Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Augenlicht

Vor kurzem brachten englische Blätter, aus denen es unsere Zeitungen übernommen haben, abgerissene, anekdotenhafte Berichte über einen jungen schottischen Landmann, der, auf der Augenklinik in Glasgow von angeborener Blindheit geheilt, auf Schritt und Tritt von eifrigen Reportern verfolgt wurde, denen er seine Eindrücke von der neuerschauten Welt in oft naiv-köstlicher und treffender Weise zum besten gab.

Auf eine ähnliche, schon vor Jahrzehnten vollführte Operation gründet sich ein Bericht, der, eine Widmung von der Hand des Geheilten »zum Zeichen dankbarster Erinnerung«, sich in der Verlassenschaft eines seinerzeit sehr geschätzten Wiener Augenarztes vorfand. Vielleicht darf er trotz seines Alters auf den Anteil weiterer Kreise rechnen. Ich setze ihn, so wie er in den vergilbten Blättern steht, wortwörtlich hierher.

*

Ein Wunder ist an mir geschehen, das größte, das ein Mensch erleben kann, und glühenden Dankes voll knie ich vor dem Lenker der Geschicke, der so große Gnade an mir getan. Aber wie soll ich es schildern, der ich meine Eindrücke und Gefühle nicht an dem messen kann, was den Sehenden Maßstab ist, die jeden Tag durch neue Dinge überrascht werden und sich auch mein Erlebnis als Überraschung vorstellen, die nur ins Ungeheure vergrößert ist? Wäre ich einsam in einer Wildnis herangewachsen, ohne von der Kostbarkeit des Gesichtes zu hören, ich hätte den neuen Sinn, der mir langsam erstanden, anfangs gewiß gar nicht empfunden, die Außenwelt wäre lang genug stumpf an mir vorübergeglitten, und erst nach und nach hätte ich ihn unbewußt erfaßt, um mich dann seiner als etwas Selbstverständlichen zu bedienen. So aber war die Kunde vom Gehen längst in meine Nacht gedrungen. Meine gute arme Mutter hat mir einst in einer trüben Stunde, da ich weinend an ihrem Herzen lag, erzählt, wie es ihr erster Gedanke gewesen, als sie mein totes Auge erkannt, alles von mir fernzuhalten, was mich über mein Los hätte aufklären können. Ich hätte in dem Glauben groß werden sollen, daß ich um nichts gegen meine Mitmenschen verkürzt sei. Licht, Sonne, Farben und Glanz, nie hätte ich von ihnen hören sollen, um sie mir nicht hoffnungslos zu ersehnen, um nie zu erfahren, daß ich ein Geschlagener, ein Unglücklicher sei. Törichter Wunsch des heiligsten Herzens! Wärest du, die du nun längst dahin, meine ganze Welt geblieben, wohl, es wär' dir geglückt. Aber auch der Blinde muß hinaus in das Getriebe des Alltags und in die bestehende Welt der Wirklichkeit. Und da erfuhr ich bald, wie es um mich stehe.

Ich weiß, wie es im Leben geht. Es gibt Dinge, von denen wir schon lange vorher hören und die unsere Gedanken bis zum Fieber beschäftigen; treten sie uns dann leibhaftig entgegen, so ist unsere Phantasie mit Wahngebilden derart erfüllt, daß uns nun Wesen und Wahrheit bittere Enttäuschungen bringen. Und dann wieder gibt es Dinge – oder liegt es nur in unserem Temperament? – an die unsere kühnsten Flüge nicht hinanreichen und die in ihrer ruhigen Erhabenheit immer noch größer bleiben als unsere gespanntesten Erwartungen. Aber ich kann nicht sagen, daß es mir mit dem Sehen so oder so ergangen wäre. Ich drang schrittweise dazu vor, und das Betäubende eines bestürzenden Erlebnisses wurde von der Klugheit des Arztes durch sanfte Übergänge vermieden. Und dann: wie hätte sich meine Phantasie betätigen sollen, wo ihr Richtung und Anhaltspunkte fehlten und sie in den Grenzen der vier vorhandenen Sinne die Wurzeln und Keime eines fünften aufzuspüren suchte und doch nur immer wieder zu den Nervengängen jener anderen zurückkehrte! Ja, es erging mir beinahe wie jenem in der Wildnis: Ich sah bereits und wußte es noch nicht. Meine Seele hatte schon ihr neues Tor, aber sie fand noch nicht den Weg dahin.

*

In einer der ersten Nächte des neuen Zustandes habe ich die Sterne gesehen. Ich wußte von ihnen viel, oh, unendlich viel. Ich meine nicht das, was die Astronomen sagen, nicht das, was uns die Dichter von ihnen singen, ich hatte mein eigenes Bild von ihnen in der Seele – aber wem könnt' ich es sagen, wie könnt' ich es malen? Es waren für mich andere, bessere und schönere Welten, aber wie sollt' ich jenen, die Erde und Himmel in ihrem ganzen Leben geschaut, einen Begriff davon machen, ich, der ich nicht einmal diesen einen Stern gesehen hatte, auf dem mein Fuß ängstlich einherwandelte! Man hatte mir gesagt, daß die Sterne leuchten. Das faßte ich nicht. Aber ich hatte auch vernommen, was man von ihnen vermutete, ahnte und schwärmte, und das habe ich alles wohl begriffen. Ich konnte mir schon denken, daß es eine Welt gäbe, die glücklicher und vollkommener ist als die unsere. Eine Welt, in der es keine Blinden gibt, eine Welt, in der es nur Licht gibt, kein Blindsein, keine Nacht, keine Kerker und keinen Tod. So etwa hatte ich mir die Sterne gedacht. Und ich habe gemeint, wenn ich sie sehen könnte, würde ich wohl die Hände nach ihnen ausstrecken.

Nun habe ich sie gesehen. Es war spät am Abend. Die Läden waren geschlossen. Ich lag wach auf meinem Lager und haschte mit den Augen nach der kleinen, matten Flamme des Lämpchens: Oh, wenn es wieder so für immer Nacht würde! Herr, laß bald die Sonne aufgehen, laß es Tag, Licht und Farbe werden! Da kam ein Schritt an meine Tür und ich hörte die Stimme des Arztes: »Schlafen Sie?« »Nein,« antwortete ich betroffen und richtete mich auf, was er bringe, Er trat ins Zimmer und sagte: »Es ist eine warme Sommernacht. Werfen Sie rasch etwas um. Sie sollen die Sterne sehen.« Zitternd vor Erregung tat ich, wie er geheißen. Dann nahm er mich am Arm und führte mich durch einige Räume und einen langen Gang. Zuletzt schloß er eine Tür auf, schob mich auf einen Balkon hinaus und sagte mit leiser, eigentümlich gepreßter Stimme: »Da sind sie!« Seltsam, ehe sich mein Blick gefaßt hatte, empfingen Geruch und Gehör die lebhaftesten Eindrücke: stark und schwer dufteten die Rosen, Nelken und Reseden aus dem Garten herauf, die Blätter der Bäume rauschten und erschauerten im Nachthauch. Aber nun, wie sich meine Blicke emporgesucht, streckte ich meine Hände nicht aus und saß da und war tief erschrocken. Das waren die Sterne! So hatte ich sie mir nicht vorgestellt, so kalt, so schweigend, so fern und fremd, und ich dachte einen Augenblick, ich sähe bloß ihre Boten und es müßte sich mir erst Größeres und Herrlicheres aufschließen. Dabei strich es mir eisig ums Herz, wie scharf ich hier, zum erstenmal, seit ich sah, Licht und Finsternis voneinander geschieden fand: die furchtbare, unendliche Lichtlosigkeit und darüberhinversprengt in Millionen Splittern die Urelemente des Lichtes wie die Teilchen einer zertrümmerten, kalten Sonne. Auch das mußte ich denken, daß ich Gleiches oder Ähnliches schon in meiner Blindheit gesehen hatte, im heißen Kreisen und Wallen des Blutes: den dunklen Grund mit den erhellten Punkten, die sich schier wie zu geometrischen Figuren ordneten. Dann aber auf einmal sah ich in ihre Tiefe, ich sah ihr Flimmern und Neigen, ich fühlte eine Sprache von ihnen hergehen, wie sie die Dichter gehört haben mochten, deren Sternenlieder mir durch den Sinn gingen. Da ward ich umgewandelt. Und mir war es, als sähe ich ein Rauschen durch den Raum gehen – und auf einmal, niederstürzend, erdrückend, atemraubend ging mir der Begriff auf: Unendlichkeit. Ich sah Gott und fühlte die Ewigkeit. Bebend war ich auf die Knie gesunken. Meine Hände umklammerten das Gitter, Tränen rieselten über meine Wangen. Ich sah die Geschlechter der Vergangenheit und blickte weit vor in die kommenden Zeiten …

Der Doktor öffnete die Tür und geleitete mich auf mein Zimmer. »Sie sollten sich nicht so aufregen,« sagte er. Aber die Stimme des Guten zitterte selbst vor Ergriffenheit.

*

So erschloß sich mir die Welt. Jeden Tag leuchtete sie mir mehr, immer klarer lernte ich unterscheiden. Aber manchmal streckte ich doch noch, wie in früherer Zeit, die Arme aus, als wollte ich erfassen, ordnen, heranziehen. Die Fülle selbst naheliegender Einzelheiten verwirrte mich und ich hatte Mühe, mir den Blick auf ganze Bilder anzugewöhnen, das Einzelne zu Gruppen zusammenzufügen. Seltsam war es mir, als ich Formen, die ich in der Nähe geschaut, in gleicher Größe fern etwa als Gebirge wiederfand, so daß ich unwillkürlich dachte, was für ein Riese das sein müßte, der über sie mit seiner Hand streichen könne, wie ich hier über eine Stuhllehne oder über den Rücken eines Hundes oder Pferdes strich.

Und das alles geht von der Sonne aus. Sie ist der Urquell von allem Leben, allem Leuchten, jedem Schimmer und jeder Farbe. Aber sie selbst, die Blendende, läßt sich nur in den Schleiern erschauen, in die sie sich abends vor dem Untergang hüllt. Das ist aber nimmer die gleiche in ihrer strahlenden, sieghaften Nacktheit.

Doch immer schon habe ich sie gekannt. Nicht nur ihr Streicheln und Wärmen und Glühen. Ich wußte eine Macht in ihr, deren Größe und Geheimnis ich im Innersten begriff. Ich kann nicht sagen, wie das kam. Es muß mir eingeboren sein. Als ob, was wir nie vollständig begreifen werden können, als ein Selbstverständliches in den Grund unserer Seele gelegt wäre.

Beinahe am überraschendsten waren mir die Wolken. Was nützt dem armen Blinden alles Lernen von den Erscheinungen der Natur gegen die Anschauung, die ihm sagt: So ist es, hier bin ich, begreife oder leugne mich, du wirst nicht ein Stäubchen an mir ändern! Man hatte dies und das meiner Vorstellung nahegelegt, um mir ein ungefähres Bild von ihnen zu machen. Aber nun, wo ich sie sah, merkte ich, meine Phantasie hatte, wie für so vieles, auch für sie keine Form erschaffen können.

Und heute sah ich sie in ihrem gewaltigsten Wirken. Es war ein freundlich-schöner, klarer Tag, aber ich wußte, daß ein Gewitter zu erwarten sei. Niemand wollte mir's glauben, doch ich habe von früher noch die untrüglichen Zeichen dafür in meinen Nerven. Dann auf einmal standen die Wolken da – und dann ging ein Blitz durch sie, der meinen ganzen Körper durchfuhr, und ich stammelte: Herr, willst du mir eine noch größere Lichtquelle aufschließen! Genau so war es, so furchtbar schön, so unbegreiflich, als der erste Strahl deiner Welt in meine Nacht drang! – Ich saß da und wartete, daß sich das graue Himmelstor noch einmal weit und weiter auftue.

In die Sterne versenke ich mich nun jede Nacht. Sie werden mir, die Lichterfunken im dunklen Grunde der Nacht, immer mehr zum erhabenen Sinnbild meines Lebens. Auch den Mond habe ich nun gesehen, die feine Sichel, dieses traumhaft Zarteste, und dann den Vollmond in seiner seltsamen Größe, seinem Weben und Schweben. Ich grüßte ihn in andächtigem Schauern, aber mein Gruß war doch vertraut, denn ich habe ihn immer schon gefühlt, so wie ich die Sonne kannte. Oder war er es nicht, den ich manchmal nächtens wie einen Zauber empfand, daß die Welt, die ich mir zurechtgedacht hatte, lebendiger wurde, als sonst; daß ich, ein Blinder, zu schauen meinte; daß der Schlaf lange nicht kommen wollte und mir war, als müßte ich hinaus und als müßte mir jetzt und jetzt das Augenlicht entbrennen? Ja, Mond, ich grüße dich nun in Ruhe und Frieden, und ich schaue in tiefster Ergriffenheit das Wunder, das du bist.

*

Was aber soll ich nun zu all den Lieben sagen, die ich Tag um Tag erschaue? Ich kannte mich, ich kannte sie, und alles, was ihr Herz birgt, hatte ich längst aus ihrer Stimme herausgehorcht. Aber es war mir ein tieferregendes Spiel, das Bild, das ich mir von ihnen gemacht, nun mit der Wirklichkeit zu vergleichen. Ich war immer von neuem überrascht, doch schon nach wenigen Stunden war der Einklang in meinem Innern hergestellt, so daß ich mir jedesmal einredete, meine Ahnung habe im geheimen doch das Richtige getroffen. Aber wie hätte ich in meinem trüben Gefängnis nur das Geringste von diesen Verschiedenheiten wissen können! Es verblassen mir schon die Vorstellungslinien jener Zeit, und ich täusche mich heute, indem ich das Jetzt mit dem Vergangenen vermenge. O Gott, es ist so viel, daß ich es nicht fassen kann!

Ich hatte manche treue Hand in meiner gefühlt, und es war eine stumme Sprache von Herz zu Herzen gegangen. Aber welche Sprache redete nun von Aug' zu Auge! O wunderbarstes aller Wunder! Wie ist es nur möglich? Ich kannte von keinem Teile des Körpers die Anatomie so gut als vom Auge, das krank war bei mir und seinen Dienst nicht tun konnte. Aber niemand hatte mir gesagt und aus nichts konnte ich entnehmen, daß aus dieser einfachen kleinen Linse die Seele des Menschen spricht. Ich hatte das Herz gefühlt, aber nun sah ich die Seele. Nun erst war ich Mensch unter Menschen, nun erst erkannte ich, wie tot ich vordem gewesen.

*

Nie habe ich mich so arm gefühlt, als wenn fröhlich lachende Jugend um mich war, die mir umsonst vorzutäuschen suchte, daß auch ich zu ihr gehöre und Anteil habe an ihren Freuden. Dann war mein Inneres voll Bitterkeit und nachts weinte ich in meine Kissen, im Ohr ein helles, unbefangenes Mädchenlachen oder eine herzliche Stimme, die nur zagend zu mir redete, und während sie von ihrem Mitleid nichts merken lassen wollte, doch sich ganz verriet. Und nun siehe ich da wie der Hirtenknabe im Feengarten, in blöder Seligkeit, und sehe das Neigen der Köpfe, das Leuchten der Augen, das Lächeln der Lippen, das holde Spiel der Hände und der Finger. O himmlischer Zauber der Jugendschönheit! So vieles, was haltlos in mir dämmerte, wird wach, und während ich mich noch herumtaste, fühle ich schon das Steuer, das mich schimmernden Zielen zulenkt. Und dann macht es mich manche Stunden beklommen, und eine freudige Unruhe erfüllt mich mit Träumen, Sehnen und Bangen. Und alle überklingend erklingt eine Stimme mir im Ohr, schonend-zärtlich, frisch-zuversichtlich ,… Dann plötzlich ist es mir, als könnt' ich mir die ganze Welt erobern!

*

Ich habe schon in weite Landschaften geschaut, ich bin auf einen Berg gegangen und habe tief und breit ins Land gesehen. Fern im Hintergrund einen hohen Gipfel, auf dem ich ein Glitzern wahrnahm. Das ist der Schnee, der dort bis weit in den Sommer liegen bleibt. Und tief in den weiten Himmel habe ich geblickt und war trunken davon und glücklich und schritt dann nur um so fester auf der lieben Erde. Aber welch einen riefen Blick habe ich heute getan! Ich sah in ein Auge und in eine Seele, und da strömte mir etwas zu, was mein Herz erbeben machte. Tausend Dinge, die ich geahnt, die ich ersehnt habe, wurden in diesem Augenblick lebendig. Ich sah in tiefen, tiefen Fernen und ach! doch so beseligend nah, ein lächelnd Bild, das sagte mir: »Hast du mich nun endlich erschaut? Sieh, ich habe geharrt, seit ich dir genaht bin, daß du mich erkennen werdest. Und nun zittere ich vor Freude, daß du mich erkennst ,…«

Seltsam, nun schwiegen die Stimmen. Es schwieg die, aus der mir immer so viel verheißendes Leben geklungen. Sie sprach nur mehr stockend und beklommen. Aber es sprachen die Augen, und ich empfand, wie auch in meines das Tiefste meines Wesens stieg.

 

Hier schließen die Aufzeichnungen des Geheilten. Das Heft trägt nur noch den Bleistiftvermerk des ehemaligen Besitzers: »Das Weitere wird uns von unserem Freunde vorenthalten. Aber wahrscheinlich schlägt es nicht mehr in das Fach des Augenklinikers.«


 << zurück weiter >>