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Auf das sonnige Frühlingswetter waren einige warme Regentage gefolgt. Der Wind schüttelte die Flieder- und Rotdornbüsche, daß ihre rosa und lila Blüten auf den nassen Boden sanken. Die Hyazinthen, Tulpen und Narzissen waren verblüht, nur ihre spitzen grünen Blätter standen noch im Rasen. Es sah stellenweise beinahe herbstlich aus, aber in Wirklichkeit vergingen die Frühlingsblumen, um dem großen Sommerflor Platz zu machen. Akazien und Kastanien warteten des nächsten Sonnenscheins, um ihre Blumentrauben zu entfalten und ihre Blütenkerzen zu entzünden; an den Linden schwollen die Knöspchen, längs der Wege standen Reihen von Lilien, die nur der ersten heißen Nächte harrten, um im Mondschein ihre weißen Kelche zu öffnen und ihren Atem auszuströmen in die Sinfonie wonniger Sommerdüfte. Und vor allem trieb und sproßte es in Lianes Lieblingen, den vielfältigen Rosen. Die keck und übermütig wuchernden Crimson Rambler, die, mit dem hellen Leuchtstern gemischt, am Hause emporrankten, die gedankenschweren Maréchal Niel, die die gelben Köpfe hängen lassen, die stolzen belle Siebrecht, die aufrecht und siegessicher eine einzige Blüte an jedem hohen Stengel tragen, die erinnerungsreichen Malmaison, die ewig schönen La France – all die lieben alten, all die prächtigen neuen Sorten waren mit Blütenknospen besät, und es dünkte Liane, als sagten sie ihr: »Warte nur noch ein paar Tage, dies wird ein Sommer, wie kein anderer je gewesen.« Denn es war ja die Zeit des Jahres, wo alles hinzustreben scheint zu vollen mächtigen Akkorden, wo die Natur stets von neuem das doch nie erreichte Wunder der Vollendung verheißt und wo der Menschen Herzen so gerne wähnen, daß dieser eine Sommer auch für sie des Lebens hohe Zeit enthalten wird.

Es lag etwas Erwartungsvolles in der Welt, aber auch in Liane selbst, und darüber wunderte sie sich und hätte auch nicht zu sagen vermocht, was sie eigentlich erwartete. Seit Jahren genügte es ihr ja, wenn nur das Leben ruhig dahin glitt, ohne außergewöhnliche Störung und Disharmonie zu bringen, und sie hatte gewähnt, daß sie von ihm niemals mehr etwas Weiteres erhoffen würde. Aber seit einiger Zeit ertappte sie sich auf dem Gedanken, daß die Abwesenheit besonderer Belästigungen eigentlich doch ein recht negatives Glück sei – und – warum sollte gerade sie so wenig vom Dasein fordern, wo doch andere so vieles fanden? – Es konnte jetzt auch bisweilen geschehen, daß das Ticken einer Uhr, dem sie achtlos gelauscht, ihr plötzlich zum Bewußtsein kam und sie mit rätselhafter Angst erfüllte. Sie schaute dann wie gebannt auf die schreitenden Zeiger und sagte sich, daß wiederum eine Stunde hinabgesunken sei in den nie sich füllenden Raum, wo die Zeiten verschwinden, und daß diese Stunde wiederum eine leere gewesen sei, die keine Spur hinterläßt. – Sie versuchte nachzusinnen, woher diese Unruhe über sie gekommen, aber sie konnte keinen bestimmten äußeren Anlaß dafür finden. Ihr Leben war ja nicht anders, als es seit Jahren gewesen. Aber, daß es schon seit Jahren so und nicht anders war, diese Erkenntnis eben hatte sich plötzlich in den Vordergrund ihrer Gedankenwelt gedrängt. War vielleicht Axels Kommen daran schuld? Weil es Erinnerungen an ferne Zeiten weckte, wo das Leben noch verheißungsvoll vor ihr gelegen? War sein Erscheinen für sie zu einem Meilenstein geworden, der, ihr plötzlich vor die Augen tretend, zu sagen schien: »eine große Strecke des Weges liegt schon hinter dir, und sie hat nichts von dem enthalten, was du einst ersehntest.«

Liane sah Axel viel in dieser Zeit. Er wohnte zwar noch anfänglich bei Baron Holst, aber seine Sachen waren eingetroffen, und es galt, sein Häuschen einzurichten. Da nahm er die Gewohnheit an, bei allen Gelegenheiten durch den Garten zu ihr zu kommen, um sich angeblich von ihr Rat zu holen. Manchmal traf er sie dort, wie am ersten Morgen, oft auch saßen sie ein Weilchen zusammen in dem großen dämmrigen Saal und sprachen über tausenderlei Dinge, von einer Frage zur anderen eilend, als wollten sie rasch einen Blick in jede Geisteskammer werfen, wie Menschen in Häusern zu tun pflegen, die sie nach langer Zeit wieder betreten.

Axel studierte und klassifizierte die Menschen gern; so hatte er bald entdeckt, daß Liane zu jenen Frauen gehörte, deren Männer, außer bei den Mahlzeiten, nie da zu sein pflegen und in deren Häusern es stets Gäste gibt, die hauptsächlich zu dem Zweck geladen zu sein scheinen, den Gastgebern über die peinlichen Stunden dieser gemeinsamen Mahlzeiten hinwegzuhelfen. Das war für Axel nun weiter nichts Neues, denn er hatte diesen Typus schon oft und gern kennen gelernt. Was ihn erstaunte, war nur, gerade Liane so wiederzufinden. Er hatte sie von früher her als streng und einfach erzogenes Landfräulein in der Erinnerung bewahrt. Jetzt fiel ihm der erlesene Geschmack, ja die Überfeinerung ihrer Kleidung auf – und Axel schmeichelte sich, dies beurteilen zu können, denn er hatte, auf ziemlich kostspielige Weise, in Paris Toilettenkenntnisse erworben. Aber nicht nur in solchen Äußerlichkeiten war mit Liane eine große Veränderung vorgegangen. Da war vor allem ein neuer, seltsam wartender Ausdruck in ihren Augen, als frügen sie, ob der nächste Akt der Komödie nun endlich etwas Sehenswertes bringen werde. Und ihre ganze Art zu sein war anders geworden. Sie konnte bisweilen nervös lebhaft zu sprechen beginnen, alles ironisch in Zweifel ziehend, um dann ganz unvermittelt in eine müde, schweigsame Niedergeschlagenheit zu versinken; manchmal auch wählte sie Gesprächsthemen, die Axel zwar mit fremden Frauen nie abgeneigt war zu erörtern, die ihn aber bei ihr erstaunten und ihn auf allerhand Vermutungen brachten, weil er nichts Derartiges von ihr erwartet hatte. Sie erschien ihm geheimnisvoll. War alles, was ihn an ihr fremd dünkte, nur dem Einfluß des Lebens im Ausland zuzuschreiben? Oder hatte sie irgendein Geschick erlebt, über das sie innerlich nicht hinwegzukommen vermochte?

Diese letztere Möglichkeit beschäftigte ihn am längsten, und nach der eigenen Natur und vielen ähnlichen Fällen urteilend, die er gesehen, erschien es ihm als das Natürliche, daß eine so vereinsamte und hübsche Frau einmal an irgendeiner kleinen verschwiegenen Glücksinsel gelandet sein mußte. – Aber der Gedanke tat ihm weh.

Jetzt, das sah er, war niemand da, der sie besonders beschäftigte, und das war ihm lieb, so lieb, daß er selbst ganz verwundert war, welche Freude er darob empfand. Ihr Leben schien ganz leer. Seit Herrn von Stramms Rückkehr vom Urlaub war Herr von Linteloe sogar nicht mehr bei allen Mahlzelten anwesend, sondern er unternahm nach einer großen Stadt des Nachbarlandes geheimnisvolle Ausflüge von ein paar Tagen, über die in der Gesellschaft leise gespöttelt wurde. Axel horchte eifrig hin, wenn bei solchen Gesprächen im Herrenkreis auch Lianes Namen erwähnt wurde. Die Sympathien schienen auf ihrer Seite zu sein. Man sprach über sie wie von jemand, der abseits steht und für den man eine gewisse notgedrungene, aber verständnislose Hochachtung empfindet, wie es auch Bücher gibt, die alle Welt für schön erklärt, ohne sie je gelesen zu haben. Axel aber lockte es, dies Buch zu lesen, zu entziffern, was die Jahre auf die Seiten geschrieben, die er einst weiß gekannt, als sie schöner Geschichten und lieblicher Bilder noch zu harren schienen.

Eines Nachmittags, als Axel Liane wieder besuchen wollte, ließ sie ihn, statt in den Saal, in ihr eigenes Wohnzimmer bitten.

Es war das erste Mal, daß er diesen Raum betrat.

Der Duft der ersten Schneeköniginrosen, die in hohen Gläsern umherstanden, flutete ihm bewillkommnend entgegen und mit ihm die Erinnerung, daß Liane auch damals weiße Rosen besonders geliebt hatte. An den Wänden fand er Miniaturen und Pastellporträts von Vorfahren wieder, die er vor Jahren im Hause von Lianes Großmutter gesehen, und mancher Nippes stand da, den er völlig vergessen hatte, der ihm jetzt aber doch wie ein lang entbehrter, wiedergefundener Freund erschien. Auf Liane wartend ging Axel in dem Zimmer umher und besah die alten Meißner Figürchen, die ihm eines nach dem andern wieder bekannt wurden. Da standen die vier Jahreszeiten, an denen so viele Jahreszeiten vorübergezogen; hier schlief noch immer die kleine Schäferin in ihrem harten Porzellanstühlchen und streckte den Fuß vor, von dem das rote Pantöffelchen herabgerutscht war; dort stand auch der Schäfer und blies noch immer auf seiner Porzellanflöte, während um ihn herum die artigen Lämmer mit den blauen Schleifen seinem Liedchen lauschten, das doch niemand je gehört. Dabei fiel Axel plötzlich eine kleine altmodische Menuettmelodie ein, und er summte sie vor sich hin und konnte sich doch nicht besinnen, wo er sie vernommen. Aber da blieb sein Blick auf einem kleinen bronzenen Elefanten haften, der eine Uhr trug, auf der ein winziges Vögelchen saß, während die Muse der Musik in Empiregewand daneben stand und den kleinen Elefanten an einer dünnen Goldschnur führte. Und nun erinnerte er sich, und ganz von selbst fanden seine Finger auch die Schnur am Kasten unter dem Elefanten; er zog daran, und alsbald begann das Vögelchen mit den Flügeln zu schlagen und den Kopf zu drehen, und aus der Spieldose erklang in dünnen zitternden Tönen dieselbe altmodische Menuettmelodie, die er eben selbst angestimmt hatte. Wie die Erinnerung an die Liebesgeschichte eines Urgroßmütterchens war die kleine Weise! So wehmütig, zart und von weither kommend! Und Axel empfand, wie seltsam es war, daß so viele Generationen gekommen und gegangen waren, und daß diese kleinen leblosen Nippessachen sie alle überdauert hatten. Als er und Liane Kinder gewesen, waren diese zerbrechlichen Dinge schon alt, und nun fand er sie genau so wieder, wie er sie einst gesehen; sie hatten sich nicht verändert – aber Liane und er selbst – was waren sie doch seitdem so ganz anders geworden!

Nachdem seine Gedanken bei ihm bekannter Vergangenheit verweilt waren, an die all diese Dinge mahnten, schaute er sich weiter in dem Zimmer um. Da war vieles, was er nicht kannte, Bilder von Leuten, deren Namen er nicht wußte, Ansichten aus Ländern, wo Liane nach ihrer Heirat gewesen war. Eine Welt, die ihn fremd anmutete, ganz wie so manches in ihr selbst. Er studierte die Physiognomie des Zimmers, denn es war ihm, als sei er hier Lianes eigenstem Wesen etwas näher als sonst. – Da fielen seine Blicke auf eine Chaiselongue mit weichen Kissen, an die ein niedriger bequemer Sessel dicht herangerückt war. Und bei diesen beiden Möbeln, über die die meisten achtlos hinweggesehen hätten, machten seine Gedanken Halt. Es dünkte ihn, diese beiden stummen Gegenstände hätten einen ganz bestimmten Ausdruck, etwas Erwartungsvolles. Er konnte nicht von ihnen fortschauen, sie mußten einen bestimmten Sinn haben, mit besonderer Absicht gerade so zusammengeschoben worden sein. Und plötzlich war es ihm, als verstände er, was sie ihm sagen wollten: einer Vision gleich glaubte Axel auf dem Sofa eine Frau liegen zu sehen, und in dem Sessel neben ihr saß ein Mann vorgebeugt und hielt ihre herabhängende Hand, und sie schwiegen beide, denn sie mußten sich alles Liebe gesagt haben, das sich Menschen zu sagen vermögen. Aber ebenso deutlich, wie er diese Vision mit den inneren Augen gewahrte, ebenso bestimmt fühlte Axel auch, daß, falls Liane die ruhende Frau sei, ihr eigener Mann nie der Mann neben ihr sein konnte. War es ein anderer gewesen, der da einst gesessen hatte und dessen einstmalige Gegenwart Axel jetzt fühlte? Doch niemand hatte gehört, daß dieser Platz in ihrem Dasein je von einem anderen eingenommen worden sei. War das Zimmer aber vielleicht dennoch eine Beichte? dachte Axel weiter; eine Beichte nicht gewesener, sondern nur geträumter Dinge? Verriet es, was, die es eingerichtet, vielleicht halb unbewußt zu erleben sich gesehnt – und doch nie erlebt hatte? – Denn es gibt ja Zimmer und ganze Leben, die für nie eintretende Möglichkeiten geschaffen zu sein scheinen. Während Axel so nachsann, war Liane leise hereingekommen, ohne daß er sie gehört hatte. Als er sich nun umdrehte, sah er sie vor sich stehen. Sie war, wie beinahe immer, in Weiß gekleidet und trug einen Hut, dessen langer Schleier sie einer leichten Wolke gleich umgab, und es war ihm, als sei sie eines der duftigen Pastellbildchen selbst, das aus seinem Rahmen an der Wand herabgestiegen und zu ihm geschritten kam. Im Garten schien Liane immer wie eine ihrer eigenen aus dem Boden aufblühenden weißen Blumen, und in dem großen Saal war es stets, als habe sich alles Licht in ihr weißes Gewand geflüchtet, so daß sie dort dem scheidenden Tag bei beginnender Dämmerung glich. Überall, wo es schön war, dünkte es Axel, sei Liane am Platze, aber hier war sie es doppelt. All die seinen blassen Farbentöne liehen ihr noch von ihrem eigenen zarten Reiz; die vielen Dinge in dem Zimmer gewannen Wert, weil sie ihr dienten; die Vorfahren, deren Bilder von den Wänden herabschauten, hatten gelebt, weil sie einst leben sollte, und in der Sinfonie von Erinnerungen, die das Zimmer füllte, war sie für Axel der eine Ton, in den sich all die Melodien auflösten.

»Du wolltest ausgehen?« frug er, auf Handschuhe und Schirm blickend, die sie hielt.

»Ja, aber das hat gar keine Eile,« antwortete sie, die ihm die Enttäuschung anmerkte, »ich habe den Wagen erst für später bestellt.«

Sie setzten sich beide, und er sagte: »Ich kam, dir zu erzählen, daß ich heute Pferde gekauft habe. Nun werden wir hoffentlich oft zusammen ausreiten, und du zeigst mir etwas von der Umgegend.«

»Gern,« antwortete sie, »wenn es dich nicht ungeduldig macht, mit mir zu reiten, denn ich bin recht furchtsam geworden.«

»Du, Liane?« frug er erstaunt. »Aber du warst als Kind, wenn wir auf unseren Ponys ritten, doch so unerschrocken, – wie konntest du je furchtsam werden?«

»Ich bin's geworden,« erwiderte sie leise, »wie man meistens mutlos wird, nicht aus der Angst, daß da so sehr viel zu verlieren wäre, sondern weil das Beste schon verloren ist – das Selbstvertrauen.«

Er schaute sie an und war betroffen von dem wehen Ausdruck ihrer Züge. Opferrauch gleich umschlang sie der weiße Schleier und erinnerte ihn zugleich an einen anderen weißen Schleier, in dem er sie einst gesehen. Wie ein klarer, erwartungsvoller nordischer Frühmorgen war sie ihm damals erschienen, heute glich sie einem schwermütig müden Tag, wo man sich sehnt, daß es Abend werde, um auszuruhen und zu vergessen, daß alles Erleben nur Leere gewesen.

»Als ich vorhin auf dich wartete, hab' ich mich etwas in deinem Zimmer umgesehen,« begann Axel von neuem das Gespräch, das zwischen ihnen beiden so merkwürdig leicht ins Stocken geriet, weil es war, als ob sich immer wieder Worte auf ihre Lippen drängten, die sie doch nicht aussprechen wollten. »Ich habe da manches wieder gefunden, das mir von früher her bekannt war.«

Lianes Blicke glitten über das Zimmer. Sie nickte und sagte: »Ja, es ist hier so eine Art Garten der Vergangenheit.«

»War die Vergangenheit immer Garten?« frug er leise.

»Es gab da auch viel Wüste,« antwortete sie vor sich hinstarrend.

»Weißt du, an wen du mich erinnerst, Liane?« frug er nun wieder und antwortete selbst: »An diese kleine Nippesfigur der schlafenden Schäferin erinnerst du mich.« Dabei berührte er leicht die Meißner Statuette, die auf einem Tisch vor ihnen stand, neben einem hohen Glase voll weißer Rosen.

»Vielleicht hast du Recht,« antwortete Liane, als spräche sie im Traume. »Es sind wirklich Jahre meines Lebens verstrichen, in denen ich das Bewußtsein des Schlafes hatte und zugleich nur den einen Wunsch empfand, daß man ja recht leise sprechen möge, um mich nicht zu stören.«

Unwillkürlich mußte Axel an Herrn von Linteloes polternde Stimme denken.

Es war ihm, als hätte Liane gern mehr gesagt, aber sie brach plötzlich ab und begann wieder in lebhafterer Stimme: »Hast du die Photographie von Eynarshyelm erkannt?« Und sie wies auf das Bild eines sich von dunklem Waldeshintergrund abhebenden Schlosses: »Und erinnerst du dich noch, wie du mir meine Lieblingspuppe fortnahmst und sie gerade dort auf der Wiese aufschnittest, weil du ein Puppenherz klopfen sehen wolltest?«

»Nein,« antwortete er lachend, »diese Missetat hatte ich ganz vergessen. Aber etwas späterer Zeiten erinnere ich mich um so besser, und wie du mich damals oft sehr geringschätzig behandeltest, weil du anfingst, eine junge Dame zu werden, die auf Primaner herabblickte.«

»Ich bin ja auch ein paar Jahre älter als du,« sagte sie leise.

»Wirklich?« frug er. »Das wußte ich gar nicht mehr, denn du siehst jetzt so sehr viel jünger aus als ich.«

Sie schaute ihn dankbar und zugleich zaghaft an. Während der letzten Wochen hatte sie manchmal, einer Angst gleich, die Empfindung gehabt, als sei viel mehr Zeit an ihr wie an ihm vorbeigeeilt.

Wieder schwiegen sie beide. Von einer weißen Rose vor ihnen löste sich ein schneeiges Blatt und fiel herab, als habe die Rose mitgeseufzt, – denn Liane ward sich bewußt, daß sie in der Stille ganz tief geseufzt hatte.

Warum nur? dachte sie; es ist ja nichts, was nicht seit Jahren schon ebenso gewesen wäre. Warum kamen ihr nur all die trüben Gedanken von fliehender Jugend und ungenütztem Leben gerade in diesen Tagen so oft in den Sinn?

Doch sie fühlte, daß sie diese Stimmung niederkämpfen mußte, und sich zwingend sagte sie nun leichthin: »Aber jetzt erzähle mir mal, wie es mit euren Holzhäusern steht, Axel! Gib mir einen Tip, auf wen ich bei diesem internationalen Rennen setzen soll.«

»Was doch die Holzhäuser hier bei allen Gelegenheiten herhalten müssen,« antwortete Axel lachend. »Und weißt du, woran deine Frage mich erinnert?«

Liane schüttelte den Kopf.

»An deine alte Miß Johnson, die zu sagen pflegte, es sei nicht wohlerzogen, in Gesellschaft von persönlichen Dingen zu sprechen, und wem nichts anderes einfiele, der könne ja von den alten Griechen und Römern reden. Die Holzhäuser hätte Miß Johnson sicher auch gestattet, denn die haben etwas eminent Unpersönliches – aber, da sind andere, die sprechen schon genügend von ihnen. Und drum denke ich, Liane: laß uns beide, trotz Miß Johnson, lieber von uns selbst reden, denn das Persönliche interessiert uns doch am meisten.«

»Ach, über mich ist nicht viel zu sagen,« wich sie aus, »aber erzähl du mir etwas von dir.«

»Daß ich mich freue, hier zu sein,« erwiderte er rasch.

»Ich fürchte im Gegenteil oft, daß du es hier bald langweilig finden wirst,« sagte sie. »Dies Städtchen hat ja im Grunde keine wirkliche eigene Bedeutung; es gewinnt sie nur gelegentlich durch irgendwelche äußere Geschehnisse. Es ist ein rechter Gegensatz zu deinen beiden letzten Posten.«

Er hatte sie nur mit Ungeduld zu Ende reden lassen und sagte nun eifrig: »Was liegt mir denn an dem Ort! Ich bin sicher, daß ich mich nie langweilen werde, wenn du mir nur erlaubst, dich oft zu sehen.«

»Mich? Ach, Axel, ich bin ja so ein müder, unfroher Mensch.«

»Ja, Liane, das merke ich ja bisweilen, und es tut mir immer so leid. Aber wie ist das alles denn nur so gekommen?«

»Ach, Axel, wozu?« wehrte sie ab. »Es ist ja doch nichts mehr dran zu ändern.«

»Kannst du es mir nicht doch wenigstens sagen?« bat er und beugte sich vor, damit sie nur ganz leise zu flüstern brauche, weil er wohl wußte, daß es manche Worte gibt, die wir sagen möchten und doch ungesprochen lassen, weil uns der Gedanke ihres Klanges im voraus erschreckt.

»Es ist ja nur,« sagte sie kaum hörbar vor sich hin. »daß man ein ganzes Leben lang an einem Irrtum tragen muß, den man begangen hat in der Unwissenheit frühester Jugend.«

Sie schwieg, und dann, einem der ihr eigenen Stimmungswechsel folgend, lachte sie plötzlich grell auf, als müßte sie einer großen Bitterkeit endlich Luft machen.

»Arme Liane,« sagte er und setzte leiser hinzu, als taste er sich vorsichtig auf unsicherem Grunde weiter: »Die Kunst des Lebens bleibt dann, zu lavieren, die Felsen zu vermeiden und eine verschwiegene Insel zu finden, wo man doch noch glücklich sein kann.«

»Glaubst du, daß es das eigentlich gibt, so recht, recht glücklich zu sein?« frug sie und starrte vor sich hin.

Ein seltsames Gefühl des Zweifels an ihr erwachte für eine Sekunde in ihm. War das Pose? Wollte sie die Antwort hören, die er auf diese Frage so gern gegeben hätte? Er schaute sie forschend von der Seite an, aber es lag etwas so Unabsichtliches, in Trauer Versunkenes in ihrem ganzen Wesen, als habe sie nur einen Gedanken laut ausgesprochen, dem sie im stillen oft nachgehangen. Vielleicht wußte sie wirklich nichts vom Leben, vielleicht war sie wirklich zu der Frage berechtigt. Und er antwortete mit seiner schmeichelnd weichen Stimme: »Du fragst mich das so etwa, wie wenn du wissen wolltest, ob ich glaube, daß es Seeschlangen gibt. Da möchte ich dir antworten: Über das Glück und über die Seeschlangen ist von so vielen Leuten überzeugend geschrieben worden, daß ich zur Ansicht neige, sie kommen wirklich gelegentlich vor, oder wenigstens, daß diejenigen, die behaupten, sie gesehen zu haben, so fest an sie glauben, daß es so gut ist, als existierten sie in Wahrheit.«

Sie lächelte: »Damit gibst du ja zu, daß sie doch nur Illusion sind.«

»Wenn ein einzelner sagte, daß er die Seeschlangen gesehen,« antwortete Axel, »so würde ich auch denken: Illusion. Aber wenn nun zwei zusammen gingen und sagten: wir beide wissen jetzt, wie es ist, so recht, recht glücklich zu sein, so müßte man ihnen doch glauben. Einer wäre dem anderen Zeuge. – Nach dem Glück, Liane, muß man zu zweien suchen.«

Wieder löste sich ein schneeiges Blatt von der Rose und sank herab. Es war, als nicke die Blume bejahend zu Axels letzten Worten, und er hätte gern noch mehr gesagt, und vielleicht hätte sie ihm gern noch länger gelauscht, aber ein Diener trat ein und meldete, daß der Wagen vorgefahren sei.

»Wie schade,« sagte Axel aufstehend. »Aber wo fährst du eigentlich hin?«

»Zuerst muß ich ein paar Besorgungen machen, und dann wollte ich hinauf zur Festung, wo ich gern bei Sonnenuntergang bin.«

»Ich war noch nie dort,« sagte Axel und frug zögernd: »Darf ich?... mich oben einfinden?«

»Ja,« sagte sie, »in einer halben Stunde bin ich dort.«


In die Wagenecke zurückgelehnt und im Schatten des geöffneten Schirmes fuhr Liane durch die im warmen Nachmittagsonnenschein noch leeren Straßen. An den Ecken auf der Schattenseite standen Limonadenverkäufer im roten Fes. Geduldig harrten sie mit ihren messingenen Geräten der Kunden, die der Abend bringen würde. Nur die Tische vor den zahllosen Kaffeehäusern waren, wie immer, dicht besetzt, und die verstaubten Oleanderbäume in den großen Kübeln schienen wehmütig zuzuhören, wie die Zigaretten rauchenden Zeitungsleser an den Kaffeetischen gewohnheitsmäßig über die Fehler der gegenwärtigen Regierung debattierten. Aber auch diese Gespräche wurden lässig geführt, als verlohne es nicht recht, über den trotz allem Wechsel stets gleichbleibenden Unwert menschlicher Institutionen viel zu reden, wo sich des Sommers Nahen jedem so fühlbar machte durch wonnig müdes Behagen.

Die Luft und die Sonne taten Liane wohl, und des Wagens Bewegung schläferte schmerzliche Gedanken ein, so daß auch sie sich allmählich träumerischem Wohlgefühl hingab. Sie ließ vor einem Laden halten, trat ein, entdeckte, daß sie ganz vergessen hatte, was sie eigentlich besorgen wollte, und kaufte nun irgend etwas, dessen sie gar nicht bedurfte. Wie die Sommerluft doch so müde und schläfrig macht, dachte sie. Dann stieg sie wieder in den Wagen und sagte dem Kutscher: »Zur Festung.«

An einer Kreuzung der Hauptstraße aber mußten sie halten, um für einen großen Hochzeitszug Platz zu machen. Geschenkträger schritten voran mit Platten, auf denen allerhand Kuchen und Körner lagen, Gäste folgten, und dann kam die Brautkutsche, deren Pferde mit schöngestickten weißen Tüchern behangen waren. Drinnen sah die Braut mit Schleier und Krone. Und dieser Anblick weckte von neuem in Liane all jene Erinnerungen, die sie jahrelang absichtlich einzuschläfern getrachtet und die gerade in diesen letzten Wochen sich doch immer wieder regten.

Sie sah ihre Jugendzeit bei der kränklichen Großmutter auf dem einsamen düsteren Schlosse, wo die langen, dunklen Winter so eintönig schlichen. Und sie selbst war doch gerade voll einer so großen Sehnsucht hinaus in lichte Weiten. Dann hatte sie mal mit der Großmutter in die Hauptstadt gemußt, um für diese einen Arzt zu konsultieren. Ganz zufällig lernten sie dort Linteloe kennen. Eine glänzende, fremdartige Erscheinung, so war er ihr damals entgegengetreten, und als erster Ausländer, den sie traf, dünkte er sie etwas ganz Besonderes, Interessantes. Daß er früher Militär gewesen und dann Diplomat geworden, erschien ihr als der untrügliche Beweis, daß er ein suchender Mensch sei, dem ganz besondere Pfade beschieden waren und die er erst mühsam finden mußte. Von Streberei und all den äußeren Zufälligkeiten, die solche Dinge beeinflussen, ahnte sie damals noch nichts. Aber heute mußte sie mit wissender Wehmut lächeln beim Gedanken, mit wie viel Nimbus ihre Phantasie ihn einst umgeben. Halb erstaunt, halb kindisch geschmeichelt fühlte sie sich ob seines raschen Antrags – des ersten, den sie je erhalten –, und ohne sich zu besinnen, hatte sie »Ja« geantwortet. Denn wie zwingende Schicksalstimme schien ihr diese Werbung, gerade weil sie so außergewöhnlich war und so siegessicher dargebracht wurde. Dieser Bräutigam aus fremdem Lande, der sich in Helm und Küraß wie eine Art Lohengrin ausnahm, verkörperte für sie Licht und Freiheit und eine romantisch lockende Ferne, wo sich die Tage nie gleichen würden. Großmutter und Vormund hatten gern zugestimmt. Es war äußerlich ja auch nicht das geringste einzuwenden gewesen.

Aber dann war die Ernüchterung gekommen. Immer wieder hatte sie wahrgenommen, daß er ganz anders war, als sie gewähnt: kein Freund, kein Helfer in all dem Unerwarteten dieses neuen Daseins – einer, der fand, daß für den Mann die Lebenseinrichtungen ganz leidlich sorgen, und der nur darauf ausging, alle Annehmlichkeiten mitzunehmen, die sich irgend boten. – Jeder Schmerz hat eine gewisse Würde, dachte Liane, aber in der Art zu genießen offenbaren die Menschen ihre tiefste Roheit, – und sie hatte erfahren, daß sie an viel Roheit gekettet war. Angewidert hatte sie sich zurückgezogen. Doch da mußte sie hören, daß sie selbst ihm eine große Enttäuschung sei. Er war verwundert und in seiner Eitelkeit gekränkt, in diesem zarten Mädchen, dessen herb nordische Schönheit ihn anfänglich gereizt, so gar nicht eine jener lustigen Vergnügungsgefährtinnen zu finden, die ihn so sehr zu schätzen wußten. Er dünkte sich bei diesem Kontrakte übervorteilt. In ihrer Beschämung war Lianes erster Gedanke gewesen: nur rasch fort, daß er seine Freiheit zu allen ihm vorschwebenden Möglichkeiten wieder erlange. Aber Herr von Linteloe war keineswegs geneigt gewesen, auf Lianes Wunsch einer Trennung einzugehen. So gern er selbst vielleicht ganz frei gewesen wäre, hing er doch vor allem an äußerlichem Ansehen und an der Karriere – dafür jedoch wäre eine geschiedene Ehe nicht förderlich gewesen. Statt dessen hatte er bald begonnen, anderwärts Ersatz und Zerstreuungen zu finden. So waren sie von Posten zu Posten gezogen, längst schon eines jener vielen Ehepaare, die nicht zusammen, sondern nebeneinander gehen. Liane hatte gewähnt, sich mit alledem längst abgefunden zu haben. Warum mochte nur gerade jetzt in diesen letzten Wochen der Gedanke immer wieder auftauchen, daß das Leben doch auch ganz anders hätte sein können?

Doch der Hochzeitszug war vorüber, weitergefahren die Braut in Schleier und Krone, deren Anblick so viel wehe Erinnerungsbilder heraufbeschworen hatte. Die Straße war frei, Lianes Wagen konnte sich wieder in Bewegung setzen.

Am Ende der Hauptstraße bog der Kutscher in einen Seitenweg. Und nun ging es hinauf zu der alten Festung, die sich auf hohem Felsen erhebt. Friedlich geöffnet standen jetzt die Tore, über denen im Gemäuer der Türme noch alte Kugeln steckten von fernen Kampfestagen. Aus den schattigen, mit Rasen bewachsenen Laufgräben stiegen die zinnengekrönten Mauern auf; dunkelrötlich zeichneten sie sich ab von dem lichten Nachmittagshimmel. Hoch oben stand unbeweglich eine Schildwache. Und diese einsame Gestalt, die dort in der Höhe winzig erschien, erweckte die Vorstellung von einem, der so klein und bedeutungslos, daß er vergessen worden sei.

Liane sah Axel schon wartend auf dem Platze stehen, wo der Wagen halten mußte. Da waren all die trüben Gedanken plötzlich verflogen, und während er ihr beim Aussteigen half, lächelten sie sich beide an, und ihre Augen sagten sich gegenseitig, wie schön es doch sei, daß sie sich heute dies zweite Mal sahen.

Dann gingen sie bis zum äußersten Vorsprung des Bergrückens, der die alte Festung trägt. Steil fiel dort der Felsen hinab, von Gestrüpp und wilden Klematis umwuchert. Tief unten sahen sie die weite Ebene liegen, hinausdämmernd in verschleierte Unendlichkeit. Aus dem nebelhaften Dunste kamen getrennt zwei Flüsse gezogen; silbrigen Punkten gleich blitzten sie auf im Violett der Ferne – ganz weit noch voneinander –, doch sie schlängelten sich durch das trennende Land, unbekanntem Gesetze gehorchend, wuchsen, kamen sich näher und näher. Und am Fuße des alten, die Festung tragenden Felsens, da überspülten sie die letzten Hemmnisse, fluteten ineinander, zu breitem Becken gedehnt, und glitten dann, ein einziger mächtiger Strom, weiter in andere blaue Fernen, wohin Schicksalstimme sie rief.

Schweigend standen die beiden nebeneinander, ganz versunken in diesen Anblick, den Liane liebte und den sie so oft allein gesehen. Ganz dicht bei ihnen, doch durch das alte Gemäuer und die vorspringenden Türmchen der Festung verborgen, lag die Stadt. Ein paar Schritte entfernt stand ein Gefängnis, unten am Fluß sah man eine Kaserne und die Reihen weißer Zelte, die die Soldaten Sommers bezogen, und am jenseitigen Ufer erhoben sich die grauen Umrisse der kleinen Grenzstadt eines anderen Landes. – So waren denn viele der die Freiheit beschränkenden äußeren Merkmale der Zivilisation in Wirklichkeit ganz nahe, aber trotzdem hatte dieser hohe, weit hinausschauende Punkt den seltsamen Reiz von Weltentlegenheit mancher ganz ferner, kaum erforschter Länder, wo Schranken nicht zu bestehen scheinen und wo die Menschen plötzlich anders werden, als man sie daheim gekannt, als dächten sie, daß es gewisse Längen- und Breitengrade gibt, wo vieles, was anderswo wichtig scheint, gleichgültig wird und jeder meint, sich zeigen zu dürfen, wie er in Wahrheit ist.

Axel empfand diesen seltsamen Eindruck und sagte: »Ich bin ja nie weiter wie Petersburg gewesen, aber ich denke mir: tief im Osten muß es ähnliche Orte geben, wo man, wie hier, dies Gefühl der Weltentrücktheit hat. Kommst du oft hierher?«

»Ja, sehr oft,« antwortete Liane. »Und vielleicht gerade deshalb, weil dieser Punkt wirklich an solche entlegene Orte mahnt, durch die ich am Abend langer Reisetage gekommen bin. Im Glanz untergehender Sonne habe ich manche solche Stadt liegen sehen, so seltsam fremd, daß, wenn ihr Bild später in meinem Gedächtnis wieder aufstieg, ich nicht mehr wußte, hatte ich das in Wirklichkeit gesehen, oder war es die Erinnerung einstmaligen Traumes.«

»Und es scheinen gar keine anderen Menschen hier heraufzukommen?« sagte Axel, sich umschauend.

»Nein,« antwortete Liane, »die ziehen wohl alle die Stadtpromenade unten vor. Der einzige, der mir hier manchmal begegnet, ist der Fürst.«

»So?« frug Axel aufhorchend. »Hans Hadubrand geht hier spazieren?«

»Er wird wohl auch die Sehnsucht empfinden, da man doch eigentlich immer einsam ist, dafür wenigstens bisweilen auch allein sein zu dürfen.«

Von der weiten Ebene her kam ein schwacher Lufthauch gezogen. Als hätte er das grelle Nachmittagslicht fortgeweht, so vertieften sich die Farben der Landschaft, und Liane fuhr träumerisch fort: »Jedesmal, wenn ich von den Menschen viel gesehen habe, ist es mir ein doppeltes Bedürfnis, der Natur möglichst nahe zu kommen. Ich möchte mich dann wie Antäos auf die Erde werfen, nicht um Kräfte zu sammeln, sondern um zu hören, was sie mir zu sagen hat, die keinen je zurückweist und die einen Jeden schließlich aufnimmt und all seine unerfüllte Sehnsucht zur Ruhe bringen wird.«

»Aber wo hört eigentlich das auf, was wir Natur nennen, und wo beginnt das Menschliche?« sagte Axel. »Es ist doch im Grunde ein und dasselbe, denn all die Menschenatome, die scheinbar vergehen, werden ja doch immer wieder von der Natur aufgenommen.«

»Da hast du Recht,« erwiderte Liane, »und auch auf seelischem Gebiet ist mir oft, als sei die ganze Welt erfüllt vom Wesen derer, die vor uns gewesen sind. Bist du jemals auf einem Landweg gegangen, nachdem eine Schafherde hindurchgetrieben worden ist? Da wirst du an den Zweigen und Stacheln der Hecken längs des Weges kleine Flöckchen Wolle hängen sehen. So lassen vielleicht auch die Menschen überall, wo sie gewesen, ein bißchen von sich zurück, und da gibt es manche Punkte der Erde, wo viele vieles von sich zurückließen und wo es ist, als flüsterten noch in der Luft tausend Stimmen und erzählten von alledem, was im Laufe der Zeiten die Menschen gerade hier geliebt und gedacht und gelitten haben.«

Axel nickte, und über sein Gesicht huschte es wie erinnerungsreiches Lächeln. »An manchen Stellen von Paris,« sagte er, »habe ich diese Empfindung sehr deutlich gehabt.«

»Mir«, sagte Liane, die hinausstarrte in die bläuliche Ferne, »ist der Markusplatz in Venedig stets als solch ein Punkt der Erde erschienen; da glaubt man an stillen Abenden Tausende von Herzen schlagen zu hören, für die doch längst die Ruhe gekommen ist. Aber auch an Orten, wo die Stimmen der Geschichte und Kunst und Romantik nicht so stark mitsprechen, in einfachen alten Landhäusern, ja sogar in großstädtischen Mietskasernen, ist es mir manchmal gewesen, als hätten, die vor uns gingen, ein bißchen von sich selbst zurückgelassen – etwas Ungreifbares und doch Fühlbares, das uns beim Betreten mancher Orte froh entgegenweht und sich in anderen bedrückend auf uns legt.«

Die dem Sonnenuntergang vorangehenden warmen Töne erfüllten den ganzen Himmel mit ihrem Lichte und legten sich wie Goldstaub über die weite Ebene. Das schlängelnde Band der Flüsse schimmerte jetzt wie eine Kette von Topasen.

»Und empfindest du auch hier oben solch eine Nähe der Vergangenheit?« frug Axel.

»Ja,« antwortete Liane, »gerade hier habe ich oft die Empfindung gehabt, als wollten mir die Felsen und die alten Mauern und drunten die Flüsse von dem erzählen, was an ihnen von früher her haften geblieben ist.«

»Und was haben dir denn deine Flußfreunde erzählt?« frug er.

»Eine kleine Geschichte von einer großen Sehnsucht,« antwortete sie lächelnd.

Da bat er: »Erzähl sie mir wieder, denn ich bin nun einmal kein Dichter und bedarf einer menschlichen Dolmetscherin, um die Sprache der Dinge zu verstehen.«

Als ob sie ungern scheide, sank die Sonne mählich zur Ebene herab. In das Gold der Luft begann sich Rot zu mischen. Liane hatte sich auf die niedere Brüstung am äußersten Felsenvorsprung gesetzt. Von ihrem weißen Schleier umflossen, beugte sie sich ein wenig vor, als lausche sie wirklich leisen Stimmen, die aus den Fluten in der Tiefe zu ihr aufstiegen. Eine Märchenerzählerin aus fernem östlichen Lande dünkte sie Axel. Lichtumgeben hub sie in der Abendstille zu sprechen an:

»Am Bosporus lebte vor vielen Jahren die schöne Sulihah. Sie wohnte in einem weißen Landhaus inmitten eines großen Gartens, der ihrem Mann, dem griesgrämigen Ali, gehörte. Unmittelbar neben diesem Garten lag ein anderer ganz gleicher Garten, in dem ebenfalls ein weißes Landhaus stand, und Sulihah wünschte oft, es wäre ihr Schicksal gewesen, statt in dem einen, in diesem anderen Landhaus zu leben, denn das gehörte dem schönen jungen Hassan. Beim Spazierenfahren an den Süßen Wassern hatte er sie zuerst erblickt, und dann wußte er es einzurichten, daß er sie in ihrem Garten sah, ob auch die Mauer zwischen ihnen noch so hoch war. Und in einer Nacht entstand eine kleine Bresche in der Mauer, gerade dort, wo dichtes Buschwerk stand und niemand sie bemerkte. Sie war nur eng, aber Hassan und Sulihah waren ja beide jung und geschmeidig. Es dauerte eine ganze Weile, daß sie so zusammenkamen, Sulihah, die Frau des alten Ali, der keiner Frau bedurfte, und Hassan, der junge, der sie um so mehr liebte. Niemand wußte davon, oder vielleicht wollte es nur niemand sehen, denn keiner mochte den alten Ali, und jeder war Hassan gut. Wenn sich die beiden genug in die schwarzen Augen geblickt, so schauten sie hinaus auf den blauen Bosporus, und wenn sie sich genug auf die roten Lippen geküßt, so pflückten sie sich purpurne Granaten. Und sie dachten, daß das nie enden würde. – Eines Tages aber ward Ali zum Pascha einer fernen Stadt ernannt. – Sulihah wußte gar nichts von dieser Stadt, sie wußte nur, daß sie Hassan verlassen müsse, und sie fühlte, wie ihr das Herz darüber brach. – Am Abend vor ihrer Abreise waren sie zum letzten Mal zusammen. Immer wieder sanken sie sich in die Arme, und er seufzte: ›Sulihah, meine Rose, ich kann dich nicht von mir ziehen lassen!‹ Und sie weinte: ›Hassan, meine Nachtigall, wie soll ich ohne dich leben!‹ In die tränenreichen schwarzen Augen schauten sie sich, und dann blickten sie, wie in frohen Tagen, hinaus auf den blauen Bosporus. Vom Schwarzen Meere blies der Wind und trieb das Wasser in leicht geträufelten Wellen vor sich her. Eine große Sehnsucht, die wie eine Zuversicht war, erfaßte da Sulihah, und sie sprach: ›Hassan, ich fühle es, ganz sicher kehre ich bald zu dir zurück!‹ – Er aber antwortete: ›Sulihah, wer kehrte je zurück, wie er gegangen? Das ist Schicksal.‹

»Am nächsten Morgen brach der Zug auf: der alte Pascha mit seinem ganzen Troß und die Reihen der Leiterwagen mit den rundgebogenen, mit Stoff bezogenen Dächern für die Frauen und für die zahllosen Dienerinnen mit Gepäck und Geräten. Eine Menschenmasse hatte sich angesammelt, dem Auszug zuzusehen. An einem der Wagen aber schob eine weiße Hand von unterhalb des Verdeckes den schützenden Vorhang eine Sekunde lang bei Seite, und eine Rose fiel zu Boden. Einer im Gedränge hob sie auf, führte sie an die Lippen und murmelte die alten Worte aus Sultan Selims Liebesgedicht: ›Die Rose ging, der Dorn ist mir geblieben.‹ – Das war eine lange, mühevolle Reise! Aber Sulihah waren Mühe und Ermüdung und alles gleichgültig. Sie staunte nur, wie es möglich sei, so lang in einer Richtung auf der Welt ziehen zu können, immer weiter und weiter weg von Hassan und dem Bosporus. Die Erde erschien ihr beinahe so groß wie ihr eigener Schmerz. Endlich kamen sie an in der fernen Stadt, und Sulihah wohnte hier oben, gerade wo wir beide jetzt stehen und wo damals inmitten der Festung das Haus des Paschas stand, den der Sultan sandte, dies Land für ihn zu regieren.

»Stundenlang saß Sulihah hier oben am vergitterten Fenster und starrte hinaus auf die weite Ebene dort tief unten. Alles schien ihr fremd und häßlich, nur der silbrige Lauf der Flüsse zog sie mehr und mehr an. Sie hatte nie früher von ihnen gehört, und eines Tages frug sie: ›Wohin gleiten die beiden, die sich hier begegnen und dann, glücklich Liebenden gleich, zu einem Strome vereint zusammen weiterziehen?‹ ›Dieser Strom fließt dorthin, woher wir kamen,‹ antwortete man ihr, ›er ergießt sich in das Schwarze Meer, dessen Gewässer der Nachmittagswind durch den Bosporus treibt, wie du es oft dort hast sehen können!‹

»Als Sulihah hörte, daß all das Wasser, das hier tief unten vorbeirauscht, zum Schwarzen Meere und zum Bosporus eilt, ergriff sie eine namenlose Sehnsucht, ein unbeschreibliches Heimweh. Sie glaubte es alles wiederzusehen: das blaue Wasser mit den rastlosen Möwen, die dunklen Zypressen, die weißen Landhäuser und verstohlenen Laubgänge. Vor allem aber glaubte sie Hassan selbst zu sehen und wieder seine Arme um sich zu fühlen. Da konnte sie es nicht länger ertragen, sie mußte zurück. Und als niemand sie beobachtete, lief sie hinunter zum Ufer und sprang in die Fluten des Flusses. ›Nehmt mich mit!‹ rief sie den Wellen zu. ›Führt mich zu ihm!‹«

Liane schwieg. Die rote Sonnenkugel versank eben am Horizont, und über dem Himmel flammte ein so brennendes Leuchten, als habe die Sonne die Welt in Brand gesetzt dort in der Ferne, wo ihr glühender Rand den Boden zu berühren schien.

»Wie hübsch du das erzählt hast,« sagte Axel. »Aber wie endet die Geschichte? Kam Sulihah je zu Hassan zurück?«

»Ja, siehst du,« antwortete Liane, »den Schluß vernehm' ich nicht recht, so sehr ich auch hinhorche, was die Flüsse mir erzählen wollen. Einmal hörte ich sie sagen: die Wellen des Bosporus spülten Sulihah ans Land und zu Füßen Hassans, gerade als er mit einer anderen Frau im Garten stand. Die entsetzte sich über den Anblick des fahlen Gesichtes mit den verglasten Augen und dem Seetang im langen Haar. Da befahl Hassan seinen Dienern: ›Schafft den Leichnam weg‹.«

»Nein,« sagte Axel, »dies Ende will mir nicht recht gefallen: ich glaube, es ist anders gewesen.«

»So? Wie meinst du denn, daß es war?«

»Ich denke mir, daß Sulihah nach ihrer Ankunft hier zuerst sehr unglücklich gewesen sein wird, daß aber allmählich Schmerz und Erinnerung verblaßten und sie hier oben wohl noch lange gelebt hat, und schließlich mag sie es sogar vergessen haben, wohin diese Ströme dort unten fließen.«

»So etwas sollte man vergessen können?« »Nun, wenn auch nicht ganz vergessen, so wird es doch alles zu einer undeutlich-wehmütigen Erinnerung geworden sein. – Weißt du, die meisten Menschen erleben mal eine kleine Havarie, aber dann wird geleimt und geflickt, und es geht auch so weiter.«

»Das schiene mir der traurigste Schluß,« sagte Liane.

Purpur war jetzt über den Himmel gegossen; dunkel standen lange, schmale Abendwolken dagegen. Dunstige Schleier stiegen auf aus der Ebene, und durch die violetten Nebel glühten noch einzelne Punkte der Flüsse wie tiefrote Rubine.


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