Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

3. Kapitel.
Ombascha Hatakos dunkle Wege

Die langen getragenen Töne des Zapfenstreiches klangen im Hofe der Boma auf, hallend wurden sie von den Wallmauern zurück und in die Nacht hinausgeworfen. Das Echo rief aus dunklen Tälern und von feuererleuchteten Höhen nach und löste eine andere Antwort da oben aus. Höhnend und herausfordernd kam sie herab – das dumpfdröhnende Tuten von Hörnern. Wie ein Chor von mordgierig im Dunkel lauernden Bestien heulten ihre mächtigen Stimmen aus den endlosen Tiefen der Bananenwälder heraus. Die Wogen dieser Töne erfüllten die Nacht, überfluteten die im Sternenlicht schimmernden wuchtigen Festungsmauern und drangen auch in die kleine Steinkammer des Boma-Lazaretts. Eine Lampe brannte darin mit rötlich trübem Licht.

Auf einem der mit Stricken bespannten Holzbetten richtete sich eine dunkelverschwommene Gestalt auf. Mit hohlem, aus tiefster Brust kommenden Gähnen krümmte und reckte der Erwachende die Arme, rieb sich die Augen und sah sich in halbem Wachsein verwundert um. Er grunzte, räusperte sich, bewegte stöhnend seine stocksteifen Beine, betastete die Füße, die wie Feuer brannten, fühlte kleine Verbände an den Zehen und hielt verwundert inne.

Auf dem benachbarten Bett lag ein Mann mit einem dicken weißen Verband am Kopfe in tiefem Schlafe; die Luft im Raume war heiß und schwer und roch nach Medizinen. Der Erwachte bog sich vor und spähte dem Verwundeten ins Gesicht, auch draußen erhob sich jemand, ein Kopf sah zur Tür herein.

»Bist Du es, Hatako? Bleib liegen, Du sollst nicht aufstehen, bis Dich der Bana Stabsarzt gesehen hat! Ich hole ihn.«

»Eh Du, Farsi, warte!« rief ihn Hatako zurück.

»Sag, was ist denn? – Warum bin ich hier drin? – Mein Kopf ist so schwer. – Gib mir Wasser, ich habe Durst! – Habe ich lange geschlafen?«

Der Sanitätssoldat lachte.

»Ja, fast vierundzwanzig Stunden, wie ein Hund, der auf Jagd gewesen ist!« sagte er, während Hatako mit tiefen Zügen trank.

Mit einem Ruck setzte er das Gefäß ab und starrte den Kameraden an.

»Vierundzwanzig Stunden? – Ja – und – die Wadschagga? Sind sie nicht gekommen?«

Doch! Aber wir haben ihnen die Köpfe schön eingeschlagen. Jetzt sitzen sie ringsum in den Bananen, heulen wie Hyänen, die ein Feuer sehen und getrauen sich nicht wieder heran. Aber es sind nicht alle, und wir befürchten, daß die meisten hinunter sind nach Pare, um die beiden anderen Züge der Kompanie zu überfallen. Du weißt, sie bauten Straßen und trieben Steuern ein von den Wapare. – Mit diesem Meli war es schon längere Zeit nicht richtig, er kam immer nicht zum Schauri (Verhandlung), schickte zu wenig Chakula (Nahrungsmittel) und unsere drei Milchkühe, die auf einmal weg waren, hat sicher dieser Viehdieb gestohlen.

Bana Hauptmann hat aus den Schüssen gestern Abend und Deinen paar Worten gleich das Richtige erraten und den Mamadi und den Sefu nach Pare geschickt, daß die Züge aufpassen und gleich hierher kommen sollen. –

Die Weißen von Moschi und Rombo sind von ihren Pflanzungen gekommen und wohnen hier in der Boma. Aber die Wadschagga-Schweine haben die Bibi Kola (Frau Köhler) auf dem Wege totgeschlagen!

Du weißt, es ist die mit dem gelben Haar, die immer ein bischen lachte und uns allen Schokolade gab, damals, als wir auf dem Rückwege von Pare an ihrer Pflanzung rasteten. Ihr Mann war voriges Jahr am Fieber gestorben.

Heute Nacht kam ihr Boy (Diener) mit dem kleinen weißen Mtoto (Kind) hier an; er war mit ihm in den Rau gesprungen und hat die halbe Nacht im Wasser gestanden, bis die Wadschagga weg waren. –

Und wie geht es Dir? – Die Hunde hatten Dich ja halb tot gehetzt! – Du hattest die zwei Tage Urlaub genommen, um wieder da hinauf zu klettern, nicht wahr? – Oh, was bist Du für ein Bombafu (Dummkopf) Hatako! Hier unten ist's schön warm, und im Dorfe gibts Zigaretten und Bananenbier und Dschaggamädchen, und Du läufst dort oben herum, wo es so einsam und naß und kalt ist! – Aber jetzt muß ich Bana Mganga (Arzt) holen, lege Dich hin!«

Der immer lustige und schwatzfreudige Farsi stellte noch einen Topf Wasser hin, lachte Hatako aus seinem runden glänzenden Gesicht, das aussah wie ein schwarzer Vollmond, an und huschte hinaus.

Vornübergebeugt blieb Hatako auf dem Bettrand sitzen. Die Müdigkeit von seinem Zweitagelauf um's Leben lag noch schwer auf ihm, aber schwerer noch die Trauer über den Tod dieser weißen Frau.

So gut wußte er noch von jenem Tage. – Mit einem Stück Schokolade in der Hand und ihrem Sonnenlächeln auf den Lippen war sie auch zu ihm getreten – und gleich einen Schritt zurück. Sie war erschrocken vor diesem finster bewegungslosen Gesicht mit den Pantheraugen. Doch mit dem schnellen inneren Erkennen einer Frau kam auch ihr Lächeln wieder. Aus diesem Gesicht sprach die Seele eines verflogenen wilden Vogels, der ewig suchend kreiste.

Sein Gesicht war unbeweglich geblieben, aber ganz tief in ihm wurde etwas warm, schimmerte hell auf – ein Schwingen – die ganz ferne schwache Ahnung einer Freude, die nicht an Fleisch oder dampfendem Blute haftete – ein dunkles Rütteln und Tasten an einer verschlossenen Tür – so wie ihm immer war, wenn er den hohen weißen Glanz des Geisterlandes sah. – Ein paar Mal noch hatte er sie wieder gesehen, sie hatte freundlich seinen Gruß erwidert, und an jenem Abend, als er mit Bana Leutnant von der Löwenjagd kam und der auf ihrer Pflanzung einkehrte, da hatte sie ihn nach seiner Heimat gefragt und warum er immer so hoch auf den Berg hinaufstiege, der Bana Leutnant hatte ihr davon erzählt. Und dann hatte er ihr Kind in den Garten getragen, und das hatte sich nur anfangs ein klein wenig vor ihm gefürchtet und seine winzigen Hände, die so weich und weiß waren, wie die Pfoten eines Kätzchens, gegen sein Gesicht gestemmt. Aber dann hatte es aufgejauchzt und gelacht und nach seinen spitzen, schneeweiß glänzenden Zähnen gegriffen, und auch die weiße Frau lachte mit. – Und jetzt war sie tot, nie mehr würde er dies Lächeln sehen, das wie ein sonniges Feld war – –.

Er sprang auf, bog den Kopf in den Nacken und zog die Lippen von den Zähnen zurück. Die Ellenbogen an die Hüften gepreßt und die Fäuste geballt, stand er im Halbdunkel des Raumes, und eine alles verbrennende Flamme von Wut und Rachedurst durchtobte sein Herz und ließ die hohe Wölbung seiner Brust in krampfigen Stößen erbeben. Ein fauchendes Knurren drang zwischen seinen knirschenden Zähnen hervor, und die Feuer seines Hasses schmiedeten es zu abgerissenen Worten.

»Meli, Du Hund von einem Dschagga! – Die Speerklingen Deiner Leute haben den Schlag eines Herzens aufgehalten, das freundlich zu mir gewesen ist – es war das Herz eines schwachen Weibes, das Deine Dschaggahyänen zerrissen haben – so will ich Dir Dein eigenes Herz herausreißen, Du Hund! Ich werde es nehmen, so wie ich damals in Manjemaland die Herzen derer nahm, die die Männer meines Volkes erschlagen hatten! Der Geist dieser guten weißen Frau soll mich durch alle Nächte meines Lebens jagen, wenn ich sie nicht räche an Dir, Dschaggahund!«

Seine Stimme hatte den Verwundeten geweckt. Er drehte sich stöhnend um, aus Wundfieberträumen rief er:

» A Mama, Mama yangu, ninakufa (Oh Mutter, meine Mutter, ich sterbe)!«

Sein irrer, heiß glänzender Blick fiel auf Hatako. »Wer bist Du?«

Der Mjema antwortete nicht, steif und stumm wie eine Holzfigur stand seine dunkle Gestalt im Düster des Raumes, nur die Glut in seinen Augen lebte.

Draußen fielen kurz nacheinander ein paar Schüsse; gedämpft wie ferne Brandung drang vielstimmiges Geheul durch die dicken Mauern. Eine aufschießende Leuchtrakete warf blendend weißes Licht durch das Fenster der Kammer, knatternd peitschten noch einige Schüsse durch die Helle, dann wurde alles wieder dunkel und still.

Lauschend saß Hatako auf dem Bett, seine Nasenflügel zitterten leise. Eifrig begann er seine Glieder zu reiben, um die letzte Schwere und Steifheit herauszubringen.

Im Gange hallten Schritte. Farsi riß die Türe auf, der Hauptmann und der Stabsarzt traten ein; Farsi folgte mit einer brennenden Laterne.

Hatako sprang auf, schlank und straff stand sein nackter, nur mit dem Lendenschurz bekleideter Körper vor den Offizieren.

»Askari Hatako von Urlaub zurück, Bana Hauptmann!« meldete er.

Der Hauptmann winkte ab.

»Jetzt gehörst Du erst noch Bana Mganga, (Herrn Doktor) und der hat das Wort.«

Der Arzt war ein älterer Mann mit einem stillen fahlgelben Gelehrtengesicht. Seine dunkelbeschatteten freundlichen Augen lagen tief in ihren Höhlen, sie hatten einen Ausdruck von Krankheit und Ermüdung. Er stellte einige Fragen im Dialekte der Manjema an Hatako, die kurz beantwortet wurden. Flüchtig prüfte er sodann Puls und Herzschlag, ließ sich die Zunge zeigen und besah die schorfbedeckte Wunde an der Hüfte. Mit zufriedenem Kopfnicken wandte er sich dem Hauptmann zu.

»Die wenige Weiterbehandlung, die der nötig hat, übernimmt am besten der Koch. Der Mann muß ein paar Mal die doppelte Fleischration und vielleicht noch einen Tag Ruhe bekommen, dann ist er wieder auf der Höhe. – Aber schauen Sie sich nur mal diesen Körper an. Ich habe selten solch ein Beispiel von Kraft, bei aller Feinheit des Gliederbaus gesehen, wie dieses.«

Der Hauptmann nickte. »Ja, der Mann war mir schon aufgefallen, als die Kerls einmal im Himo badeten. Als Askari ist er gut und was sonst an ihm ist, das wissen ja unsere Herren von der Kompanie zu schätzen. Fast ein bischen zu viel! – Wenn da einen der Uebermut kitzelt, daß er losgeht, um einen Büffel oder Simba umzubringen, nimmt er stets den Mjema mit.

Was übrigens den Inhalt seiner Kochtöpfe, wenigstens den der früheren, betrifft, so scheint er mir ja nicht ganz einwandsfrei zu sein. Und er hat etwas in der Physiognomie, daß ich nicht derjenige gewesen sein möchte, der ihm zur unrechten Zeit in den Urwäldern seiner Heimat über den Weg gelaufen wäre. –

Nun wollen wir uns doch mal erzählen lassen, was ihm eigentlich bei seiner verrückten Bergkraxelei mit dem Schwein, dem Meli, begegnet ist ...

»Was hast Du zu melden?« wandte er sich zu dem nackten Askari, der unbeweglich wie ein Bronzestandbild vor ihm stand.

Mit sparsamen, nur das Tatsächliche bezeichnenden Worten berichtete Hatako, was er in der Schlucht gehört und gesehen hatte, wie er entdeckt wurde und dann seinen Weg den Berg herunter freigekämpft hatte. Erwähnte, wie und wo er seine Ausrüstung verloren hatte und schloß mit der Bitte um eine Neue.

Daß ihm der Waffenhändler bekannt war, erwähnte er nicht.

Als er geendet hatte, sahen die Offiziere einander schweigend an.

Der Arzt nickte Hatako zu und während er eifrig seine Brille putzte, sagte er zu dem Hauptmann: »Was der Mann da geleistet hat, ist ja fabelhaft. – Daß etwas Besonderes in ihm steckt, sah ich schon damals, als wir jene Galgenvögel von Wakua erwischt hatten und er frech wie ein Bergleopard ins Lager geschlichen kam, um seine Genossen zu befreien; trotzdem er selbst halb lahm geschossen war. Ich habe Ihnen ja diese und seine eigene merkwürdige Lebensgeschichte einmal erzählt. Für einen Gemeinen ist der Mann eigentlich zu schade, und ich glaube, natürlich ohne Ihnen irgendwie vorgreifen zu wollen, diese letzte famose Leistung wäre eine Gelegenheit – –.«

»Ja, ich verstehe« lachte der Hauptmann und klopfte dem Arzt die Schulter. »Sie haben ein Faible für diesen Menschenfresser, Doktorchen! Ich hatte schon früher selbst einmal daran gedacht, aber – 's ist merkwürdig, irgendetwas in seinem Wesen hielt mich immer davon ab, ihn zu befördern. Eine Art Zweifel – Mißtrauen – na, ich kann nicht definieren, was es ist. Jedenfalls hat er's jetzt unbedingt verdient.«

Er wandte sich zu Hatako um, der in vorschriftsmäßiger Haltung, aber mit einem furchtbaren Ausdruck in dem wie in unbekannte Ferne gerichteten Blick dastand.

»Nun sehen Sie blos, Doktor, sieht der Kerl nicht aus, als ob er eben überlegte, wem er als nächsten den Hals abschneiden und ihn sich dann in den Magen tun will?«

»Vielleicht überlegt er auch so etwas«, lächelte der Arzt.

»Woran denkst Du, Hatako?« fragte er.

Er wußte, daß der Klang seiner Heimatsprache das einzige war, das Zugang zu der Seele dieses düstren Wilden verschaffte.

»Ich denke an die Bibi Kola, die Meli hat ermorden lassen!« sagte Hatako langsam.

Der Arzt übersetzte seine Worte, »Weiß Gott, jetzt möchte ich nicht Meli sein!«, setzte er hinzu, »er hing an dieser Frau und hat mir oft, unbefangen wie ein Kind, von ihr erzählt.«

Der Hauptmann zuckte die Achseln und trat zu Hatako.

»Du hast das gut gemacht, ich bin mit Dir zufrieden. Nun komm mal mit nach der Kammer und laß Dich neu ausstaffieren. Achte aber darauf, daß Du einen Rock mit einem roten Alama (Abzeichen) bekommst, Ombascha (Gefreiter) Hatako!«

»Ndio, Bana Hauptmann«, sagte er einfach, folgte den Offizieren nach der Kammer und nahm dort stumm seine neuen Sachen in Empfang.

Den ganzen folgenden Tag saß er auf seinem Bett, hatte den Kopf auf die Fäuste gestützt und rührte sich kaum.

Wenn von draußen das dumpfe Heulen der Signalhörner oder der gedämpfte Schall von einzelnen Schüssen in die stille Kammer drang, hob er den Kopf und blähte die Nüstern. Dann versank er wieder in sein finstres Brüten.

Am Abend lieh er sich von Farsi einen kleinen Wetzstein und begann mit unendlicher Sorgfalt sein Schwertmesser zu schärfen. Farsi kam mit einem Tuche voll Erdnüssen an, kauerte sich nieder und nötigte Hatako zum Zugreifen. Emsig knabbernd erzählte er, was draußen vorging, daß Panja (Maus), die dicke Frau des alten pockennarbigen Askari Sefu, ihrem Manne gestern eine Bratpfanne auf den Kopf geschlagen hätte und Sefu heute früh den Hauptmann gebeten hatte, ihn auf Patrouille zu schicken, daß die Bananen ringsum voll waren von Wadschagga, die aber nichts gegen die Boma unternahmen und daß die Leute immer noch nicht von Pare zurück wären.

Als ihm der Schwatzstoff ausging, wollte er Einzelheiten von Hatakos Erlebnissen auf dem Berge wissen. Doch der gab nur einsilbige Antworten und schärfte bis in die Nacht hinein unentwegt sein Messer.

Am anderen Morgen zog er seine neue Uniform an, ging zum Feldwebel und meldete sich gesund. Der sagte ihm ein paar Worte über seine neuen Pflichten als Charge und schickte ihn sogleich mit vier Mann auf Wache in den Turm.

So ruhig, als ob er das schon immer getan hätte, gab Hatako mit seiner tiefen Stimme einige halblaute Befehle, rückte einem der Leute das Koppel in die Mitte, meldete und marschierte ab.

Der Feldwebel stand mit auf dem Rücken verschränkten Händen schweigend dabei, und seine Augen, die kühl und hellgrün wie das Meer seiner holsteinischen Heimat waren und von den Askari gefürchtet wurden, weil sie alles sahen, fanden nichts zu rügen. Sie folgten dem neuen Ombascha über den Hof und fast ohne die Lippen zu bewegen, sagte er vor sich hin:

»Ein geborener Patrouillenführer – aber nur so lange, als er kein Blut riecht – dann wirds anders – oder ich müßte mich verdammt irren – –.«

Gelassen ging er wieder in sein Büro.

Die Schießscharten, die hoch oben das dicke Gemäuer des Turmes durchschnitten, gaben einen weiten Blick hinauf über die Abhänge des Gebirges und hinunter in die fahlgelben verschwimmenden Flächen der Steppe. In immer steiler gespannten Bögen schwangen sich die Flanken des Berges empor. Hellgrün schimmerten die Bananenwälder in der Nähe, dunkler das Buschland weiter oben und in düsterem Graugrün die Urwälder darüber. Langsam ziehende dichtgeballte Wolkenmassen bedeckten ihre höchsten Lagen und verbargen die erdenfernen Höhen des Geisterlandes, die Hatakos Auge in unerfüllt drängender Sehnsucht suchte.

Er zwang seinen Blick weg und ließ ihn suchend hinunterschweifen in die Ebene. In strahlendem Morgensonnenschein dehnten sich ihre Weiten unter dem blauen Himmel, als dunkle Streifen durchzogen die Galeriewälder, die die Flußläufe begleiteten, ihr eintöniges Gelb, das nach Osten zu in unmeßbarer Ferne in weißlichem Dunst mit dem Horizont verschwamm. Tief im Süden begrenzte der gewaltige Meruberg als silbergrauer hochgeschwungener Bogen die Weite, und im Norden brandeten die niederen Bodenwellen der Steppe gegen die hoch- und steilaufschießenden glasblauen Bergmauern des Paregebirges.

So adlerscharf auch Hatakos Augen die löwenfarbenen Flächen durchforschten – keine lange dünne Menschenschlange kroch da unten von jenen Steilmauern herüber dem großen Berge zu.

Schattig und still war es hier oben unter dem Blätterdach, das über den Turmzinnen als Schild gegen Pfeile errichtet war. Mit sanftem Wehen strich frischer Morgenwind vom Hochgebirge herab, unter seinem Hauche kam das Blättermeer der Bananenhaine ringsum in leises Wogen und Schwanken, wie ein Silberspiegel blitzte hier und da ein von der Sonne getroffenes Blatt auf. Aus den hellbraunen Dächern des Dorfes stieg der Rauch der Hüttenfeuer empor, Hähne schmetterten helle Schreie in den jungen Tag, und dumpf drang das behagliche Muhen von Kühen aus den verträumten grünen Tiefen der Haine. In dem rötlichen Sande des freien Platzes vor der Boma, der still im goldenen Sonnenlichte lag, scharrten ein paar Hühner herum, und knatternd blähte sich unter dem blinkenden Knopf der Fahnenstange das große dreifarbige Tuch.

Alles schien friedsam und alltäglich weitumher wie immer. Nur die verwitterte Gestalt eines einsamen, alten Marabus, der steif und stumm auf einem Beine stand und wie in trübes Sinnen verloren den weißen Schädel eines Menschenskeletts anstarrte, das dicht vor dem großen Tore im Sande lag, und mit fleischentblößten Fingern noch den Schaft eines Speeres umkrampfte, war nicht friedsam und alltäglich.

Gleichgültig sah Hatako darüber hin und starrte dann nachdenklich auf das heitere Grün der Bananen.

Da drinnen steckten die aufständischen Wadschagga, Hunderte, vielleicht Tausende von ihnen! Still lagen sie da unten im Dämmergrün und lauerten. Tausend dunkle Augenpaare waren auf diese weißen Mauern gerichtet und warteten auf die Rückkehr ihrer Brüder, die in die Steppe hinabgestiegen waren, um diese fremden Klippschliefer zu erschlagen, bevor sie in ihren Bau zurückfahren konnten. Dann würden sie den ersten Sieg feiern, ihre schlanken Weiber würden hasten müssen, um die unzähligen Töpfe voll Bananenbier herbeizuschleppen, das die Sinne der Krieger erhitzte und sie empfänglich machte, wenn die Zauberer in ihrem gespenstischen Putz, mit Knochen klappernd und mit Schellen rasselnd, ihre wilden Geistertänze rasten und dann ihr König, der große Meli, zu ihnen redete, Kühe, Land und Frauen den Tapferen und das Henkerschwert den Feigen versprach. Dann würden die Hörner dröhnend zum letzten Kampf aufrufen, das brausende Geschrei von Melis Kriegerscharen würde das Echo der Schluchten wecken, und das Licht der Sterne würde in kalten Blitzen auf tausend erhobenen Speeren und Schwertern funkeln. – Und dann würden hier in der Boma die Gewehre der Askari und die vielschüssigen Karabiner der Offiziere knallen, würden die Maschinengewehre knatternde Kugelstrahlen spritzen, und die beiden neuen Geschütze, die verhüllt über dem Tore standen und von deren Vorhandensein und Wirkung noch kein Dschagga etwas wußte, würden brüllend ihre langen Eisenzähne in die nackten Kriegerscharen schleudern, und diese Zähne würden bersten und ihre Eisenfetzen die Glieder der Krieger zerschmettern.

Hatako hatte gesehen, wie mächtige Baumstämme unter den Schüssen dieser Kanonen zersplitterten, damals, als sie sie von Mombo abgeholt und dann in der Steppe Schießübungen gemacht hatten.

Er lehnte sich in eine der Schießscharten und sah mit spöttischer Miene in die Waldverstecke der Wadschagga herunter. Er wußte ganz genau, daß am Morgen nach dem Sturm die Leiber ihrer Krieger in hohen Haufen dort auf dem Sande liegen und der alte Marabu da unten viel zu essen und keine Zeit für seine Gedanken haben würde. Und nach wie vor würden diese hohen weißen Mauern stehen und die Deutschen als Herren darin wohnen!

Warum eigentlich wollten die Wadschagga sich die Köpfe an diesen Steinwällen einrennen? Sie hatten nichts davon, auch wenn sie siegreich blieben! Nicht einmal die Stoffe in den Magazinen und die Gewehre der toten Askari. Denn alles würde ihr König als sein alleiniges Eigentum nehmen, und sie blieben seine Sklaven und zugleich die Jagdbeute der Masai, die dann wieder ihre Raubzüge in das reiche Dschaggaland beginnen würden, ohne daß ihr König sie schützen könnte – so wie es mit ihren Vätern unter dem Vater Melis gewesen war. Nur für die Machtgier ihres Königs würden diese Dschaggasklaven hier vor den Mauern sterben und die Uebriggebliebenen in ihren Dörfern leben und arbeiten. Melis Wort und Wille allein war die Kraft, die sie hier heranhetzte und die den ganzen Aufstand gemacht hatte. Wenn Meli getötet wurde, war der Wadschaggaaufstand zu Ende!

»Meli!« Wie das drohende Knurren eines gefangenen Leoparden kam das eine Wort aus der Brust des Mjema. Seine schlanken braunen Hände krampften sich um die steinerne Kante der Schießscharte, als wollten sie sie abbrechen, und unter der scharfen Falte seiner Stirn flammten die finsteren Augen auf in tödlichem Haß. Er schüttelte sich und begann in dem engen Raume unruhig auf und ab zu laufen. So erfüllt war sein ganzes Wesen von den lodernden Feuern des Rachedurstes, daß er den Anruf des einen der Askari überhörte. Der Mann guckte verwundert dem Vorbeischießenden nach und grunzte bedächtig vor sich hin:

»Ähä – Amepata wazimu kweli sasa« (Jetzt ist er wirklich verrückt geworden) »Ombascha – eeh!« rief er nochmals.

Mit einem Ruck drehte sich Hatako um. »Nini?« fragte er rauh.

»Jemand kommt die Treppe herauf, ich glaube, es ist Bana Hauptmann«.

Hatako sah ihn mit einem fremden Blicke an, wie durch ihn hindurch – plötzlich hob sich seine Brust in tiefem Atemzuge. Jetzt wußte er, wie er den Dschaggakönig, der ihm, nur ihm gehörte, in seine Hände bekommen konnte.

Mit dem jüngsten Kompanieleutnant sprechend, kam der Hauptmann herauf. Hatako nahm Haltung und meldete:

»Ombascha Hatako und vier Askari auf Wache, Bana Hauptmann! Nichts Neues.«

Der Hauptmann winkte »Rühren!« und der kleine Leutnant fuhr auf Hatako zu, streckte ihm die Hand entgegen und schnurrte in seinem fröhlichen Mischmasch von Deutsch und Kisuaheli los:

»Hallo Hatako, altes Rauhbein! Hast Du Dich wieder einmal ausgetobt da oben? – Das ist eine Zeit nach Deinem Herzen, nicht? Jetzt kannst Du Deine schwarzen Brüder, da draußen, in die Wurst hacken! – Siehst Du mein Sohn, Ombascha bist Du nun schon geworden und wenn Du so weiter fortmachst, wirst Du auch noch Feldwebel. Und dann können wir bald wieder mal zusammen losgehen wie damals und einen Simba schießen, nicht wahr? – Aber warum machst Du denn schon wieder ein Gesicht wie ein Hundsaffe, den ein Skorpion in den Schwanz gebissen hat, he?«

Der Hauptmann hatte den Feldstecher, mit dem er in die Steppe hinuntergespäht hatte, zusammengeschoben; er rückte sich mit einem leichten Seufzer die Dienstmütze aus der Stirn.

»Weiß Gott«, wandte er sich an den Leutnant, »ich wünschte, heute endlich kämen unsere Leute oder irgend welche Nachricht von ihnen – mir wäre wirklich mehr wie ein Stein vom Herzen herunter. – Trotzdem ist anzunehmen, daß ihnen noch nichts Ernstliches passiert ist, denn im andern Falle wäre ja dieser Hundesohn von Meli schon wieder hier oben und würde uns seinen Sieg unter die Nase reiben. – Sagen Sie doch bitte nachher dem Feldwebel, daß die Wache hier oben bei Nacht besonders auf etwaige Lichtsignale unserer Leute in der Steppe achtet!« »Befehl, Herr Hauptmann! – Aber ich bin ganz überzeugt, daß wenigstens einer der Läufer rechtzeitig angekommen ist, die Herr Hauptmann vorgestern abend, als dieser Kannibale hier mit seiner Hiobsbotschaft angesaust kam, zu Oberleutnant Lechner hinunterschickte. – Schade, daß er unserm lieben Meli nicht hat gleich da oben mit einem guten Blattschuß zu seinen Vätern versammeln können; dann wäre die ganze Schweinerei nicht.«

Hatako hatte aufmerksam von der Westseite des Turmes in die Tiefe hinuntergesehen. Hier fiel der Felsen fast senkrecht in eine wildwasserdurchtobte, waldbestandene Schlucht ab. Aber dabei waren seine Ohren bei dem Gespräch der Offiziere gewesen und aus den genannten Namen, den Gesten und zum Teil auch aus seiner Kenntnis mancher deutscher Worte hatte er recht gut den Sinn erfaßt. Jetzt wandte er sich um, trat zu den Offizieren, klirrte den Gewehrkolben auf und schlug die Hacken zusammen.

»Nadaka Schauri, Bana Hauptmann!« (Ich möchte eine Unterredung).

»Na, was gibt's, Ombascha?«

»Bana Hauptmann, ich werde Meli töten. Gib mir Urlaub hinauszugehen!«

»Nanu – –! Ja, aber wie denkst Du Dir denn das?«

»Ich hänge mir ein Leder um und mache mir einen Haarzopf, so wie ihn die Masai tragen; aus einem Gnuschwanz, den ich habe. Kein Dschagga kann dann sehen, daß mir ein Ohr fehlt und mich daran erkennen. Dann sage ich, ich gehöre zu einem Waffenhändler, der nicht weit weg lagert. Ich soll König Meli aufsuchen und ihm sagen, daß mein Herr viele gute Flinten zu verkaufen hat. Doch er fürchtet sich vor den Kriegern Melis, so soll der König in sein Lager kommen und die Flinten ansehen. – Wenn er mitkommt, so töte ich ihn auf dem Wege, wenn er aber nicht will, dann töte ich ihn sogleich.«

»Bravo!« schrie der kleine Leutnant hell auf und klatschte in die Hände. »Hab's ja immer gesagt, mit dem Kerl ist ein Pferd zu stehlen!« »Also bitte –!, sagte der Hauptmann lächelnd.

»Aber Mann, die Wadschagga werden Dich in Stücke reißen!«

»Labda«, (Vielleicht) sagte Hatako ruhig und sah dem Offizier voll ins Gesicht.

In seinen wilden Augen war's, wie wenn ein Feuer still unter Asche glüht.

»Und wie willst Du ungesehen aus der Boma kommen?«

Hatako streckte die Hand aus und deutete über die Brustwehr in die Tiefe.

»Hier hinunter, Bana Hauptmann; mit einem Seil.«

Der Offizier warf einen Blick hinab und sah mit leichtem Kopfschütteln Hatako und dann den Leutnant an, der erregt an seinen Fingern zog, daß die Gelenke knackten.

»Was sagen Sie dazu, Herr Leutnant?«

»Aber natürlich, der machts, das ist der Kerl darnach!« rief er eifrig.

»Du, bei dem Zöppeflechten helf ich Dir, in sowas hab ich Erfahrung! Sollst mal sehen, ich mache Dich zurecht, zum Verlieben!«

Der Hauptmann hatte die Hände in die Taschen geschoben und ging mit gesenktem Kopfe ein paar mal auf und ab. Dann blieb er vor Hatako stehen.

»Gut, Ombascha. Wenn Dir's glückt, wirst Du eine große Belohnung bekommen! Ich lasse Dich ablösen, dann kommst Du hinunter ins Büro von Bana Feldwebel.«

»Ndio, Bana Hauptmann«, antwortete Hatako und machte Kehrt. Da beugte sich der Hauptmann vor und sagte langsam und leise:

»Ich weiß, daß Du alles daran setzen wirst, den Mörder von Bibi Köhler zu bestrafen!«

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er rasch die Treppe hinunter. Hatako preßte die Lippen zusammen und senkte eine Sekunde lang die Lider über die Augen. – – – Dann stand er wieder ruhig an der Brüstung und sah mit unbeweglichem Gesicht in die weite Ebene hinab.

*

Wolkenschwere, regendrohende Nacht war auf den heiteren Tag gefolgt. Alles Licht auf der Welt schien erloschen zu sein. Selbst die weiße Farbe der Mauern und Türme der Boma war zu stumpfem nebligen Grau geworden. Als mattschimmernder Fleck lag der sandige Platz vor ihrem Tore, die Bananenhaine, die ihn begrenzten, waren formlose dunkle Haufen und verschwammen ohne Umrisse mit der Schwärze der Nacht. Fern in ihren Tiefen leuchteten als mattrote Punkte ein paar einzelne Signalfeuer der Aufständischen von den Höhen. Sie schienen ohne Zusammenhang mit der Erde frei im finsteren Raume zu schweben.

Kein Wind regte sich, alles war lautlos still ringsum. Einmal klang das jammervolle Geheul eines Hundes aus einem fernen Dorf herüber. Es brach kurz ab, und in tiefem Schweigen brütete wieder die Nacht, und ihre Dunkelheit war wie erfüllt von einer stummen schweren Drohung.

Auf dem Laufgang hinter der Mauer ging langsam der alte sudanesische Sol (Feldwebel) auf und ab. Der Tritt seiner schweren Schuhe hallte dumpf von den Wänden der Askarikaserne wider. An den Schießscharten, die als schwarze Vierecke die helle Flucht der Mauern unterbrachen, standen die dunklen Gestalten von Askari. Mit schläfrigen Augen sahen sie in die lichtlose Nacht hinaus, ihre Glieder lehnten schwer gegen die Steine, ihre Hände umspannten die feuchtkalten Schäfte der schußbereit aufliegenden Gewehre.

In dem schmalen Gang zwischen Mauer und Kaserne hing an eiserner Kette eine einsame Laterne herab. In ihren engen, in Dunst verschwimmenden Lichtkreis ragten die ausgestreckten Glieder von Askari, die auf dem Hofpflaster in Alarmbereitschaft schliefen. Dann und wann stöhnte einer der Schläfer im Traume auf oder erwachte, vor Kälte schauernd und drängte sich enger an seinen Nachbar; einer der Wachenden hüstelte, trat von einem Bein aufs andere, und eintönig hallte das Trappen der nimmermüden Füße des alten Sols.

Unter der Laterne angekommen, zog er eine klobige Uhr aus der Hosentasche, hielt sie dicht vor die blinzelnden Augen und spähte dann am Turm empor, dessen wuchtige Linien sich nach oben in die Nacht verloren. Er neigte lauschend das Ohr – das Scharren behutsamer Tritte erklang auf dem Söller – ein pfeifender Ton schoß von oben herab und verlor sich in der düsteren Tiefe der Schlucht hinter der rückwärtigen Mauer. –

»Sie probieren, ob das Seil lang genug ist. – Nun geht der Menschenfresser seinen schweren Gang.« – –

» Bismillah!« (Im Namen Gottes) murmelte der Alte und kreuzte die Hände über der Brust. Dann begann er seine rastlose Wanderung von neuem.

Oben auf dem Turme löste sich ein nackter Mann aus einer dichtgedrängten Gruppe von Menschen und stieg in die Schießscharte, die nach Westen gerichtet war. Gegen das düstere Grau des Nachthimmels waren die Umrisse seiner mittelgroßen schlanken Gestalt erkennbar. Er hatte die Haartracht der Masai. Auf seinem Rücken hing ein Bündel, aus dem ein hellschimmernder Elfenbeingriff ragte, in der Hand hielt er ein langes Stück Holz.

Eine weiße Hand hob sich aus der Gruppe, faßte die dunkle des nackten Mannes zwischen den Zinnen und schüttelte sie.

»Mach's gut, Hatako, – schreib mal 'ne Ansichtskarte –« sagte eine helle Stimme auf Deutsch und fuhr in Kisuaheli fort, »aber – warte mal –«.

Die weiße Hand verschwand, kam wieder empor und drückte einen kleinen schwarzschimmernden Gegenstand in die dunkle oben.

»Da nimm – daß Du nicht ganz wehrlos bist – geladen ist sie, und wie damit geschossen wird, weißt Du.«

Der Nackte griff in sein Bündel und in seiner Hand blinkte eine lange breite Klinge auf.

»Da – ich bin nicht wehrlos, Bana Leutnant!«

»Na ja, weiß schon, – Dein unvermeidliches Käsemesser. Aber nimm nur das Schießeisen auch mit, besser is besser!« – Und nun los, aufgepaßt, Ihr da!« raunte er den hinter ihm Stehenden zu.

Sie schoben einen kurzen, dicken Baumstamm durch die Oeffnung, an seinem Ende trug er eine Rolle, durch die ein Seil lief. Der Leutnant nahm es selbst als Vorderster in die Hand, der Nackte trat in eine Schlinge, sagte: » Haya!« (Vorwärts) und schwang sich hinaus.

» Kwaheri!« (Lebt wohl) klang seine Stimme aus der Dunkelheit.

» Kwaheri, Hatako!« antworteten die Kameraden halblaut wie mit einer Stimme.

Das Seil spannte sich straff und glitt leise pendelnd durch die haltenden Hände in die schwarze Tiefe hinab.

Wie von Riesenfäusten aufgehoben, schwebte das weiße Gemäuer des Turmes vor Hatakos Augen in die Höhe. Das Seil drehte sich langsam um sich selbst, nach der ersten Drehung sah er dunkles zerfurchtes Felsgestein vor sich aufwärtsgleiten, aber als er zum zweiten Mal herum kam, schwang er frei im Dunkel und sein suchender Blick verlor sich in schwarzer Leere; an dieser Stelle bog sich wohl die Felswand nach innen zurück. Aus unbekannter schaurig finstrer Tiefe dröhnte das Donnern des Wildbaches herauf und das graue Gewölk am Ausschnitt des Nachthimmels, der lang und schmal wie eine ausgespannte Zeltbahn über der Schlucht schwebte, schien mit rasender Schnelle in ungeheure Höhen zu fliehen. Langsam schwingend ruckte das Seil hinab, tiefer und tiefer, die Schlinge schnitt ihm ins Fleisch, und aus der brüllenden schwarzen Leere, in der er schwebte, griff eine unsichtbare Faust und preßte sein sonst so furchtloses Herz und die Sehnen seines Halses zusammen.

Unwillkürlich krampfte sich auch seine andere Hand um den Faden, der ihn allein noch mit dem verband, was festgegründet war auf der Erde, nach Luft ringend, drehte er den Hals und preßte den zurückgeneigten Kopf an das Seil. Leise knisterten die Fasern darin unter der Last seines Körpers. Ein unsägliches Schwindelgefühl überkam ihn, die Zehen seiner Füße krümmten sich, und in innerem Ringen schloß und öffnete er abwechselnd die Augen – da haschten sie den Anblick eines Büschels Gras, dessen Halme im Luftzug wehten. Halb unbewußt griff er danach, aber es war schon über ihm. Und doch hatte die Erscheinung dieser paar erdverwachsenen Grashalme die würgende Faust um Hals und Brust gelockert, er schnaufte tief auf, wischte mit dem Arm über die kalte Stirn und lugte angestrengt vor und unter sich. Auf einmal zuckte er mit erschrockenem »O!« zusammen, sein Knie hatte an einen Stein geschrammt. Er stieß den Knüppel vor sich und drückte sich von der Felswand ab. Der Grat glitt vorbei – das Rauschen des Wassers schwoll an, aber sein Ton wurde klarer und unmittelbarer, nicht mehr von Schluchtwänden im Echo zurückgeworfen – jetzt drang auch noch ein anderes Geräusch herauf – Windrauschen in Baumkronen. – In immer weiteren Bogen pendelnd sank er tiefer – da schlug ihn ein im Winde schwingender Ast auf den Kopf, und gleichzeitig stießen Füße und Knie wieder an, sein Körper stauchte zusammen, er verlor das Gleichgewicht und rollte ein Stück über Gras und Steine und feuchtes Laub hinunter, bis ihn kratzendes Brombeergestrüpp auffing.

» Kumanina!« fluchte er und fuhr mit gewaltigem Satze aus der stachligen Umarmung heraus. Aber doch klang der Seufzer, mit dem er sich die zerschundenen Glieder rieb, aufs tiefste froh und erleichtert.

Er ruckte dreimal kurz und kräftig am Seil und machte es dann von sich und den Ranken frei. Als es klar war, gab er nochmals das verabredete Zeichen, die Ringe der Schlange lösten sich auf und schwebten schnell und geräuschlos nach oben. Ein Weilchen konnte sein Blick noch das auf- und abzuckende Ende verfolgen, dann verschwand es über ihm im Dunkel. Langsam drehte er sich um und neigte den Kopf. Polternd tobte der Bach über die Steine, und schwer rauschte der Nachtwind in den finsteren Kronen der Bäume, die seinen Lauf überschatteten. Sonst war nichts zu hören.

Mit kalten Fingern schnürte er sein Bündel auf und nahm erst einmal eine Prise aus der mit einem Lederstöpsel verschlossenen Patronenhülse, die ihm als Tabaksdose diente. Dann band er den Browning mit einem Riemen um die nackten Hüften, hing sich eine Feldflasche und dann das weichgegerbte Leder über die Schultern. Nochmals reckte und dehnte er die steifgewordenen Glieder, lauschte und witterte in die Runde wie ein Tier und stieg dann leise und schnell über Steine und Wurzeln zum Ufer des Baches hinunter. Den Wasserlauf nahm er als Richtweiser und Deckung gaben ihm die Baum- und Bambusdickichte seiner Ufer, denn niemand durfte sehen, daß er vom Berg herabkam.

Hier unter den Bäumen war es, als wäre ein dickes, schwarzes Tuch zwischen Himmel und Erde gespannt. So völlig lichtlos war die Nacht, durch die er schritt, daß totes Holz und zerfallende Blätter am Boden in bläulich, grünem Verwesungsschimmer leuchteten. Trotzdem bewegten sich seine Füße rasch und mit unfehlbarer Sicherheit und Leichtigkeit vorwärts. Der Urwald der Heimat leitete sein Kind über unendliche trennende Fernen hinweg mit jenem Sinn, der, ihm selbst unbewußt, neben Gesicht und Gehör tief und unerkennbar in ihm wirkte.

Unsichtbar unter überhängendem Gezweig gurgelte hier das Wasser, strudelte und schäumte weiterhin mit weißleuchtendem Gischt an sperrenden Felsblöcken hoch, schoß mit friedlichem Geplätscher weiter über glatte Platten und Steine und setzte gleich darauf in wildem Sprunge brausend und polternd eine Felsstufe hinunter. Im Dunkel des Waldes geisterten Flughunde und Ziegenmelker und streiften mit weichen dunklen Flügeln des Wandrers Schulter und Gesicht und hoch über ihm in der Schwärze der Baumkronen klangen schnalzend die Schreie der Nachtaffen. In den Bambusdickichten, die den Wald unterbrachen, spielte der Nachtwind, knarrend bog er die hohen schlanken Gerten und fuhr sausend durch ihre flatternden Federkronen.

Die tiefe Finsternis und Einsamkeit des Urwalds, seine schwere, feuchte Luft, die ein modrig-bitterlicher Geruch durchdrang, umfingen die Gedanken des Nachtwandrers und führten sie zurück auf die Wege der Heimat. Worte klangen aus dem Walde – sie riefen in der Sprache seines Volkes – Bilder zuckten vor seinen Augen auf, standen grell und scharf beleuchtet und versanken wieder im Dunkel der Jahre. – Jene letzten waren es vor allen, die in ihrer Lebendigkeit den Schlag seines Herzens antrieben und ihm kurz abgerissene Laute entlockten. Jene, als er vor den Armen der Gorillas und den Schüssen der Posten mit seinem verwundeten Bruder in den Fluß sprang – als unter seinem Messerhiebe der Schädel des ersten Opfers seiner Rache zerschellte – als der weiße Zauberer schreiend und mit flatterndem Gewande in der engen Gasse des Urwaldes vor ihm davonlief und sein erschrockener Blick die Spitzzähne seines eigenen Volkes aus dem Munde des von ihm Getöteten schimmern sah – als er am Ende der Fahrt dem stillen Wasser der Lagune dann mit fried- und ruhevollem Herzen die Ohren der Opfer gab. – Auf gleichem, blutigen Pfade wie damals liefen heute seine Füße durch den nächtlichen Wald, während in seiner Brust das Feuer der Rache lohte und mit heißem wilden Brausen das Blut in seinen Adern sang. – »Meli!« sagte er laut und langsam vor sich hin. Er war stehen geblieben, seine Brust hob und dehnte sich – mit tiefem Keuchen stieß er den Atem aus, hell schimmerte das Weiß seiner Augen im Waldesdunkel auf. Dann setzte er seinen Weg fort.

Lange war er schon gewandert, als sich Büsche und hohe Farren zwischen die Bäume mischten und in wildwucherndem Wirrwarr allen Durchgang versperren wollten. Der Nachtwanderer mußte das Messer zu Hilfe nehmen, um durchzudringen. Witternd blähte er bei der Arbeit die Nasenflügel, der frischere Geruch von freiem Land schlug ihm entgegen. Schlucht und Wald weiteten sich vor ihm zu mais- und bananenbebautem Tal. In kurzen hurtigen Stößen rauschte kühler Bergwind durch den dunklen Grund. Das Tiefschwarz der Nacht löste sich allgemach in trübes feuchtes Grau auf, und Regen setzte ein. Mit feinem Trippeln und Sprühen begann es und schwoll langsam an zu Rauschen, Knattern und Trommeln. Zerstäubtes Wasser spritzte von den breiten Flächen der Bananenblätter, goß in Strahlen und Traufen von ihren Spitzen herunter, die sich unter dem Druck des Regens abwärtsneigten, schwemmte im fetten Humusboden und verwandelte ihn in zähen schmierigen Brei.

Endlos fiel der Regen. Klatschend prasselte er auf Hatakos unbedeckten Schädel, rann an seinen beiden steifen Zöpfen herab und fiel in zwei plätschernden Strahlen auf seine lederbedeckten Schultern. Neu entstandene Bäche schossen gurgelnd über den Weg oder benutzten seine tiefausgetretene Rinne als Bett. Unter seinen Tritten spritzte ihm der Schlamm bis an die Oberschenkel hinauf und rieb ihm die Zehen wund. Das hart und steif gewordene Leder schlug klatschend gegen seine Knie und zerscheuerte die Haut. Kaltes Wasser rann ihm den Rücken herab und seine Hände wurden klamm vor feuchter Kälte. – Doch er achtete auf nichts und fühlte nichts vom Unbehagen dieser Regennacht. In seinen Gedanken brannten Haß und Rache, sie jagten sein Blut in heißen Wellen durchs Herz und machten ihn warm.

Endlos fiel der Regen. Die Finsternis ringsum war ein einziges Rauschen und Plätschern, Triefen und Sickern. Unter böigen Windstößen seufzten die Bäume auf, schüttelten triefend ihre Aeste und ließen sich ergeben von neuen Schauern überschwemmen, die der Wind herbeigerissen hatte. Eilig und still trabte Hatako einen bergabführenden Pfad hinunter, auf den er gestoßen war. Er hatte ihn unbedenklich aufgenommen, denn bei diesem Wetter war ein Zusammentreffen mit Menschen kaum zu fürchten. Und begegnete ihm doch jemand, so barg ihn die Finsternis mit einem einzigen Schritt vom Wege.

Einzelne Hütten traten hier und da mit unbestimmten Formen aus der Nacht, ihre hohen spitzen Dächer waren wie zerflossen in Dunkelheit und Nässe. Hunde kläfften auf, in grundloser Wut überschlugen sich ihre Stimmen zu schrillem Heulen, aber das Peitschen von Wind und Regen trieb sie rasch wieder unter die trocknen warmen Dächer. Aus schwarz verräucherten Gärten schimmerten jetzt linkerhand helle Mauern herüber, die Gebäude einer europäischen Kaffeepflanzung. Auf der Veranda des Hauses umflackerten ein paar Feuer die dunklen Umrisse von plündernden Wadschagga, die es sich dort bequem gemacht hatten. Der Wanderer blieb stehen, die nasse Hand auf den Zaun gelegt und sah hinüber. Ein grimmiges Lächeln stand auf seinem regenüberströmten Gesicht. Er schüttelte sich unter einem Kälteschauer, strich sich das nasse Haar aus der Stirn und trabte weiter.

Jetzt mündete der Pfad auf die große Straße. Einen Augenblick stand er unentschlossen; hier war gefährlicher Boden für ihn. Zögernd trat er hinaus. Mit doppelt gespannter Aufmerksamkeit huschte er durch den Schlamm und über die großen schwarzblinkenden Wasserlachen, seine Augen wanderten dabei immer wieder forschend in die Schwärze unter den hohen Bäumen auf der linken Wegseite. So hatte er eine Regenrinne, die über die Straße lief, nicht gesehen, er glitt aus und fiel auf Hände und Knie nieder. Ein halblautes Fluchwort, das er ausstieß, brach er mitten ab und lauschte, halbaufgerichtet und unbeweglich. Der Wind sauste durchs Geäst, der Regen trommelte im Laub und spritzte in den Pfützen – sonst nichts.

Er nahm an, daß er sich getäuscht hatte und erhob sich, aber plötzlich sank er wieder zurück und huschte gebückt, lautlos und blitzschnell wie ein Schatten unter die Bäume. Ueber die Stelle, auf der er eben noch gekniet hatte, schritt eine regentriefende Menschengestalt – noch eine und noch eine, und in kleinem Abstand folgte eine ganze Gruppe, die sich mit kurzen halblauten Worten unterhielt. Regungslos stand der Lauscher im Dunkel, der Trupp war vorüber, er horchte die Straße hinab, hörte nichts mehr und hob schon den Fuß, um weiter zu schleichen, da – ein schwaches Klirren von Metall auf Stein; noch mehr Menschen kamen den Berg herauf! Sie hasteten vorüber, aber da, einer blieb ihm gegenüber stehen, rief den Vorauseilenden ein kurzes Wort zu, sie machten Halt, der Einzelne tastete mit seinem Speer vor sich hin und gerade auf Hatako zu. Der drückte sich rückwärts, aber er fühlte eine dichte Wand von Ranken und Stämmen hinter sich, geräuschlos war da nicht durchzukommen. Dicht vor sich hörte er jetzt schon die Eisenspitze auf eine Wurzel stoßen, noch einen Schritt und der Mann prallte auf ihn!

In rasendem Zickzack sprangen seine Gedanken nach einem Ausweg, seine Hand fuhr nach dem Messer – da wußte er, was zu tun war. Ein kurzer wilder, furchtbar drohender Ton, ein fauchendes Knurren drang aus seiner Kehle, und wie von einer Faust geflossen flog der Mann zurück. » Chui! – Angelieni!« (Aufgepaßt, ein Leopard) gellte er auf, patschte mit gewaltigem Satz durch eine Pfütze und war verschwunden. Klatschend und spritzend raste die ganze Gesellschaft ihm nach die Straße hinauf.

»Aehä!« grinste Hatako, streckte den Kopf vor und lauschte ein Weilchen bergauf und bergab. Dann fuhr er in großer Eile noch ein Stück die Straße hinab, die Augen suchend aus der linken Seite und sprang endlich mit einem befreienden Satz über einen Graben in einen dunklen Seitenpfad hinein. Aufklatschend wie nasse Tücher schlugen die Bananenblätter um ihn und über ihm zusammen. Auch dieser Pfad war ihm von seinen Jagdzügen mit den Offizieren her bekannt. Er führte steil hinab an den Fuß des Berges, dann an einem Sumpfe entlang und verlor sich weiterhin in der Steppe.

Endlich hörte der Regen auf. Ein heftiger kalter Wind rauschte im Blätterdach über ihm und ließ seine Haut unter dem nassen Leder erschauern. Er blieb einmal stehen, drückte das Wasser aus seinem eigenen und dem falschen Haar, schlug prustend die Arme umeinander und nahm mit ungelenken verklammten Fingern eine Prise. Nach einem flüchtig prüfenden Blicke nach dem Himmel, an dem letzte schwarze Wolkenfetzen unter aufblitzenden Sternen jagten, setzte er sich, so rasch der glitschige Lehmboden des Pfades und die Dunkelheit es erlaubten, wieder in Trab.

Nach kurzer Wegstrecke verlor sich die Steilheit des Abhangs in das sanftwellige Auf und Nieder der vorgelagerten Hügel und die dunkle Kühle der letzten Bananenhaine blieb hinter ihm zurück. Hohes taufeuchtes Gras und stachliches Buschgewirr, durchweht vom warmen Hauch der Steppe, umfing ihn.

Schwach erst wie fernes Wasserrauschen, doch mit jedem Schritte sich verstärkend bis zum machtvollen Dröhnen, das die Luft erfüllte, schwoll eine Flut von Tönen vor ihm auf. Wie Klappern von trockenen Hölzern, wie Klirren und Klingeln von ungezählten Schellen und Glöckchen, schlug der gewaltige Chor von Myriaden von Fröschen aus dem Sumpf empor. In dies brausende Lied mischten sich einzelne andere unheimliche Töne. Der Nachtwind knisterte und raschelte in Papyrusdickichten, Glucksen und Gurgeln drang aus unsichtbaren Gewässern, in den weißbrauenden Nebeln schnaubten mächtige Nüstern, und mit hellem feinen Singen tanzten Wolken von Moskitos im fauligriechenden Dunst der Moräste.

Dann und wann schrie die Stimme des tausendfältigen Lebens, das diese schlammigen Tiefen bevölkerte, auf in hungriger Gier oder in Schmerz und Todesnot. Ein großer Tierkörper fuhr prasselnd durch die Papyrushalme und plumpste mit schwerem Schlag in den Morast. Ein gellender Schrei zerriß die brütende Luft, das Stöhnen und Keuchen eines Kampfes zwischen Nebenbuhlern in Liebe oder Beute tobte in den dunstverhangenen Gründen. Mit hellem Rufe flatterten aufgeschreckte Vögel vor dem Fuß des einsamen Wandrers ins Röhricht, die riesigen dunklen Massen von zwei Flußpferden schoben sich mit wuchtig stampfenden Tritten, schnaufend und schlammspritzend, über den Weg.

An erhöhter, trocknerer Stelle vertrat endlich schilfartiges Gras die wuchernden Papyrusmassen, deren hohe, über den Pfad gewölbte Stengel jeden Blick nach oben versperrt hatten. Aufatmend trat Hatako heraus. Erstes kühlgraues Sicht lief in zartem Schimmer über den Himmel, die Schatten der Nacht lösten sich auf in silbrigem Glanz. An den gebleichten Stamm eines abgestorbenen Baumes gelehnt, sah Hatako kurz verschnaufend zurück. Seine Glieder schauerten in der kühlen Morgenluft, ohne Bewegung stand er, und weitgeöffnet hingen seine Augen an der erdfernen Spitze des Berges. Ein Ring von streifigen gelbrot durchleuchteten Wolken schwebte wie ein goldner Reif um die purpurn glühenden Eisdächer des Geisterlandes dort in der Höhe. Wie in Blut getauchte Speere flogen die Strahlen der steigenden Sonne nach den fernen einsamen Gipfeln.

Die Hand mit leichtgekrümmten Fingern in innerer Bewegung ausgestreckt, stand der einsame Wilde. Die Lippen seines halbgeöffneten Mundes zuckten, und wieder erklang bei diesem Anblick ein Ton in ihm, als rührte ein geheimnisvoller Finger an eine tiefgestimmte Saite, und ein seltsames Beben und Schauern, wie ein inneres Frieren, rann durch seinen Körper. Ein Schimmer der Morgenröte überstrahlte sein braunes Gesicht und in seinen wilden Augen lag ein stilles klares Licht, wie wenn ein Mittagsstrahl das ewige Dunkel einer Schlucht erhellt.

In lautlosen kupferrot blinkenden Wellen wand sich eine große Schlange an dem Baum herab. Sie stockte auf ihrem Wege, bog seitab und ließ den vorderen Teil ihres schimmernden Körpers von einem Ast herabgleiten. Ihr rot und gelb gefleckter Kopf mit der spielenden Zunge wiegte über dem Haarschopf des unbeweglich stehenden Menschen hin und her. Jetzt hob sich seine Brust unter einem tiefen Atemzuge – da klang ein warnendes, drohendes Zischen über ihm und warf ihn mit einem Schlage in die Gefahren seiner wirklichen und wilden Umwelt zurück.

In jähem Entsetzen schnellte er rückwärts, geschüttelt von dem unsagbaren Grausen, das der Wilde vor dem Geschlechts der Schlangen empfindet. Und in Haß und rachsüchtiger Wut über sein Erschrecken fuhr seine Hand nach dem Messer und sprang er vorwärts, um jenen züngelnden Kopf abzuschlagen. Doch die Ungewohntheit seiner Lederkleidung hinderte ihn am raschen Herausreißen der Waffe, und in geschmeidig schneller Bewegung glitt die Schlange, die einen Kampf nicht suchte, vom Ast herab und verschwand im Grase.

Enttäuscht sah er ihr nach, schüttelte sich nochmals vor Abscheu und nahm seinen Weg wieder auf. Vor ihm hob sich das Gelände, keilförmig zwischen zwei Hügel gebettet, lag der letzte, von Wasser überflutete Zipfel des Sumpfes. Die Lache war ausgefüllt von Wasserpflanzen, und wie ein prangender Teppich bedeckten hunderttausend Blüten in leuchtendem Hellblau die Wasserfläche. So strahlend war die lichte Schönheit dieses Blumenbeetes, daß es den Blick des Wilden, der sonst so gleichgültig über die Farben der Natur hinglitt, einfing und festhielt. Staunend sah er darauf nieder und dann zum Himmel auf, als wollte er nachsehen, ob nicht dieser dreieckige Ausschnitt aus dem leuchtenden blauen Gewölbe da oben herabgefallen sei.

Die reiche bunte Vogelwelt des Sumpfes begrüßte das Licht des neuen Tages mit einem Gewirr von pfeifenden, schnarrenden und schnatternden Stimmen. Schwarzweiße Störche breiteten wärmesuchend ihre leuchtenden Schwingen der Sonne entgegen, graue und weiße Reiher wateten in Eile, ihren ewigen Hunger zu stillen, in die Lachen, Schlangenhalsvögel putzten unter unwahrscheinlichen Halsverrenkungen ihr Gefieder, ein dicker Pelikan watschelte breitspurig am Ufer hin und versetzte einem verschlafenen Enterich, der nicht schnell genug aus dem Wege ging, einen Schnabelhieb, der den kopfüber in den Schlamm beförderte. Mit lautem Gaken fuhren ein paar riesige Sporengänse in plötzlichem Anlaufe dem Wasser zu und scheuchten eine Gesellschaft von rosigroten Flamingos, beschopften Sekretären und stelzbeinigen Ibissen in bunter lärmender Wolke hoch.

Auf der Höhe des Hügels angekommen, spähte Hatako mit vorgehaltener Hand über die weite Steppe, deren graue Büsche und gelbe Gräser vom warm verklärenden Goldglanz der Morgensonne übergossen waren. In leuchtendem Ziegelrot hob sich die schlanke Spitze eines Termitenhaufens über die Fläche. Das war's was er suchte. Dort angekommen, schlug er eine Scholle des sonnenharten Laterits ab, zerbröckelte und zerrieb sie und durchknetete dann das Pulver mit einem Klümpchen Talg, den er aus seinem Lederbeutel holte. Mit der rotbraunen Salbe rieb er darauf seine beiden Zöpfe und das glatte Scheitelhaar ein, bis ihm die ganze Perücke steif und glänzend wie ein Kupferhelm auf dem Kopfe lag. Nachdem er den verräterischen grauen Schlamm des Berges sorgsam von Körper und Kleidung entfernt hatte, wanderte er in südlicher Richtung weiter. Dabei mußte er irgendwo aus die große Straße nach Pare stoßen.

In unbeirrbar gerader Linie trabte er durch die schweigende Steppe. Die zunehmende Sonnenwärme machte ihn nach der wandernd verbrachten Nacht müde. Dann und wann riß ihm eine jähflüchtende Zwergantilope, das Auf- und Davonpoltern eines beim Wühlen gestörten Schweines oder das scheltende Geschrei einer Elster den Kopf hoch, der ihm schlaftrunken nach vorne gesunken war, und in ärgerlicher Willensanstrengung zwang er die erlahmenden Beine in seine gewohnte Gangart zurück.

Im Grunde einer Senke lief eine dunkle gekrümmte Linie entlang. Mit harten scharfen Umrissen hob sie sich von dem fahlen Graugelb der Steppe ab. Das konnte nur der Uferwald des Flusses sein, und damit wußte er, wo er sich befand.

Die Reihe der Bäume verfolgend, bog er nach Osten ab. Nach einer Wegstunde etwa traf er einen Pfad, der in letzter Zeit stark von Menschen begangen schien. Als dunkler Tunnel bohrte er sich durch die wuchernden Pflanzenmauern zum Flußufer hinab.

Unten angekommen, rief Hatako mit lauter Stimme den Namen »Kenge!« über das Wasser. Er mußte immer wieder rufen und lange warten, bis von drüben Antwort kam. Endlich glitt ein Einbaum aus dem Tintendunkel der Flut unter den gewaltigen Uferbäumen hervor in die sonnengleißende Mitte des Flusses. Ein alter Mann, der als einziges Bekleidungsstück ein Fellchen, nicht größer als das einer Maus, trug, lenkte das plumpe Fahrzeug.

Hatako bückte sich, hob einen nußgroßen Kiesel auf und steckte ihn in den Mund. Mit niedergeschlagenen Augen erwartete er die Ankunft des Fährmanns. »Jambo Baba« begrüßte er den Alten. Seine Stimme klang unklar, dumpf und verändert. » Pesa mojal Unapata feza?«, (Einen Pesa! Hast Du Geld?) rief der Alte ohne auf den Gruß zu danken und noch ehe er anlegte. Als Antwort hielt Hatako ein Viertelrupiestück hoch. Das verbißne Gesicht des Alten wurde einen Schein heller.

»Steig ein! – Weißt Du, immer kommen jetzt diese hochnäsigen Wadschagga und wollen übersetzen, und dann haben sie kein Geld und bezahlen mich mit Schimpfworten oder Prügeln – Du bist ein Masai?«

»Ja. Aber was tun Wadschagga hier unten in der Steppe?«

»Nun sie machen doch Krieg gegen die Wasungu! (Europäer). – Sie haben die große Boma in Moschi erstürmt und alle Deutschen totgeschlagen, und jetzt sind sie mit ihrem König Meli heruntergekommen und belagern andere Wasungu und Askari, die von Pare gekommen sind, aber auch nach Moschi gehören. Weißt Du denn davon nichts? – Du scheinst ein Schenzi ya bara kabisa (Ganzwilder aus dem Innern) zu sein«, brummte der Alte mit einem prüfenden Blick auf seinen Fahrgast.

Mit dem Kopfe nach rechts hinüberwinkend fuhr er fort: »Geh mal dort über jenen Hügel! Da kannst Du das Lager der Wadschagga sehen und die kleine Boma, die sich die Askari gebaut haben. Aber geh nicht zu nahe hin, die Wadschagga sind schlimme Diebe und Räuber und sind sehr frech geworden. Sie halten alle Männer an und plündern sie aus und lassen sie Holz und Wasser tragen. Meinen Sohn haben sie auch eingefangen, aber ich mache mich heute Nacht in meinem Mtumwi (Einbaum) flußabwärts davon, mögen sie sehen, wie sie wieder hinüberkommen, ohne von den Krokodilen gefressen zu werden. – Bassi, hier sind wir – her mit meinem Pesa!«

Unter der Wurzel eines Baumes holte er einen alten Lappen hervor, knotete ihn aus und suchte umständlich das Wechselgeld zusammen. Mit einem knurrigen »Kwaheri« schulterte er dann sein Paddelruder und wackelte seiner Hütte zu.

Hatako sah ihm mit einem leisen Zucken der Sippen nach, holte den Kiesel aus dem Munde, betrachtete ihn nachdenklich und barg ihn in seinem Lederbeutel. Mit zufriedener Miene ging er weiter. Der Alte hatte in ihm nicht den Jagdaskari erkannt, den er zusammen mit dem jungen Leutnant so oft übergesetzt hatte. Das gab ihm jetzt, in Reichweite der Wadschaggaspeere, ein Gefühl der Sicherheit.

Als der Alte außer Sicht war, verließ er den Weg und setzte sich an einer abgelegenen Stelle am Flusse nieder. Aus dem Fellsäckchen holte er ein Stäbchen mit darauf gesteckten, am Feuer gerösteten Fleischstückchen und zwei Bananen hervor und begann zu essen. Während er hungrig kaute, ruhte sein abwesender Blick mit einem Ausdruck von finsterer Entschlossenheit auf den glitzernd vorüberhastenden Fluten. Ein Schluck von dem trüben Wasser und eine Prise Tabak beschlossen sein Mahl. Prüfend zog er dann nochmals die Schärfe seines Messers über den Daumennagel, wischte von der dunkelblau glänzenden Pistole sorglich ein Schlammspritzerchen ab und warf zum Schluß noch einen Blick auf das Spiegelbild seiner Masaifrisur im Wasser. Er war schon beim Aufstehen, da stockte er, seine Hand legte sich fest um den Talisman seines alten Freundes und seine Augen schlossen sich ein paar Herzschläge lang, als wollten sie auch der Einsamkeit der Flußlandschaft das verbergen, was durch seine Seele ging.

Gerade als er sich zum Gehen wandte, klang etwas fern und schwach von jenem Hügel herüber. Zwei drei scharfe trockne Knalle erst – Askarigewehre, dann dumpferes, regelloses Krachen – Vorderlader, von Wadschaggas abgefeuert, zuletzt noch ein paar verwehte Rufe und verhallende Schreie – dann sank die singende Stille der Steppe wieder herab. Mit einem Ruck richtete er den lauschend gesenkten Kopf auf, weiß blitzten seine Zähne und heiß die Augen auf. Dann ging er eilig seinen totdrohenden Weg.


 << zurück weiter >>