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So kam des Despoten Geburtsfest heran. Aber es war kein festlich froher Tag für Hans Hadubrand. Die Telegramme und Briefe aus Gnadenhausen-Nattenburg erweckten Heimweh. Er erinnerte sich, wie zu Hause sein und der Geschwister Geburtstage gefeiert worden waren. Mit einem Aufbau hatten sie stets begonnen. Auf dem Tische stand ein Kuchen mit brennenden Lichtchen, die sich jährlich um eines mehrten. Rund herum lagen zwischen Blumen die Geschenke. Der erste Blick, etwas angstvoll gespannt und doch eigentlich im voraus sicher, war allemal gewesen, ob der jeweilige Herzenswunsch denn auch wirklich erfüllt worden sei. Und er war es immer. Vom Unterricht wurden die herzoglichen Kinder sämtlich an jedem Geburtstag dispensiert. Wie hatte er da mit den Brüdern und Schwestern herumgetollt! In der Erinnerung wenigstens wollte es ihm so scheinen, wenn es in Wirklichkeit auch vielleicht nur ein durch die Nähe der Herzogin Mutter sanft gedämpftes Tollen gewesen sein mochte. Nachmittags erschienen oben auf der Rattenburg diejenigen Kinder der Gnadenhausener Gesellschaft, die des Umgangs mit den jungen Prinzen und Prinzessinnen wert befunden wurden. Zuerst waren sie etwas schüchtern, aber allmählich tauten sie beim Spielen auf. Dann saß man an langer Tafel auf den gelben Damaststühlen des Speisesaals, und die Lakaien, in Kniehosen und wappengezierten Röcken, servierten dampfende Schokolade und Baisertorte. Beim Einschlafen überdachte man noch einmal all die Herrlichkeiten des Tages, und der Herzogin Mutter Gutenachtkuß schien zärtlicher als sonst.

Wie anders war doch alles hier! – Mulickes biederes Gesicht am frühen Morgen das einzige Anheimelnde. Sogar einen Kuchen mit Lichtchen hatte der Gute als sein Angebinde gebracht. Und er trug dabei den Ausdruck eines Verbannten, der einem Leidensgenossen in der Fremde eine kleine Freude zu bereiten sucht. Aber den in solcher Lage natürlichsten Geburtstagswunsch, daß nämlich die Gefangenschaft bald vorbei sein möge, durfte Mulicke nicht aussprechen, denn es lag ja in der Natur dieser Verbannung, daß man ihr im Gegenteil Dauer wünschen mußte, da sie nur durch beschämenden Mißerfolg und katastrophale Ereignisse endigen konnte. – Schulfrei wie daheim war der Tag gar nicht. Zuerst kam die Fahrt durch die holprigen, beflaggten Straßen zur Kathedrale. Der endlose Festgottesdienst in fremder Sprache und fremdem Glauben. Das lange Knien vor den altersgeschwärzten Ikonen, die Hans Hadubrand nicht wie gütige Heilige anlächelten, sondern finsteren Mächten gleich aus ihren goldenen Schreinen auf ihn herabstarrten. – Ins Palais zurückgekehrt, folgten die Beglückwünschungen durch das Ministerium und die Geistlichkeit. Mit dem Hausorden von Gnadenhausen-Rattenburg und dem Landesorden Nikephoros des Großen angetan, hatte sie der Despot entgegengenommen, und eingedenk des Vorbildes, das er für solche Gelegenheiten stets in seiner Mutter sah, hatte er pflichttreu getrachtet, für jeden die richtigen verbindlichen Worte in der, ach, so schweren Sprache zu finden. – Und bei allem, was er so als Urosch der Fünfundzwanzigste tat und sagte, war ihm, als schaue ein anderer zu, der Hans Hadubrand hieß.

Dann waren die Herren des diplomatischen Korps zur Gratulation erschienen. Von seinem Hofstaat umgeben und im Beisein des Ministers Lazarewitsch hatte sie der Despot empfangen und dazu noch rasch die Orden der Länder, die die Herren vertraten, angelegt. – Der Anciennetät nach standen die Missionschefs in großer Uniform in einer Reihe. Hinter ihnen ihre Sekretäre und Attachés. All die einzelnen Gruppen Symbole von lauter Staatsoberhäuptern, die, angeblich überhaupt, heut aber ganz besonders, von freundschaftlichen Gefühlen für Urosch den Fünfundzwanzigsten erfüllt sein wollten! – Der Doyen trat aus der Reihe vor und verbeugte sich tief vor dem Herrscher. In kurzer, wohlgesetzter französischer Rede brachte er die Glückwünsche aller zum Ausdruck. Dann schritt Urosch der Fünfundzwanzigste von einer Gruppe zur anderen. Jeder Missionschef hatte noch einen kleinen Satz zur Rede des Doyens hinzuzufügen, einen Gruß, ein besonderes Wort seines Souveräns zu überbringen. Der très-cher frère von so manchem, ihm kaum bekannten hohen Herrn war Hans Hadubrand ja geworden! – Auch Mirojedsky flötete Wünsche für eine »weise, die wahren Interessen des Landes fördernde Regierung«. Trotz der süßesten Töne seiner schönen Stimme wirkte er dem Despoten gegenüber stets erzieherisch, hatte etwas Herablassendes, als spräche er mit einem Vasallen seines eigenen Herrschers.

Am wohlsten wurde dem Fürsten beim Anblick der Gruppe, an deren Spitze Herr von Linteloe stand. Die militärischen Uniformen, die diese Herren trugen, kannte er ja so genau! Sie hätten ebensogut in Gnadenhausen-Rattenburg sein können! Und plötzlich fühlte er sich für einen Augenblick gar nicht mehr als Urosch der Fünfundzwanzigste, sondern ganz Hans Hadubrand. Aber er wurde mit einem Ruck doch gleich wieder Urosch, denn er durfte ja keinerlei Vorliebe für Altvertrautes zeigen, noch merken lassen, daß, nächst Mulickes biederem Gesicht am Morgen, diese Uniformen das einzige Anheimelnde waren, das der Tag gebracht. – Und es merkte es auch wirklich keiner. Nur Axel lächelte leise und dachte: »Musterhaft, Haha, wirklich musterhaft! Sogar die Herzogin Mutter müßte mit dir zufrieden sein.«

Nachdem sie alle gegangen, war Lazarewitsch allein beim Fürsten geblieben. Er hatte offenbar noch etwas, das er sagen wollte. Da blickte ihn Urosch der Fünfundzwanzigste so erwartungsvoll an, wie einst Hans Hadubrand nach dem am heißesten begehrten Geschenk auf dem Geburtstagstisch herumgespäht hatte. Brachte ihm der Minister zum Geburtstag vielleicht doch noch Erfüllung seines Herzenswunsches? Seines immer leidenschaftlicher werdenden Herzenswunsches, einen kleinen Anfang machen zu dürfen, um dem Volke, das ihn berufen, bessere Lebensbedingungen zu schaffen? – Es war ja nur ein kleiner Schritt zu dem ihm vorschwebenden Ziele. Aber wieviel würde schon der wett machen an eigenem Entbehren! – Ja, das Bewußtsein, ein bißchen Segen verbreitet zu haben, das wäre wahrlich das schönste Geburtstagsgeschenk.

Aber Lazarewitsch setzte statt dessen seinem jugendlichen Herrscher mit kühler Bestimmtheit auseinander, daß die Omladina nunmehr bis zum Herbst vertagt werden müsse, ohne daß es zur Beratung der Holzhäuservorlage vorher käme. Er rechnete es sich dabei zum Verdienste an, durch diesen Ausweg die beginnende Gereiztheit der großen stamm- und glaubensverwandten Schutzmacht zu besänftigen. Bei Mirojedskys unverhohlener Abneigung gegen des Despoten Plan einer Konkurrenzausstellung sei dies die einzige augenblicklich mögliche Lösung gewesen.

»Und dann... im Herbst?« frug der Fürst gespannt.

»Bis dahin wird sich die Erregtheit hoffentlich allerseits gelegt haben,« antwortete Lazarewitsch gleichmütig. »Oder ich würde eben nach neuen Aufschubsgründen suchen müssen. Es liegen ja tatsächlich sehr viel eiligere Vorlagen noch vor, die wir, wegen Überbürdung der Omladina und weil die ländlichen Abgeordneten dringend nach Hause müssen, jetzt ebenfalls zurückstellen. Die müssen in der Herbstsitzung natürlich als erste erledigt werden.« »Aber es soll mir doch nicht etwa zugemutet werden, etwas, das ich versprochen habe – und an dessen Erfüllung mir so viel liegt – ganz aufzugeben?« rief Hans Hadubrand.

Der Minister blickte zwischen den halbgeschlossenen Lidern seiner seltsam tiefen Augen hinaus ins Weite und sagte gelassen: »Die Staatsnotwendigkeit hat Herrschern schon Schwereres zugemutet. Bedauerlich ist nur, daß Hoheit sich – besonders neulich in Wawedine – persönlich engagiert haben. Denn im übrigen: die Angelegenheit selbst wird ja, wie so manches, bald vergessen sein.«

»Das kann Ihr Ernst nicht sein!« brauste Hans Hadubrand auf. »Ich müßte mich ja vor dem Volke schämen. Erinnern Sie sich doch, wie gerade in Wawedine der alte Bauer mir so beglückt dankte, daß seine Söhne und Enkel es nun besser haben würden als er. Sollte ich mich da etwa nicht engagiert fühlen? Es wäre eine Schmach, die Leute nun zu enttäuschen.«

Der Minister zuckte kaum merklich die Achseln und antwortete dann in nachsichtigem Tone: »Ja, wenn Hoheit wirklich derart an diesen Holzhäusern hängen, müßte man eben im Herbst eine Verständigung mit Mirojedsky herbeiführen und seinen Zeysigoffwerken die Lieferung unauffällig übertragen. Denn eins steht fest: wir dürfen wegen solcher Lappalie keine dauernde Gereiztheit Mirojedskys riskieren. Er ist zu einflußreich bei seiner Regierung.«

»Aber durch diese fortwährenden Konzessionen begeben wir uns ja in immer tiefere Abhängigkeit,« entgegnete der Fürst. »Sie werden mir doch sicher beipflichten, daß die Zeysigoffwerke keinem der drei anderen Bewerber gewachsen sind. Wenden wir ihnen also die Bestellung zu, so erhält das Volk für die von der Omladina bewilligten Kredite nicht die bestmögliche Ware. Damit würden wir also, aus Angst, wider unser besseres Wissen handeln.«

Lazarewitsch lächelte still und halb wohlgefällig. Wie war das doch alles so jung und unverdorben!

Und Hans Hadubrand fuhr eifrig fort: »Bei einer Konkurrenzausstellung würde, aller Wahrscheinlichkeit nach, die weltbekannte von Baron Holst empfohlene Firma siegen. Und in deren Händen sähe ich persönlich die Lieferung auch am liebsten. Noch kürzlich erfuhr ich, wie sehr auch Graf Kronar die dortigen Erzeugnisse rühmen soll.«

Der Minister horchte auf, und seine Züge verfinsterten sich. Also der Jugendfreund steckt dahinter! dachte er. Und scheinbar gleichgültig warf er ein: »Ich wundere mich, daß Graf Kronar überhaupt Zeit und Gedanken hat für die Errichtung bescheidener Holzhäuser, die dereinst hiesigen Arbeitern Unterkunft gewähren sollen. Ich glaubte, sein Sinnen sei auf ganz andere Dinge gerichtet – um im Baufach zu bleiben, möcht' ich sagen: eher auf die Ausstattung eines verschwiegenen Liebesnestes.«

»Was meinen Sie damit?« frug Hans Hadubrand, und dabei fühlte er, wie sein Herz plötzlich zu hämmern begann.

»Nun, man hört so allerhand über seine immer näher werdenden, ja sogar nächtlichen Beziehungen zu einer anderen Gesandtschaft,« antwortete Lazarewitsch in die Ferne starrend und fuhr dann lässig fort: »Eine Gesandtschaft, die ihm hier räumlich naheliegt und deren Herrin ihm schon von früher her intim bekannt sein soll.« Doch aus der Ferne zurückkehrend, gewahrten seine Blicke nun, wie in des Fürsten Antlitz eine jähe Blutwelle stieg. Was ist es doch eigentlich für ein lieber Junge, dachte er: errötet, wenn man so etwas andeutet, wahrhaftig ganz wie ein junges Mädchen! – Und beschwichtigend setzte er rasch hinzu: »Vielleicht ist übrigens alles, was man da beobachtet haben will, in Wirklichkeit nur freundschaftliche, beinah verwandtschaftliche Intimität – es wird ja so manches übertrieben und falsch gedeutet.«

»Jedenfalls ist es völlig unstatthaft, uns zu Weiterträgern von Gerüchten zu machen und damit den Ruf einer Dame anzutasten, die über derlei völlig erhaben ist,« sagte Hans Hadubrand in scharfem Tone. »Ich erwarte von Mitgliedern meiner Regierung und Umgebung, daß sie solchen Ausstreuungen aufs bestimmteste entgegentreten, Die Angelegenheit ist hiermit für mich erledigt.« Er sah aus wie ein zürnender heiliger Georg, der sich anschickt, unter den Augen der bedrohten Frau, den Kampf mit dem Drachen aufzunehmen.

Der Minister verbeugte sich. Vor dem Zorn des Despoten hatte er plötzlich etwas ganz Untergeordnetes angenommen. »Ich hielt es für meine Pflicht, Hoheit zu informieren – grade wegen Hoheits früherer Kameradschaft mit dem betreffenden Herrn,« murmelte er.

Im selben Augenblick meldete der diensttuende Adjutant, daß sich verschiedene ländliche Abordnungen bereits im Gartensaale zur Gratulation versammelt hätten. »Hoheit wollten dazu, wenn ich nicht irre, die fremden Dekorationen ablegen,« erinnerte er.

Der Despot nickte. »Ja, danke – und – ich will auch eine leichtere Uniform anziehen.« Es war ihm plötzlich, als ersticke ihn der hohe Kragen. Welche Wohltat, einen Augenblick allein sein zu können! dachte er. Hochaufgerichtet schritt er dann zur Tür seiner Privatgemächer. Niemand sollte sehen, wie tief Hans Hadubrand getroffen war.

Auf den Tag, für den der Fürst nur die farblose Einförmigkeit zeremonieller Handlungen vorausgesehen hatte, war der tiefe Schatten herber Enttäuschung gefallen, in die sich bittrer Schmerz mischte. Hans Hadubrand fühlte ihn dumpf bei allem Agieren, das seine Rolle Urosch des Fünfundzwanzigsten im weiteren Verlauf der Stunden erforderte. Aber er schob ihn einstweilen tapfer beiseite, gestattete sich nicht, dem zu lauschen, was sonst überlaut geworden wäre. Erinnerte sich eines gern gebrauchten Satzes der Herzogin Mutter: »Persönliches Wohlbehagen ist bedeutungslos.« – Wie oft mochte sie sich den wohl selbst, gegenüber den Aufgaben des eigenen Lebens, vorgehalten haben, in den Jahren, da Hans Hadubrand noch ein ahnungsloses Kind gewesen! – Unwillkürlich verglich er heute, zum erstenmal wohl, was er vom Wege der Mutter wußte, mit dem, was sich ihm über die Pfade anderer offenbarte. Empfand ihr gegenüber nicht bloß das bisherige Bestreben äußerer Nachahmung, sondern eine keimende innere Übereinstimmung. War ihr dankbar für jahrelanges Beispiel, das, mehr vielleicht als gleiches Blut, in ihm eine Ähnlichkeit herangebildet hatte, die ihm heute half. Eine Ähnlichkeit freilich nur, sofern sie zwischen erfahren hartem Alter und schwärmerisch weicher Jugend überhaupt möglich.

Erst am späten Nachmittag waren alle Nummern seines Tagesprogramms durchgemimt, konnte er sich endlich etwas frei machen. Es zog ihn zur alten Zitadelle. Nur von Wulicke gefolgt, stieg er hinauf. Wie so manches Mal früher. Damals mit der uneingestandenen Hoffnung, daß freundlicher Zufall ihn die Frau dort finden lassen möge, die gleich ihm den einsamen Ort zu lieben schien. Heut mit der Angst, sie zu treffen. Nicht mehr allein, sondern mit seinem eigenen Jugendfreund. Wie einmal schon. Vor wenigen Wochen. Und er entsann sich, wie ihn bei jener Begegnung eine plötzliche Angst um sie befallen hatte. Ein so unabweisliches Bedürfnis, sie zu schützen, daß er dem Freunde sogar warnende Worte gesagt, über die er sich nachher selbst gewundert hatte.

Aber der Platz, wo die alten Geschütze aus fernen Kampfestagen standen, war leer. Nur die Gestalt einer einsamen Schildwache, oben auf der äußersten Mauer, zeichnete sich gegen den leuchtenden Himmel ab. Und Hans Hadubrand dachte: wozu sollten auch die beiden hier heraufkommen? Hatten ja wohl andere Möglichkeiten, sich zu sehen. Wie hatte Lazarewitsch doch gesagt? – Aber er verscheuchte die Erinnerung an die häßlichen Worte, all die Vorstellungen, die sie wachriefen, Wollte sich wenigstens das Bild der Frau ungetrübt in wehmütiger Schönheit erhalten. – Wie würde sich die Herzogin Mutter zu all dem wohl stellen? fuhr es ihm durch den Sinn. And die Antwort stand alsobald vor ihm: Von allem, was das Licht zu scheuen hatte, was ungesetzlich war, wandte sie sich unerbittlich ab, besonders wo es sich um Frauen handelte. Sie kannte keine Konzessionen, im Bewußtsein eigener Selbstbeherrschung und Würde. Und wahrscheinlich hatte sie Recht. Hans Hadubrand erinnerte sich, wie sie einst selbstsicher gesagt: »Je älter du wirst, um so mehr wirst du einsehen, daß ich eigentlich immer Recht habe.« Er überließ sich ja auch gewöhnlich ganz ihrer Führung. Aber in diesem einen Fall konnte er nicht urteilen, wie sie es sicher getan hätte. Allzu stark sprach anderes in ihm. Jedem Irrenden gegenüber war ja Hans Hadubrands erster Impuls überhaupt niemals Verurteilung, sondern stets der Wunsch, die Hand zu reichen und zu helfen. Und nun gar hier! – Er sah Liane in der Einsamkeit ihrer Ehe, die ihm, so wenig wie anderen, ein Geheimnis geblieben; die mit zu dem von ihr ausgehenden rührenden und anziehenden Etwas gehörte. Den Wunsch, sie zu hüten, sie mit sanfter Zärtlichkeit zu umgeben, erweckte diese Vorstellung, erweckte ihr bloßer Anblick. Etwas Flehendes lag darin. Er selbst hatte diesen Ausdruck zu wehem Warten und müder Trauer sich steigern sehen. Und es hatte einen Augenblick gegeben, grade hier oben auf der alten Zitadelle, wo es ihn beinah übermächtig getrieben hatte, zu ihr zu sprechen: »Komm mit mir weit fort, auf daß wir das Leben zusammen noch einmal beginnen. Laß mich dich lieben, weil du nie geliebt wurdest, laß mich dir jede Enttäuschung ersetzen.« – Aber er durfte ja nicht. War auf seine Weise, ganz wie sie selbst, ein Gefesselter. Und Heimliches, Verbotenes hätten seine Gedanken nie mit ihr in Zusammenhang zu bringen vermocht. Zu hoch, wie auf weißer Bergesspitze, stand sie ihm ja. Und auch er selbst stand sich zu hoch. Er dachte: wir, die stets Beneideten, von mißgünstiger Begehrlichkeit Umspähten, dürfen unsererseits nie begehren, was eines anderen ist. Etwas Strenges, Alttestamentliches lag darin. – Aber nun war ein von Hemmungen Freier, ein Gespiele ihrer Kindheit gekommen und hatte, in ihres Lebens Leere hinein, all die Worte gesprochen, die ihm selbst verwehrt geblieben. – War es gar so unverständlich, falls sie sie erhört hatte? Mußte man verdammen? – Hans Hadubrand konnte es nicht, konnte ihr nicht Richter sein. Fühlte sich im Gegenteil, so hart er auch gegen sich selbst war, ganz zu ihrem Anwalt werden, der überall für sie nach Entlastungen suchte und sie, wenn nirgends sonst, so doch im Mitleid seines eigenen Herzens fand.

Dann dachte er an den Freund. Bittrer war das. Und seltsam, daß es gerade der sein mußte, den er schon in den gemeinsamen Studententagen ob seiner größeren Ungebundenheit beneidet hatte. Und er frug sich: wird Kronar die eigene Unabhängigkeit benutzen, um die Frau nun auch völlig zu befreien? – Ihm selbst wäre das als das einzig Mögliche erschienen. Aber über Axel empfand er Zweifel. Er konnte ihn sich nicht vorstellen, Opfer bringend und freiwillig Fesseln auf sich nehmend. Als der geborene reizvoll lustige Ausflügler erschien er ihm, nicht als dauernder Gefährte langer, vielleicht schwerer Reise. Hans Hadubrand hatte ja, auch nach den gemeinsamen Bonner Tagen, so manches im Lauf der Jahre über Axel gehört. Allerwärts wurden ihm Erfolge nachgerühmt. Jede Stadt, in der er geweilt, trug wohl in seiner Erinnerung einen oder auch mehrere Frauennamen; falls er sich nämlich erinnerte. Aber wenn er wirklich so war, was sollte dann aus Liane werden? Sie war doch sicherlich keine leicht Vergessende! – Und wieder empfand Hans Hadubrand die ungeheure Angst um sie.


Es war das erstemal, daß die schöne Mrs. Clarence sich in einer Residenz befand, deren Herrscher Geburtstag feierte, und sie hatte diese seltene Gelegenheit benutzt, um möglichst viele der dabei zu erlangenden Eindrücke für die Freunde im fernen Clarenceville, Dakota, fest zu halten. Früh schon war sie mit dem sie stets begleitenden Kodak vor der Kathedrale gewesen und hatte des Herrschers Anfahrt, sein Aussteigen, die Begrüßung durch die Geistlichkeit am Portal in rasch aufeinander folgenden Bildern aufgenommen. Dann war sie zum Palais geeilt, und sämtliche zur Gratulation eintreffenden Deputationen, wie auch die Auffahrt des diplomatischen Korps, waren in der Straße von ihr photographiert worden. Die Milliardärin arbeitete angestrengt, als sei sie die Angestellte einer Filmgesellschaft. Bei alledem wurde sie zum mindesten ebensoviel angestarrt, als sie selbst anstarrte, und da sie nie in Erwägung zog, ob ein von ihr erregtes Aufsehen etwa anderer als wohlgefälliger Art sei, so war sie mit sich und dem Tage zufrieden.

Abends entkleidete sie sich dann zum Hofball, und nachdem sie abgelegt, was sich irgend entbehren ließ, behängte sie das nunmehr Unverhüllte mit den märchenhaften Perlen, die ihr der verstorbene Mr. Clarence in der Verliebtheit seiner kurzen Ehe geschenkt und die sie jetzt bei der Durchreise in London und Paris noch reichlich ergänzt hatte. So glich sie, in ihrer strahlenden Schönheit und dem schimmernden Geschmeide, einer herrlichen Statue, auf der ein Schmuckhändler seine kostbarsten Waren ausgestellt hätte. Ähnliches war in der Stadt an den zwei Flüssen nie geschaut worden. Als sie mit Mrs. Pemberton und Mrs. Anderson den Gelben Saal betrat, wo bei Hofbällen das diplomatische Korps, zusammen mit dem einheimischen Ministerium, in Erwartung des Herrschers Aufstellung zu nehmen pflegte, verstummte bei ihrem Anblick denn auch das Summen aller Gespräche. In der plötzlich entstandenen Stille aber entrang sich den Lippen Favorinas und Belanys ein gleichzeitiges bewunderndes »Ah«, wie man es während Feuerwerken aus der lautlos gaffenden Menge plötzlich zu hören pflegt, wenn eine surrend aufgestiegene Rakete sich gegen den nächtlichen Himmel in Garben blendender Sterne weit entfaltet.

Der Eindruck, den Mrs. Clarence hervorrief, wurde aber noch verstärkt durch den Vergleich mit den Damen des einheimischen Ministeriums. Breit und behäbig trugen viele der älteren, die auch nur die eigene Landessprache kannten, die langen bauschigen Röcke der Nationaltracht, dazu boleroartige Jäckchen über hohen weißen Blusen und auf dem Kopfe flache rote Käppchen, um die sich das graue Haar in Zöpfen legte. Nur Madame Lazarewitsch, als Frau des Ministers des Äußern und dadurch in Verkehr mit den fremden Damen stehend, hielt es für ihre Pflicht, der Pariser Mode zu folgen, so weit sie ihr bekannt wurde. Beim Hofball erfüllte sie diese Aufgabe, indem sie, über den Panzer westlicher Zivilisation, ein dekolletiertes Kleid angelegt hatte. Von der Mitte seines Ausschnittes aber stieg vorn ein schwarzer Samtstreifen empor, der ihre umfangreiche Büste in zwei Hemisphären teilte und dann oben, um ihren dicken kurzen Hals, ein hohes Band bildete. Es war nicht schön und machte sehr heiß. Infolgedessen glänzte denn auch Madame Lazarewitschs gedunsenes Gesicht besonders apoplektisch über dem schwarzen Halsband. Aber sie ertrug dies gern: gab ihr doch der die ausgeschnittene Taille emporhaltende Samtstreifen die beruhigende Gewähr, daß trotz ihrer Konzession an europäische Balltracht keine Gefahr bestand, daß die schützende Hülle tiefer als beabsichtigt von der mühsam eingedämmten Fülle hinabgleiten konnte. Denn entblößt wie diese transatlantische Dame hätte Madame Lazarewitsch sich doch nimmer zeigen mögen! – Und auch die dünne Ljubitza Wutowitsch, die sonst zur Nachahmung ausländischer Toiletten neigte, fühlte, daß das in diesem Falle ebenso gut Mangels halber als wegen Überfluß unratsam sein könne.

Die jungen Herren umdrängten Mrs. Clarence alsobald und ließen sich für Tänze vormerken. Auch Stramm war unter ihnen, wie alle dem Zauber verfallen, aber er begann doch, sich besorgt zu fragen, ob es nicht vielleicht Grade von Schönheit und Reichtum gibt, die dem Weib eine unziemliche Eigenbedeutung verleihen, während es doch eigentlich einer Null gleichen sollte, die erst durch den Gatten, als Ziffer, Bewertung erhält.

Die Damen des diplomatischen Korps verbargen hinter wohlerzogenem Lächeln etwaige Gereiztheit über das allzu starke Strahlen dieses neuen Sternes und trösteten sich mit dem Gedanken, daß es ja ein an ihrem Horizonte nur rasch vorbeiziehender sei.

Alle waren sie da. – Feierlich stolz die Marquesa de los Toros, die in den Festberichten der Zeitungen stets »eine Verkörperung altspanischer Hofetikette« genannt wurde. Fremdländisch, mit seinem bräunlichen Hälschen und zerbrechlich dünnen Ärmchen, die kleine Madame Oki Abunai, stets verbindlich lächelnd, aber etwas geniert in dem europäischen Ballkleid, das lose an ihr hing und die Vorstellung erweckte, als enthalte es kaum einen Körper. Voll raffiniertester weiblicher Verführungskunst, und dabei mit einem Stich ins Gassenbubenhafte, die niedliche Madame Pigeonnier. Und auch andere, die sich sonst seltener blicken ließen, hatten sich zu diesem Ball, der ja Dienst war, eingefunden. Mefrouw van Bergheem mit den großen, ruhigen Kuhaugen, den sanften, weichen Bewegungen. Mutter vieler kleiner Kinder, schien sie wie ein Bild der Fruchtbarkeit, und ihre volle weiße Brust, an der sich so viele hungrige Kindermäulchen satt gesogen, trug sie stolz vor sich her. Neben ihr Gräfin Karasin, languissant und rätselhaft, mit künstlich erweiterten dunkeln Pupillen und blau geäderten Schläfen unter dem flammend aufzüngelnden, brennend roten Haare – wie den Visionen eines Opiumtraumes entstiegen.

Nun ein Öffnen der Flügeltüren. Und wie zuerst vor der Schönheit, so jetzt ein Verstummen vor der Herrscherwürde. Von seinem Hofstaat umgeben das Erscheinen des Despoten auf der Schwelle. Einen Augenblick blieb er so stehen, kerzengerade, ordengeschmückt. Dann kam er mit raschen Schritten in den Saal. Wie einer, der einen Anlauf nimmt. Von Gruppe zu Gruppe schritt er, wie am Morgen, jetzt sich hauptsächlich an die Damen wendend.

Als aber Hans Hadubrand bei seinem Rundgang an Liane herantrat, da wußte er auch, daß wahr sein müsse, was er vielleicht noch bezweifelt. Ein so neuer, verträumt seliger Ausdruck lag auf ihren Zügen, als lausche sie einer wundervoll süßen Melodie, die keiner sonst vernahm. Eine Verklärtheit, die auf ihr Antlitz zaubern zu dürfen einen Augenblick lang sein eigener sehnlichster, aber rasch unterdrückter Wunsch gewesen. Und nun mußte er in qualvoller Hellsicht gewahren, daß einem anderen beschieden worden, was er sich versagt hatte. Sein Herz kämpfte sich zusammen in einem neuen, jähen Gefühl. Es lohte etwas in ihm auf, das er nie empfunden. Ein Erbrest aus Urzeiten. Unverhüllter Haß, wütende Eifersucht gegen den Bedenkenloseren, von dem das Weibchen erbeutet worden. Und nach der Frau ein Verlangen, so schmerzhaft, daß es auch beinah zu Haß wurde. Er mußte sich Zwang antun, um für Lianens Glückwünsche mit freundlich-gleichmütigen Worten zu danken, hätte am liebsten aufgeschrien: was hast du dir, was hast du mir angetan! – Doch dann erschrak er über das häßlich Fremde, triebhaft Ungezügelte, das sein wahres Wesen mit aufgepeitschten Wogen einen Augenblick überflutet hatte. Er schämte sich dessen, was da so plötzlich aus unbekannten Tiefen kampf- und gewaltsüchtig in ihm emporgelodert war. Und er sprach nun länger mit Liane, als er es sonst vielleicht getan, mit beinah demütigem Tonfall, wie um Abbitte zu tun für böse Gedanken. –

Sie aber ahnte nichts von dem, was in ihm vorging. War allzu sehr in anderem befangen. – Am Morgen war es ihr ja gelungen, Axel über das Gartengitter einen Gruß zuzurufen, als er sich grade in großer Uniform von seinem Häuschen zu Holst begab, um ihn zur Gratulation zu begleiten. Und wie sie einst, in frühester überschwenglicher Jugend, einen Lohengrin in Linteloe zu sehen gewähnt, so war ihr bei dieser Begegnung Axel wie Apoll, Merkur und Eros in einer Person erschienen. Diese Vision hatte verklärend über dem ganzen Tag gelegen. Die diplomatische Uniform erschien ihr schön, weil von ihm getragen, und die ganze Karriere, über die sie sonst zu spötteln liebte, hatte plötzlich Wert und Inhalt, da er sie zierte. Es war eben alles anders als bisher, weil sie selbst eine andere geworden. Die letzten Tage hatten Jahre samt ihren Erfahrungen, ihren Enttäuschungen davongeweht. Kaum eine Erinnerung daran lebte noch. In ihr war plötzlich Raum für jede ganz naive Schwärmerei, jede jugendliche Begeisterung. Sie dachte nicht nach, sie empfand nur, empfand sich selbst als etwas ganz Neues. Und nun war sie hier, im selben Raume wie er, und sie würden zusammen tanzen! Wie schön war doch das Leben! – Und Liane lächelte den Fürsten, lächelte alle an, ohne sie doch recht zu sehen, denn sie sah ja nur das Glück des Augenblicks.

Dann wollte sich der Fürst an Mrs. Pemberton wenden, aber die neben der Tante stehende irrepressible Nichte kam ihm zuvor. »Highness,« redete sie den Despoten an, I've caught you several times this morning with my kodak, but now I want to look right well at you in all your finery. Why you 're just lovely.« Hans Hadubrand errötete, denn er war auf Gnadenhausen-Rattenburger Hofbällen an so unverhohlene weibliche Bewunderung nicht gewöhnt worden. Halb verlegen versuchte er in ähnlichem Tone zu antworten. Stramm aber, der der schönen Muriel Worte vernommen, kam schweren Herzens zur endgültigen Überzeugung, daß trotz aller Pädagogik, die er sich zutraute, aus dieser wilden Blume des fernen Westens nie das Eheweib heranzubilden sein würde, wie es sich der strebsame Beamte diplomatischen Dienstes wünschen muß.

Im Thronsaal, wo die übrige Gesellschaft wartete, eröffnete nun Urosch der Fünfundzwanzigste den Ball. Schritt mit der Marquesa de los Toros durch die Touren der ersten Quadrille. Feierlich schön, mit halb gesenkten Lidern, führte sie, unendlich hochmütig, die Verbeugungen aus, glich einem Ahnenbilde, das von den mit Goldleder bespannten Wänden eines düsteralten spanischen Palastes in all seiner fernen, gemessenen Grandezza herabgestiegen. War sie auch noch so modern gekleidet, so glaubte man doch immer um ihr schmales, in länglichem Kinn verlaufendes Gesicht den hohen Spitzenkragen aus Philipps des Zweiten Zeiten zu sehen – und hinter ihr, die Schleppe tragend, den kleinen, scheu verliebten Pagen. Man fühlte die Eigenwertung. Herablassende Huld erwies sie dem Tänzer – und wär' er ein Herrscher, in dessen Reich die Sonne nie verschwände.

Nach Rang und Würden waren bei den Quadrillen die Paare geordnet. Und Liane, der der Kriegsminister Wukowitsch zuteil geworden, führte den einem altgewordenen Banditen Gleichenden sicher durch alle Windungen der Touren. Dann aber folgte ein Walzer, und nun glitt sie in Axels Arm durch den Saal. Da lag in ihm eine so sieghafte Ausgelassenheit und in ihr eine so frohe Hingabe, daß sie, trotz der vielen anderen tanzenden Paare, als die eigentliche Verkörperung des Tanzes erschienen.

Manche Augen folgten ihnen. Auch van Stratten und Wawerling, die ewigen Zuschauer des Lebens anderer, blickten ihnen nach. »Erinnern Sie sich unseres Gesprächs neulich auf der Landpartie, als diese beiden auch gerade tanzten?« frug Wawerling.

Der Doyen nickte. »Ja ... und ...?«

»Ich glaube, er hat seitdem große Fortschritte gemacht.«

»Wirklich ... Sie meinen?« sagte Stratten. »Aber sie machte doch immer einen so kühlen, abweisenden Eindruck?«

»Vielleicht gerade deshalb,« antwortete Wawerling und fuhr dann sinnend fort: »Sehen Sie, ich glaube, der Liebesweg mancher Frau legt folgende Etappen zurück: erst ein Wann, der anfänglich brutal ist und dann völlig gleichgültig wird, weil es ihm zum Axiom geworden, daß seine Frau ja doch kein Temperament besitze. Dann eine Zeit des Hindämmerns, aus dem sie eines Tages doch erwacht, gleichsam von einer Angst vor dem Examen gepackt. Sie wird plötzlich inne, daß sie ja vom Leben gar nichts weiß. In dem Moment kommt dann gewöhnlich ein anderer des Weges – der der Liebhaber wird. Und solche Art Frau fällt ihm mit mehr Naivität und Illusionen in die Arme als manches kleine Mädel, das mit sechzehn Jahren sein erstes Abenteuer hat. Sie überschüttet ihn mit all ihren aufgespeicherten Zärtlichkeitsschätzen, glaubt in ihm den lang ersehnten Zweck ihres Lebens gefunden zu haben und verklärt ihn vor sich selbst, aus einem oft uneingestandenen Rechtfertigungsbedürfnis. Er dagegen hat sich selbst immer nur als Darsteller flüchtiger Gastrollen betätigt und fühlt sich, oft sehr bald schon, unbehaglich in der ungewohnten Herospartie.«

»Was beweist, daß Frauen meist falsch wählen,« fiel der Doyen ein.

»Ach lieber Freund, wählt man denn je in solchem Falle? Das ist Schicksal, und das Schicksal ist selten eine freundliche Macht.«

»Und Sie meinen, dann folge, auf die Enttäuschung durch den Mann, die Enttäuschung durch den Liebhaber?«

»Ja,« antwortete Wawerling, »und die tut dann noch weher. Sehen Sie, die Liebhaber sind nämlich den Ehemännern viel ähnlicher, als die Frauen meinen, schon deshalb, weil der eigene Mann ja sicher mal der Liebhaber einer anderen Frau gewesen ist und der eigene Liebhaber mal der Mann einer anderen Frau werden wird.«

»Und in dem Fall, der uns beschäftigt? Was prognostizieren Sie da?« frug Stratten.

»Auch da«, sagte Wawerling mit bekümmerter Miene, »wird, fürchte ich, der alte Satz wieder wahr werden: die Geschichte so mancher Liebe ist die Geschichte eines Irrtums. Und das macht mich recht besorgt. Ich könnte mir denken, daß diese Frau an solchem Irrtum zu Grunde ginge.«

»Na, na,« sagte Stratten beschwichtigend, »mir scheint im Gegenteil, sie sieht recht glücklich aus in ihrem sogenannten Irrtum. Und warum überhaupt Irrtum? – Der Kronar kann ja gerade der Rechte sein? Er ist doch eigentlich ein charmanter Junge!«

»Charmant, ganz charmant,« bestätigte Wawerling, »und sie empfindet ihn vorläufig sicher als den Rechten – weil er im rechten Augenblick kam.« Und dann setzte er nachdenklich hinzu: »Vor zwanzig Jahren muß ihm Linteloe übrigens merkwürdig ähnlich gewesen sein.«

Doch nun näherte sich ihnen Aschir Pascha, der Mrs. Anderson am Arme führte. Die beiden hatten eine seltsame, auf Gegensätzen beruhende Freundschaft geschlossen. Neckte man den Moslem mit dieser Vorliebe für eine bekannte Frauenrechtlerin, so antwortete er: »Eine so selbständige Frau ist mir immer noch lieber als eine, die des Beistands eines fremden Herrn bedarf, um sich die Handschuhe zuzuknöpfen.« – Wobei er vielleicht an die kleine Pigeonnier dachte, die derartige Hilfeleistungen gern beanspruchte.

Auch Mirojedsky trat, melancholisch dreinblickend, zu der Gruppe, und Mrs. Anderson begrüßte ihn mit den Worten: »Sie sehen ja gar nicht geburtsfestmäßig aus – eher, als trauerten sie. Ist es, weil die Holzhäuser, von denen hier so viel gesprochen wird, endgültig begraben sein sollen?«

»Warum endgültig begraben?« frug Mirojedsky melodisch und unendlich traurig, als handle es sich um einen teuren Kranken in extremis, für den er dennoch auf Rettung hoffen wollte, »sagen wir doch lieber nur: verschoben.«

»Na, wenigstens wird man eine Weile nichts mehr davon hören,« sagte Stratten, »und das ist immerhin eine Erleichterung. Sie nehmen mir das doch nicht übel, lieber Mirojedsky?«

»Aber keineswegs,« flötete Mirojedsky. »Niemand leidet ja mehr als ich unter diesen Dingen, die so unästhetisch sind. Aber was wollen Sie? Ce sont les tristes nécessités du service. Er machte dabei eine Gebärde, als streife er Schmutz von seinen großen, blassen, merkwürdig grausam aussehenden Händen – und war im Gedränge verschwunden.

»Was meinte er damit?« frug Mrs. Anderson, und Aschir Pascha, der ihr gern politische Betriebe enthüllte, antwortete: »Mirojedsky wollte damit sagen, daß er einem System zwar scheinbar blind diene, sich über dessen Natur aber doch klar sei. Hinter all diesen sogenannten Ländererschließungen und Völkerbeglückungen und den dazugehörenden Kämpfen um Lieferungen verbirgt sich ja in Wahrheit der Wunsch nach Länder- und Völkerverspeisung. Es fängt damit an, daß einem dafür reif erachteten Volke irgendeine Sache aufgedrängt werden soll – ohne die es bis dahin ganz zufrieden lebte. Lieferungsbewerber stürzen von allen Seiten herbei. Ist die Bestellung erst erfolgt, so kommen die Zahlungsschwierigkeiten, die ihrerseits nur durch eine auswärtige Anleihe behoben werden können. Natürlich verlangen die Banken desjenigen Landes, dessen Industrie die Bestellung erhielt, diese Anleihe zu vermitteln. Um aber den Zinsendienst sicherzustellen, muß ihnen irgendeine Einnahmequelle verpfändet werden. Und so geht es immer tiefer in den Sumpf zunehmender Abhängigkeit.«

»Ja, es ist alles nicht schön,« stimmte Wawerling bei, »und ich bin oft froh, daß ich hier keine sogenannte aktive Politik zu vertreten habe.«

Sie wurden durch hin- und herströmende Menschenfluten auseinandergeschoben. Andere Gestalten füllten ihre Stelle.

Zu Lazarewitsch, der gelangweilt im Saale herumstand, gesellte sich für einen Augenblick Oki Abunai. Der kleine gelbliche Mann aus dem fernen Osten war dem Minister eigentlich der liebste unter den Diplomaten. Nie noch hatte er etwas von ihm begehrt! – Sie begrüßten sich beinah herzlich. Und der Japaner hatte auch gleich einen seiner liebenswürdigen Sätze bereit. »Wie ist dieser Frühling hier doch schön gewesen mit den Tausenden blühender Pflaumenbäume – ich glaubte daheim in Nippon zu sein!«

Weiter wogte der Ball. Vor Lazarewitschs Augen tanzte jetzt die überschlanke Ljubitza Wukowitsch mit seinem Sohne Milosch. Er artete der mütterlichen Fülle nach, hatte einen Stiernacken, der den Kragen der prallen Uniform zu sprengen drohte, ein breites, gewalttätiges Gesicht. Packte seine Tänzerin wie ein Schlächter eine magere Ziege. Aber Ljubitza, mit den starren Zügen einer tragischen Maske, dachte resigniert: sicherer war er immerhin als jene anderen, die überhaupt nicht zugriffen und denen man immer wieder aus der Hand glitt, trotz aller Bereitwilligkeit, sich halten zu lassen.

Eine Lichtung bildete sich nun. Man erblickte Urosch den Fünfundzwanzigsten, der eben mit Mrs. Clarence getanzt hatte und nun einen Augenblick neben ihr stehen blieb. »Famos tanzen Sie, Hoheit,« sagte Muriel und strahlte ihn mit leicht geröteten Wangen an. »Es war, als fegten wir über die Prärie. Schade, daß hier nicht alle Abend Hofball ist. Aber morgen reise ich ja doch weg.«

»So bald schon? Ich bedaure es,« erwiderte Hans Hadubrand höflich aber zerstreut, denn seine Blicke folgten Liane, die eben mit Axel aus dem Ballsaal in eine anstoßende Galerie trat.

»Ja,« sagte Muriel, »ich will den Schluß der Saison in London verbringen und Besuche auf englischen Gütern machen, und wahrscheinlich fahre ich auch noch nach St. Moritz und Paris. Aber ich komme im Herbst wieder her,« setzte sie in tröstendem Tone hinzu, denn sie war gewohnt, daß ihre Abreisen Herzschmerz verursachten. »Und nicht wahr, Hoheit, eine ganz große Photo von Ihnen kriege ich noch morgen vor meiner Abfahrt? Ich werde Ihnen dafür auch meine schicken. Alle europäischen Männer wollen mich immer so gern haben – ich meine mein Bild.«

Auch der Minister Lazarewitsch sah, wie die beiden zusammen sprachen. In müßiger Betrachtung der Perlenreihen Muriels sann er vor sich hin: Was mochten die wohl wert sein? Sicherlich ein Riesenvermögen, wie keines in seinem Lande überhaupt existierte. Und was stand nicht sonst noch hinter dieser Frau! Eisenbahnen, Bergwerke, eine ganze Stadt! Geld! viel, viel Geld! Es war ihm, als sähe er Rollen und Rollen von neu geprägten Goldstücken. Genug, um den Staat, dessen Verschuldung eine seiner vielen Sorgen bildete, ganz zu sanieren, die drückenden Subsidien der stamm- und glaubensverwandten Schutzmacht abzuschütteln, sich von dunkeln Abhängigkeiten zu befreien und geheimste Ziele zu verfolgen. – Plötzlich kam es ihm wie eine Eingebung: dies viele Geld war ja sozusagen herrenlos, war mitsamt der Frau zu haben! – Und sofort stellte sich die Forderung ein: dann mußte man dies Geld eben erlangen! – Das war ja ein glänzender Einfall, den er da gehabt! – Er begann zu überlegen: Es war ja gelegentlich von dieser oder jener Prinzessin für den Despoten geflüstert worden. Schon bei seiner feierlichen Einholung in Gnadenhausen-Rattenburg hatte die Herzogin Mutter Lazarewitsch angedeutet, daß man, nach Stabilisierung aller Verhältnisse, an die wichtige Frage einer vorteilhaften matrimonialen Verbindung herantreten müsse. Aber Lazarewitsch kannte aus den Institutionen seines Landes den Begriff der Ebenbürtigkeit überhaupt nicht, und er sagte sich, daß in Amerika vermutlich diese Allerreichsten das Äquivalent für Prinzessinnen seien. Und ein recht annehmbares, setzte er innerlich hinzu, denn diese transatlantische Milliardärin war ja schön wie eine Märchenkönigin ! Lazarewitsch dachte über Frauen eher orientalisch – vielleicht war das ein Rudiment aus den fernen Türkentagen; auch war er fürs Greifbare. Und welche Verbindung konnte greifbarere Vorteile bieten als eine mit der stärksten Macht auf Erden, dem Geld? – Auf alle Fälle lohnte es sich, diesem Gedanken nachzugehen. Er schaute sich noch einmal um nach dem Paare. Aber der Fürst hatte sich inzwischen von der schönen Amerikanerin getrennt und tanzte jetzt mit einer seiner eigenen Landestöchter. Denn die Herzogin Mutter hatte Hans Hadubrand geschrieben: »Auch die Füße eines Herrschers müssen zu seiner Popularität beitragen.«

In der nun folgenden Pause schritt der Fürst zwischen den Gästen herum. Er bewegte sich dabei in der Richtung zur Galerie, in die er Liane und Axel hatte treten sehen. Aber Liane mußte inzwischen wohl von einem neuen Tänzer geholt worden sein, denn Axel stand allein auf der Schwelle. Der Fürst trat zu ihm.

»Ich sah dir von hier aus zu,« begrüßte ihn Axel, »und ich dachte dabei, wenn dies Gnadenhausen-Rattenburg wäre, würde morgen im Hofbericht sicher zu lesen sein: Zwischen den Tänzen zeichnete Prinz Hans Hadubrand verschiedene Anwesende durch leutselige Ansprachen aus.«

Der Fürst lachte, aber es lag Wehmut in dem Ton. »Das klingt so devot und albern,« antwortete er. »Aber heut sehn' ich mich doch nach etwas heimatlichen Klängen ... und ... allem, was hier sonst noch fehlt.«

Axel nickte. »Man verstand dich eben dort – nicht nur der Sprache nach.«

»Ja,« antwortete Hans Hadubrand, »das war's wohl. Und danach schau' ich mich schon den ganzen Tag um: jemand, der mich verstände, mich und ... meine große, große Enttäuschtheit.« – Richtig, die Holzhäuservertagung, dachte Axel. Und Hans Hadubrand fuhr fort: »Du bist hier der, den ich am längsten kenne ... Da müßte es eigentlich ein Verstehen geben ... Aber ... mir will manchmal scheinen, als sei da etwas, das sich trennend zwischen uns schiebt.« – Axel wollte widersprechen, aber der Fürst wehrte ab und ließ ihn nicht zu Worte kommen. »Vielleicht täusch' ich mich, Kronar, und es ist gar nichts Besonderes, sondern nur, daß eben letzten Endes jeder Mensch stets eine Einsamkeit bedeutet. Aber gerade weil ich das für mich selbst so oft empfinde und Rat und Hilfe in vielen Fragen so schmerzlich vermisse, wollt' ich dir heute sagen: wenn es dir je auch so gehen sollte, und du hättest große und schwere Lebensentscheidungen zu treffen und ständest ganz allein und ratlos davor – dann komm zu mir! – Ich würde dir durchhelfen, so viel ich nur irgend könnte, – das versprech' ich dir. Ja, Kronar, das wollt' ich dir sagen ... und du brauchst mir gar nichts darauf zu antworten. Und nun ... ja, nun wird wohl gleich das Souper sein ... und ich muß hin an meinen Platz.«

Dabei war der Fürst auch schon in den Ballsaal zurückgekehrt, um weiteren Pflichten nachzukommen. Er war zufrieden, daß er gesprochen, obschon es ihm schwer geworden. Wie ein unabweisliches Gebot war es ihm erschienen, und er dachte: vielleicht hab' ich ihr damit doch etwas helfen können.

Axel schaute ihm verwundert nach. Was meinte er denn? – Große und schwere Lebensentscheidungen? Das klang nach Karriereangelegenheiten – aber da hatte Axel doch keinerlei Entscheidungen zu treffen? Es ging ihm in seiner diplomatischen Laufbahn bisher ja auch recht gut. Er liebte sie sogar, denn sie bot doch mancherlei Abwechslung und Annehmlichkeiten.

– Haha wollte ihm doch nicht etwa den Übertritt in seinen eigenen Staatsdienst anbieten? Axel mußte bei dem Gedanken lachen. Und dann fuhr es ihm plötzlich durch den Sinn: es konnte sich doch nicht auf – Liane beziehen? Er krauste die Stirn. Aber ... was für Entscheidungen konnte es denn da für ihn geben – – Ach was! – – Das Ganze war halt ein vages Aussprachebedürfnis des guten Haha – er hatte ja selbst gesagt, daß er sich vereinsamt fühle; na, und zwischen Mirojedsky und Lazarewitsch mochte das Leben ja auch wirklich nicht grade leicht sein. Aber warum nahm er auch alles mit diesem heiligen Ernst? Und gar diese Holzhäuser! – Wär' er mehr dem leichtlebigen Vater nachgeraten, hätte er eigentlich besser hergepaßt. Ein bißchen Amüsement würde ihm niemand verargt haben. – Immerhin ... vielleicht wär' es doch gut ... etwas vorsichtiger zu sein – Liane war so sehr unbekümmert – und ... etwas Eitelkeit seinerseits auf die Eroberung einer so reizenden Frau war am Ende verzeihlich – aber man befand sich nun einmal nicht in Paris oder Petersburg, sondern in einem elenden Nest, wo wahrscheinlich jeder jedem aufpaßte. Danach mußte man sich eben richten. – – Doch nun war es hohe Zeit, sich nach seiner Tischdame umzusehen! –

Während der Despot sich mit dem diplomatischen Korps, den Ministern und sonstigen Notabeln in den Speisesaal begab, stürzte sich die tanzende Jugend und die ganze übrige Gesellschaft in eine Halle im Erdgeschoß, wo große Büfetts errichtet waren. Alles schob und drängte sich durcheinander, wie hungrige Tiere, die zur Krippe strömen. Etwas bestialisch Gieriges lag auf den Gesichtern. Eine Gelegenheit, wo Milosch Lazarewitsch zur Geltung kam. Mit vorgebeugtem Kopf, gestrafften Armmuskeln, abstehenden Ellbogen bahnte er der Schwester und Ljubitza Wukowitsch einen Weg durch die Menge, schaffte ihnen Platz vor den Tischen mit hochaufgetürmten Gerichten. Zerknittert, zerrissen vom zerrenden Gedränge wurde Maritzas Werk, das weiße Tarlatangebilde. Schlaff hingen die fröhlich-grünen Schleifen. Aber Jelena achtete dessen nicht, sagte bewundernd zur Freundin: »Schau nur, wie stark Milosch doch ist.« Und Ljubitza dachte resigniert: wenigstens wird er uns nie zu kurz kommen lassen! –

Zum Servieren an den Büfetts der Halle entlieh die Hofverwaltung gern Personal aus den Gesandtschaften, da ihr die nötigen Lakaien fehlten. Linteloes Diener Friedrich, der, wie einst sein Herr, bei den Kürassieren gedient hatte, war dazu besonders begehrt. – Am Morgen nach dem Ball erzählte er gähnend beim Frühstückskaffee der Jungfer: »Gegen sonst geht es hier bei Hof schon ganz manierlich zu. Früher, da steckten sich die Herrn Offiziere die kalten Poulardenflügel und Hummerscheren gleich von den Schüsseln weg in die Taschen; jetzt liegt doch wenigstens Papier zum Einwickeln da.«


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