten bei mir haben. Ich war allein – so allein wie ich es jetzt immer sein werde …

Wie viele waren wir denn damals, als wir zum erstenmal die junge Freiheit tranken und unsre Heimat in froher Wanderschaft nach allen Seiten durchzogen? Fünf, nein sechs, denn gleich damals war Felix zu uns gestoßen, den wir als den Treuesten und Muntersten von allen liebten und der uns dann ebenso schnell wieder verlassen hat, als er gekommen war. Zwei Jahre stand er zu uns, und wir haben uns mit spärlichen Mitteln und reichlicher Zeit herumgetrieben, so gut wir es konnten. Er war ein unternehmender Kopf, etwas verschroben, aber grundehrlich, und wir gingen immer wieder, wenn auch manchmal zweifelnd, auf seine abenteuerlichen Pläne ein. Unsere nahen Alpen verschmähte er. Dagegen besaß er eine leidenschaftliche Vorliebe für jeden Waldwinkel auf der linken Seite der Donau, dem nie römisch gewesenen Urboden des deutschen Stammes, wie er sagte. Denkst du noch daran, welche weit auseinanderliegenden Landschaften wir einstens in drei Ferialtagen mit ihm durchstürmen sollten? Am ersten Tag das Thayatal in seiner schönsten Strecke. Am zweiten Tage Brünn und die mährische Schweiz. Aber als letztes hatte er etwas ganz besonderes in Vorbereitung: wenn man schon einmal so weit im Norden war, warum sollte man nicht auch einen Schritt nach Preußen tun? Wirklich nur einen Schritt und für wenige Augenblicke nur, aber man war dann doch endlich im »Reich« gewesen, und zwar gleich in Preußen selbst, dem Preußen Bismarcks und des alten Kaisers. Im Kursbuch, das er eifrig durchstudierte, hatte er gefunden, daß wir, wenn wir abends in Blansko, dem Endpunkte der mährischen Wanderung, den Zug bestiegen, um sechs Uhr früh des nächsten Tages in Mitterbrunn in Preußisch-Schlesien sein könnten. Lange durften wir dort freilich nicht rasten, denn schon nach anderthalb Stunden hieß es wieder umkehren, um hierauf den ganzen langen Tag mit der Heimfahrt zu verbringen. Aber wir hätten dann doch etwas Außerordentliches erlebt, wären in der Ferne und im Ausland gewesen und könnten uns dafür ein wenig anstaunen lassen, wir rechneten das Fahrgeld nach: unsere Barvorräte langten gerade. Auch merkten wir uns aus dem Konversationslexikon in unseren Notizbüchern an: Mitterbrunn, Stadt im preußischen Regierungsbezirk Breslau, Knotenpunkt mehrerer Eisenbahnlinien, hat ein Amtsgericht, ein preußisches und ein österreichisches Hauptzollamt, eine Eisengießerei, Branntweinbrennerei, Dampfsägemühlen und bedeutende Leinenfabrikation. 8000 Einwohner.

Gott sei Dank, schon die ersten Stunden machten einen dicken Strich durch die Rechnung! Weiß der liebe Himmel, wer unseren Felix in den Kopf gesetzt hatte, drunten neben dem tiefeingerissenen Flußbette laufe ein guter Fußsteig und auf dem müsse unsere Wanderung beginnen. Nun, eine halbe Stunde ging es wunderschön und eine weitere noch leidlich, aber dann konnten wir unter halbverwachsenen Pfaden den richtigen nur mehr schwer herausfinden und endlich begann ein Klettern über immer größer werdende Blöcke, hinauf, hinunter, nicht ganz ohne die Gefahr, dabei ins Wasser zu fallen, und das alles in glühendster Nachmittagshitze, die uns das viele Gepäck, das wir mitschleppten, als einigermaßen überflüssig erscheinen ließ. Etliche Male versuchten wir, die Böschung hinaufzuklimmen, um droben eine Straße auszuspüren. Aber da gab es nur noch mehr Gestein und undurchdringliches Gestrüpp, daß wir uns doch lieber an die Fährte des Wassers hielten in der flehentlichen Hoffnung, eine Brücke oder Überfuhr zu erreichen. Denn, welches Mißgeschick: Drüben, auf der anderen Seite des Flusses, schimmerte jetzt manchmal etwas auf, was einem Sträßlein oder bequemen Fußweg zum Täuschen ähnlich sah.

Wir sind damals nicht umgekommen, aber wir sind auch nicht nach Preußen gekommen. Als wir uns schon auf eine Nächtigung im Freien gefaßt machten, sahen wir den Rauch einer Ortschaft aufsteigen, die uns eine, wie uns dünkte, paradiesische Herberge bot, und wir waren dann zwei Tage danach nur mehr wenige Minuten von der Mazocha entfernt, dem bekannten sehenswerten Erdtrichter in der Nähe Brünns, als wir im Eilschritt umkehren mußten, um den nach Wien gehenden Zug nicht zu versäumen.

Das war unser Felix. Ein Jahr danach ging er wirklich ins Ausland. Er schrieb schwärmerische Briefe, je seltener, desto inniger; endlich, als er uns die Treue bis in den Tod geschworen hatte, blieben sie ganz aus. Wir hörten noch ein ums andere Mal von ihm, aber den Weg zu uns hat er nimmer zurückgefunden.

So blieben noch wir fünf beieinander. Aber jedes Jahr ist einer abgefallen. Theodor sah sich plötzlich auf dem Weg zum Privatdozenten und fand, daß wir keine passende Gesellschaft für ihn wären. Noch waren Franz und Hugo da, die uns seit je näher gestanden, als jene anderen. Beruf und Neigung aber zogen auch sie von uns weg, und wenn ich es auch nicht glauben kann, daß es für immer vorbei sei, so fühle ich doch, wie viel uns heute schon von ihnen trennt. Kürzlich habe ich in den Briefen geblättert, die ich von ihnen besitze. Da fand ich eine Betrachtung Hugos, die mich seltsam ergriff. Es ist meine Gewohnheit, so ungefähr schrieb er, Briefschaften, die mir irgendwie von Wert sind, in der Reihenfolge aufzubewahren, in der ich sie empfing. Manchmal sehe ich sie durch und da finde ich viele, in denen mir unzählige herzliche und herzlichste Grüße geschickt werden. Wenn ich aber dann weiter blättere, dann sehe ich nur zu oft, wie aus den herzlichen Grüßen freundliche und beste, ja gar nur einfache Grüße werden und daß in der Folge mancher vertraute Name ganz verschwindet. Und so muß es ja wohl auch sein ,…

Ja, so muß es wohl sein! Das Leben fordert einen vollen Einsatz, und wenn die Kräfte dann wieder frei werden, so sind die Herzen verknöchert und klug-bedächtig geworden und auch ein wenig selbstsüchtig.

Wir beiden, die Brüder, sind allein zurückgeblieben. Und auch wir gingen verschiedene Wege, und obgleich wir unter demselben Dache schliefen, haben wir uns doch manche Woche lang nicht gesehen. Aber an Sonntagen sind wir doch wieder, wie früher, hinausgewandert, und es war uns selten ein Wetter zu schlecht. Und war es nicht der goldenen Sonne und des grünen Waldes wegen, so war es doch mannigfacher Aussprache wegen, denn nach sechs Werktagen gab es immer wieder genug zu reden: vom Haus und den Angehörigen, und wie dies und jenes zu ordnen sei; von den alten Freunden und was sie wohl jetzt treiben mochten und ob sie noch hie und da an die gemeinsam verlebten Jahre zurückdächten; und dann von unseren Lieblingsmeistern Richter und Schwind, die wir zusammen entdeckt hatten; und von mancher frischen Regung in der Kunst, die immer tiefer und verheißungsvoller das tägliche Leben durchdrang. Und wir besichtigten alle Kirchen und Bildwerke, und wo es einen malerischen Ausblick gab, blieben wir lange stehen und keiner drängte, und ein Rokokoschnörkel an einer Mühle, eine verwitterte Fiale an einem steinernen Marterl, die bunten und geschmiedeten Kreuze auf den Dorfkirchhöfen waren unserem Auge, unseren hungernden Seelen immer wieder ein neues Entzücken. Vielleicht oder eigentlich gewiß waren wir nicht immer derselben Meinung. Aber wir ließen dann einer den andern still gewähren. Weißt du es noch, wie wir uns damals zum erstenmal außerhalb der Mauer von Eggenburg ergingen, dem schönen, alten Städtchen, von dem wir immer wieder reden mußten! Ich lenkte meine Schritte stets von neuem zu einem farbenfreundlichen, efeuumsponnenen Häuslein zurück, das mir über die Maßen gefiel. Da sagtest du, als ich nicht fortzubringen war, mit einem nachsichtigen Lächeln das einfache Wort: »Das Häuslein hat es dir angetan!« Dieses Wort war mir Schweigsamem lieber, als wenn du die gleiche Stimmung vorgegeben oder, ich muß es sagen, selbst ehrlich geäußert hättest. Das eine hätte mich durch seine Unwahrheit betrübt, aber selbst das andere – ich hätte nicht glauben können, daß dir in diesem besonderen Falle genau so zumute gewesen wäre wie mir. Aber du verstandest mich, ohne in meine Welt einzudringen, wie ich es damals wohl aufgefaßt hätte. Das war voll eines lieben, feinen Takts und heimelte mich an.

So trieben es wir beide.

Doch nun sage mir: trugst du nicht die ganze Zeit über eine stille Sehnsucht in dir, die sich scheu verbarg, die aber bei unserer größten Wanderlust nicht ganz verstummen wollte? Wir haben nur ganz selten, nur andeutungsweise ein oder 's andere Mal davon gesprochen. Aber sagten es nicht sogar alle Vettern und Muhmen, daß du wie kein anderer zu einem braven Haus- und Familienvater geschaffen seiest und daß jeder Tag verloren sei, den du so allein und schwankend dahinlebtest? Und ich, der so ganz anders schien und der immer im Krieg mit ihnen stand, auch ich mußte mir sagen, daß dieses eine Mal ihre hausbackene Weisheit das Richtige getroffen habe. Allein du hütetest eine Erinnerung, vor der jedes andere Bild erblich, und weil du einem Ideal nachgingst, verlor die Wirklichkeit alle Farbe vor dir. Wie auch die Welt geschäftig war, dir eine Sorge abzunehmen, die doch nur die deine sein konnte, du schütteltest immer den Kopf. Aber als sie nicht nachließen und immer wieder deine Wege kreuzten und als die Erfüllung des Lebens immer stürmischer auf dich eindrang, da geschah es, daß du ihnen ein ums andre Mal geneigter dein Ohr liehest, denn du hattest durch dein Trauern und Säumen fast schon den sichern Tritt verlernt, der selber das Glück sucht und findet. Der kalte Zufall sollte nun tun, was des Himmels Gnade nicht fügen wollte. Und es trug dir doch immer nur Enttäuschungen und Überdruß ein. Wie ein törichter Knabe, den ein süßer Klang ins Gestrüpp lockt, hast du da und dort den Saum deines Glücks zu haschen gemeint und nichts als Bitterkeit in deinem Herzen davongetragen.

Es waren dumpfe Zeiten. Ihre Stimmung wird noch in späten Jahren in mir nachzittern. Es war damals, als die alten, freundlich umgrünten Häuser unserer Nachbarschaft niedergebrochen wurden und abscheuliche Zinskasernen an ihrer Stelle auftauchten. Nur unser niederes Dach stand noch unter ihnen. Nur wir konnten uns nicht entschließen, die alte Zeit zu begraben und eine neue zu beginnen. Und wie wir so tatenlos zusahen, wo doch gehandelt werden mußte, war es wie ein böser Bann, der auf uns lastete. Manche Abendstunde stand ich unter den breiten Linden unseres Hofes: wie ging es denn nur zu, daß alles um uns fremd wurde und wir schier darunter verschüttet wurden! Wir hatten beide die Zwanziger hinter uns, und das war es auch: immer lauter mahnte die Stimme des Blutes, die Pflicht, die uns von unseren Vorfahren überkommen war. Allein uns war es, als ob der alte Stamm verdorren sollte, als ob wir die Letzten, die Verfluchten wären. Und in unserem Gewissen fühlten wir ein uraltes Vermächtnis sich grollend auflehnen.

Ich habe heute unter den grünen Eichen aufgeatmet, als begönne auch für mich ein neues Leben. Und ist es nicht so! Was du getan hast, hat dir erst die wahre Freiheit gegeben und uns beiden – Erlösung!

Klara also ist es, Herzensbruder, das Klärchen! Mir ist, als hätte es gar nicht anders sein können. Ja, warst du denn blind? Während du dir deine Elfenkönigin in weiter Ferne träumtest, ist sie dir in aller Nähe aufgeblüht. Wie war es nur möglich, daß du, daß wir alle so verblendet sein konnten? Freilich, sie war ja noch ein Kind, und wir haben ihr höchstens eine Schwärmerei für einen Leutnant oder einen Studenten mit bunter Mütze zugetraut und dem wackeren, prächtigen Mädchen damit bitter unrecht getan. Nun werden ihrer manche freilich wieder eifern: Klara sei zu jung für dich! Aber sage mir: Ein Mädchen, das, kaum zur Liebe erwacht, mit so fester und sicherer Herzenslenkung den guten Kern eines alternden Jünglings trotz des schon etwas (verzeih'!) gelichteten Scheitels erkennt, ist das nicht schon ein Vollweib, das sein Glück selber zu bauen weiß und auch zu bauen berufen ist? Diese Erkenntnis hat mich mit tiefer, inniger Freude erfüllt. Und noch etwas anderes freut mich unbändig. Sie alle, die um dich so tapfer besorgt waren, hatten nur immer daran gedacht, dir ein tüchtiges Wirtschaftsweib, das groß und stark sein mußte, als Lebensgefährtin zuzuführen. Daß du aber noch etwas mehr verlangtest, das begriffen sie nicht. Wie werden sie nun die Hände zusammenschlagen, und wie werden sie zischeln und tuscheln, und wie werden sie dir Vernunft, ihre Vernunft! predigen! Denn daß die tapfere Kleine gerade die Hausfrau sein wird, die du brauchst, das ist ja wieder etwas, was sie nicht verstehen. Aber sie kommen dir nicht bei. Als sich halb im Spiel eure Augen begegneten und du unter dem schelmischen Lächeln eine so herrliche Tiefe des Blickes schautest, daß deine Seele in längst vergessenen Freuden bebte, da hatte sich der Spruch deines Lebens erfüllt. Das sagt mir jetzt nicht nur jede Zeile deines Briefes, das sagt mir jeder Schlag meines Herzens, mein ganzes Gefühl, mein volles Ahnen, mein tiefstes Verstehen, mein Alles, mein Ich, die ganze Welt, das Rauschen der Donau da drunten, das Wehen der Blätter, der Lauf der Sterne.

Und zu ihnen, aus denen die Stimme der Gottheit spricht, habe ich heut für euer Glück gefleht. Mir ist so unsäglich wohl, als hätte sich nun auch mein Los erfüllt. Ich werde allein weiter wandern. Aber der dumpfe Bann ist von mir und ich werde das Glück finden, das an meinem Wege liegt. Heil uns!

Es umarmt dich
dein Otto.

*

Ich trat wieder an das Fenster. Es war schon ganz dunkel geworden. Aber drüben in der anderen Ecke des Gartens zitterte der erste Strahl des aufgehenden Mondes und beleuchtete eine Gestalt, die wie träumend unter den Rosenbüschen saß. Süßer und süßer duftete die Nacht. Und die Nachtigallen hatten nun wirklich zu schlagen angefangen.


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