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1. Kapitel.
An den Toren des Geisterlandes

In Prunk und Pracht war die Sonne Afrikas untergegangen. Der Eishelm, der das in sechstausend Meter Höhe gereckte Haupt des Kilimandscharo bedeckt, loderte auf in Purpurglut, funkelte wie ein in Flammen gesetzter Stern weit über die Länder und sank zurück in matten Silberglanz. Gletscher und Moore, Eisklüfte und Schluchten hauchten in rasch sinkender Abendkühle grauen Atem aus. Wiegend und tanzend schwebten zarte Gebilde empor, wehten wie Elfengewänder, wie Schleier und Fahnen über die Hochwüste, wuchsen zu Riesenformen, zu Ungetümen, ballten und verdichteten sich zu wogenden, wallenden Wolken. Die letzten Stimmen des Lebens, die klingend hüpfenden Tropfen an den Felsmauern und die murmelnden Wasserfäden zwischen den Blöcken, verstummten und erstarrten, wurden zu silbernen Adern, zu blinkenden Krystallen, die wie Spitzengewebe die steinernen Brüste der Felsen bedeckten. Alles Licht verlosch, Himmel und Erde versank in grauem Nebelmeer, tauchte in die Eiseskälte und das Todesschweigen, das den Weltenraum erfüllt. – – Tief, tief drunten warf sich ein Windstoß in die Urwälder. Dumpf wie eine Herde schlafender Ungeheuer schnaubten sie auf. Als ferner schwacher Laut nur drang es herauf und erstarb wieder in der unendlichen Stille.

In den grauen Fluten schwammen, bogen und bäumten sich die Leiber von Nebelriesen. Ihre gewaltigen Glieder stiegen an schroffen Felsenpfeilern hoch, ihre Arme umschlangen eisverglaste Trümmer, sanken hinab in blauschimmernde Eisschründe, drehten sich in schwerfälligem Gespenstertanz über erstarrenden Mooren.

Da kam ein Windstoß, heulend wie auf tausend Hörnern von den Gletschern herab und zerriß die Dünste. Ein Strahl von bläulich-kaltem Licht, wie aus einer anderen Welt kommend, erleuchtete das Hochland. Für einen Augenblick schimmerte in überirdischem Glanz der Eispanzer des Kibo herunter. Als ungeheurer Bogen war er vor das schwarze Firmament gespannt, auf seinem Scheitel trug er weißflammende Sterne. Die Nebelwolken in dem Lichtkegel glänzten auf wie emporgewirbelter Silberstaub.

Eine turmhohe Gestalt löste sich jetzt schwankend und taumelnd aus dem Tanze der Riesen. Auf- und niedertauchend, stockend und wieder vorwärtsgleitend bewegte sie sich dem Lichtscheine zu, verschmolz und verschwamm in langsam kreiselnden Wirbeln, drang dunkler und körperhafter wieder hervor und nahm in der Lichtbahn kleinere, menschliche Formen an. Ein scharfes Knacken, ein weiterlaufendes feines Knistern lief über den Boden und unterbrach die Totenstille; Eisen klirrte an Stein, ein Fuß patschte in Wasser. Die Gestalt sank zusammen, ein Arm betastete die Eissplitter am Boden. Dann ein weiter Schritt über eine eisspiegelnde Lache, der nägelbeschlagene Schuh stieß an einen Block, das Bein faßte Halt und schwang den Körper hinauf. Oben blieb der Wanderer im Nebel stehen, holte tief Atem, schlug schnaufend die Arme um die Schultern und bemühte sich, mit dem Blick die lichtgetränkten Wolken zu durchdringen. Gelbbrauner Stoff bekleidete enganliegend seinen Körper, hinter der Schulter ragte der Lauf eines Gewehres auf, an der steilen Rundung der Kopfbedeckung über dem braunen Gesicht blinkte ein großer silberner Adler. Es war ein Askari.

Er spähte lange und aufmerksam ringsum. Dann schüttelte er hoffnungslos den Kopf und seine Augen blieben an der schimmernden Kuppel haften. Wie Zorn glomm es in ihnen auf; er preßte die Lippen aufeinander und starrte feindselig die Eisfelder an, die hoch über ihm dem Himmel zustiegen. Plötzlich warf er die geballte Faust in die Höhe.

»Die Augen von Bugwan, dem Alten, haben immer Euer Land angesehen und sein Herz hat darnach geschrien, ihr Geister des Berges. Doch er hat nie gewagt, hier herauf zu gehen. Aber ich fürchte mich nicht vor Eurem kalten Hauch und komme immer wieder, immer wieder! – Und einmal werde ich Euer Land betreten!«

Laut und herausfordernd rief er es durch die Nacht. Still und kalt sahen die Gletscher herab, der Wind schlief ein, die Nebel stiegen, das Leuchten erlosch. Wie eine versinkende Insel ragten noch die höchsten Gipfel schimmernd über die Flut, dann wurden auch sie vom Nebelmeer überspült.

Mit behutsam tastenden Füßen setzte sich der Wanderer in Bewegung. Eine bestimmte Richtung konnte er nicht einhalten, es genügte ihm, wenn er fühlte, daß er bergab ging. Ganz langsam nur kam er vorwärts. Sümpfe, deren Eisschicht noch zu dünn war, um ihn zu tragen, wirr durcheinander geschleuderte Felsblöcke, jäh abstürzende Wände und klaffende Schluchten, aus denen greifbar dicht die Nebel wie aus kochenden Töpfen emporbrodelten, bildeten immer neue Hindernisse auf seinem Wege. Dann und wann blieb er stehen, blies in die kalten Hände und nahm eine Prise Schnupftabak. Sehnsüchtig blickte er über sich, ob noch kein Stern sichtbar wurde, der das Weichen des Nebels verkündete, und horchte nach dem Rauschen eines Gletscherbachs, das ihm sagen konnte, wo er war. Aber nichts war zu hören und zu sehen ringsum. Nur die grauen Massen quollen unerschöpflich aus den Klüften des Gebirges und wogten durch die Einsamkeit, und wie Harfen ertönten die Felsen im Spiele des Windes.

Mit ausgespreizten Armen und Beinen rutschte er jetzt ruckweise an einer glatten Wand herab. Die Kälte biß ihm in die Hände, seine Finger wurden wie Glas; kaum konnten sie noch den niedergleitenden Körper halten. Endlich berührten die Füße ebenen, mit Gras bewachsenen Boden. »So!« seufzte er aus befreit ausatmender Brust, rasch schritt er dann auf der leichtgeneigten Matte dahin. Blöcke und Felstürme tauchten hoch wie Häuser vor ihm auf, glitten vorüber und versanken hinter ihm im Nebel. Wieder reckte sich eine glitzernde, gewaltige Felsmasse unvermittelt vor ihm empor. Er ging daran entlang, bog um eine Ecke; eine enge Schlucht öffnete sich seitlich, da blieb er plötzlich stehen. Er reckte den Hals vor, hielt die Hand ans Ohr und bohrte die Augen in die Dampfwolken, die in dem dunklen Schlunde wogten. Jetzt wirbelten die Dünste unter einem Windstoß in die Höhe, und er erkannte, daß er sich nicht getäuscht hatte – hier in dieser einsamen Schlucht, dicht unter dem Eisgewölbe des Geisterberges, viele tausend Meter über den höchsten Menschenwohnungen und noch hoch über den Urwäldern brannte ein Feuer, und schattenhaft verschwommene Gestalten bewegten sich vor den Flammen!

Abergläubisches Entsetzen spiegelte mit dumpfem Glanz in seinen weitgeöffneten Augen.

Er wandte den Kopf und sah sich scheu um. Grauen wuchs aus den wilden Formen der Felsen, aus der nebelerfüllten Oede und dem eisigen Schweigen, das ihn umgab. Das Grauen schüttelte ihn, wollte ihn zu Boden drücken oder ihm die Füße in besinnungsloser Flucht in die Nacht hinausjagen.

Da erklang eine Menschenstimme in der Schlucht, und mit einem Ruck warf der Askari alles von sich ab, wurde ganz wach und klar. Er drückte sich nahe an die Felsen und glitt auf den Zehenspitzen unhörbar, ruckweise vorwärts. Wieder vernahm er die Stimme, sie klang seltsam rauh, scharf rollten die Konsonanten in den Worten.

Der Lauschende zuckte zusammen, sein Oberkörper bog sich vor, die Augen wurden ganz weit, der Mund öffnete sich in maßlosem Erstaunen. Aber er konnte den Sprecher nicht sehen, ein anderer Mann verdeckte ihn. Er war groß und schlank, ein Leopardenfell bedeckte seine Schultern, wie eine dunkle Wolke wallte ein Schmuck von schwarzen Straußenfedern um seinen Kopf. Jetzt hob er den Arm, die Klinge eines Speeres funkelte auf und blieb drohend auf der Brust des anderen stehen.

»Wehe, wenn Du lügst!« rief er.

In erneutem Erstaunen zuckte der Kopf des Askari auf. –

»Lo! Meli, der König von Udschagga!« flüsterte er.

In höchster Spannung schob er sich näher und näher. Der Bedrohte drängte mit einer ruhigen Handbewegung die Speerklinge von seiner Brust.

»Laß die Träger soviel an Waffen tragen, wie sie außer dem Elfenbein noch tragen können. Ich bleibe als Geisel bei Dir, bis sie mit den Flinten, gute Elefantenflinten, zurück sind. Zwei für jeden Zahn und ein Büffelhorn voll Pulver und eins voll Kugeln, wie wir es ausgemacht haben.

Aber sage Deinen Leuten, daß nur je zwei mein Lager betreten dürfen und daß sie sogleich heimwärts gehen müssen, wenn der Tausch beendet ist! Sobald sie weg sind, bringen meine Leute das Elfenbein an einen Platz, den nur wir kennen. – Es ist kein Mißtrauen gegen Dich, Meli, sondern unsere Dasturi (Sitte, Gewohnheit). Sie wurde es, seitdem einmal der König eines fernen Landes nach geschehenem Tausch mein Lager überfiel, um sein Elfenbein zurückzunehmen. Er bekam es nicht; umsonst ließen viele seiner Krieger ihr Leben durch die Kugeln meiner Leute, und umsonst schickte mir später der König Boten, wieder in sein Land zu kommen und ihm Pulver zu verkaufen.«

Der Sprecher hatte geendet, gelassen kauerte er sich am Feuer nieder und rieb fröstelnd seine gelben Hände, kein Wort fiel im Kreise, nur das Feuer knisterte leise. Stumm starrte ihn der König an. Dann stieß der Wilde die Spitze seines Speeres klirrend gegen die Steine, und mit einem Auflachen schlug er seine Verlegenheit tot.

»Du bist klug wie der Steppenhase, Araber! – Heute abend kann Dein Mann die Träger mit dem Elfenbein wegführen, und morgen früh sollen sechs mal zehn Gewehre auf meinem Hofe sein und dann – dann, zu Neumond – dann werde ich die fremden Elefanten jagen, da unten hinter den Mauern, die hierherkamen und Herren in diesem Lande sein wollten, wo nur ich Herr bin!«

Mit immer lauter werdender Stimme hatte er es hinausgeschrien; der mit Kupferringen geschmückte Arm schüttelte den Speer, lang zurückgehaltener Haß sprühte aus seinen Augen, wie dunkle Flammen wehten die Straußenfedern um seinen Kopf.

Tiefes Schweigen folgte diesem Ausbruch. Mit einem von unten kommenden Hyänenblick und ganz veränderter Stimme fragte der König unvermittelt nebenher:

»Aber hast Du auch so viele Flinten, Araber?«

»Ja, Meli« antwortete der Händler mit einem ganz kleinen Lächeln um den Mund, »und noch viele mehr, die ich nicht verkaufe!«

Er war aufgestanden und neben das Feuer getreten, hell beleuchteten die Flammen sein Gesicht mit der scharfen krummen Nase und dem dünnen Kinnbart.

Soweit er konnte, bog sich der Askari hinter dem Felsen vor, um einmal voll in dieses Gesicht sehen zu können.

»Wahrhaftig, Ibrahim, der Händler vom Kongo!« stieß er hervor und schob erregt den Tarbusch aus der Stirn.

Da glitt der aufgestützte Kolben seines Gewehres vom Steine ab, und wie Witterung von Gefahr einem Rudel Zebras warf das Klirren den Belauschten mit einem Ruck die Köpfe hoch.

» Mtu huko!« (dort ist ein Mensch) schrie einer auf. Mit stoßerhobenem Speer stürzte er vorwärts, brüllend sprang alles auf, ein verworrenes Getöse entstand, die scharfe befehlende Stimme des Königs übertönte es.

Heulend wie ein Rudel wilder Hunde stürzten sie dem Fliehenden nach, geschleuderte Sperre klirrten und splitterten neben ihm an die Felsen. Mit weiten federnden Sätzen flog er durch die vom Gebrüll seiner Verfolger erfüllte Schlucht. An dem engen Felsentor des Ausganges bog er scharf ab und rannte wieder der Matte zu, über die er herabgekommen war. Dort in den wirr getürmten Felsgebilden boten sich ihm gute Verstecke.

Er hatte einen kleinen Vorsprung gewonnen. Der Nebel verbarg bald den Verfolgern seine Gestalt, aber doch blieben ihm einige auf der Spur, gelenkt vom Trappen seiner schweren Schuhe. Sie holten ihn nicht ein, aber trotz aller Haken, die er schlug, konnte er sie auch nicht los werden. Keuchend entsicherte er sein Gewehr, hob es im vollen Laufe hoch – ließ es wieder sinken – schnelle unruhige Gedanken durchkreuzten sein Gehirn: Schießen – so viele niederschießen, wie er konnte und kämpfend sterben – nein nein, entkommen, unbedingt entkommen! – Er mußte die Kompagnie warnen, nur er wußte, was ihr drohte. – Oh, er hatte die Worte Melis, dieses tückischen Dschaggas, gut verstanden! In der Kälte und Einsamkeit des Geisterlandes hatte er die Vorbereitungen zu seinem Verrat verborgen, gut verborgen – bis er sie entdeckte. – Und mit dieser Entdeckung mußte er entkommen!

Weiter sauste der Verfolgte – hinter ihm die Rufe der Meute –, da wurde etwas lebendig vor ihm, zwei, drei schwere Körper sprangen in wuchtigen Sätzen über die Felsen, polterten talabwärts, Steine rollten nach. – In raschem Entschlusse warf sich da der Askari zwischen zwei Blöcken nieder, lauschte zurück und richtig. –

» Haya, amekimbia djini (Vorwärts, er ist hinunter zugeflohen)!« riefen Stimmen im Nebel; das Patschen nackter Füße, die den rollenden Steinen nachsprangen, verlor sich in der Tiefe.

»Aeh, Ihr Wadschaggahunde«, lachte der Askari leise vor sich hin, während er hastig seine Schuhe auszog, »so schnell könnt Ihr nicht einmal rennen, um Elenantilopen einzuholen!«

Mit einem Grinsen grimmigen Hohnes schwang er sich die Schuhe über den Rücken und rannte weiter. Unhörbar und von der Schnellkraft und Ausdauer eines Steinbocks war jetzt sein Lauf. Ueber eisverglaste Felsen und Geröllfelder, bereifte Gras- und Buschhalden flog er leicht und körperlos wie ein Gebilde der um ihn wogenden Nebelwolken talab.

In einem rauhfrostübersponnenen Dickicht von Knieholz, Erika- und Ginsterbüschen warf er sich nach langem rasenden Laufe endlich mit pumpenden Lungen nieder. Mit einigen tiefen Atemzügen beruhigte er das jagende Herz und die hämmernden Pulse, dann hob er den Kopf und horchte in die Nacht hinein. Kein Menschenlaut war mehr hörbar. Der Gletscherwind pfiff um die Schroffen, die Nebel zerflatterten in seinem Wehen, dunkel und schweigend lag die Halde, in klaren gewaltigen Linien und unberührbarer Reinheit und Größe wölbte sich die Eiskuppel, das Land seiner Sehnsucht, darüber, inmitten von Scharen weißleuchtender Sterne schwamm die feine silberstrahlende Sichel des vergehenden Mondes.

Der Flüchtling warf einen prüfenden Blick nach dem Gestirn – übermorgen war Melis Neumond!

Unruhige Gedanken begannen hinter den tiefen Furchen seiner Stirn zu bohren: Die Boma war nur von der Hälfte seiner Kompanie besetzt, die anderen waren einen Tagesmarsch weit beim Wegebau – und ihn selbst trennte ein noch weiterer Weg von ihr und – der führte durch Melis Land!

Er mußte eilen, die Zeit benutzen, der Weg war weit und voller Gefahren. Schlotternd vor Kälte erhob er sich, riß die zerfetzten Socken von den froststeifen Füßen, warf sie fort und zog die Schuhe an. Doch auf einmal hielt er inne; seine Augen waren an den leuchtend weißen Oberteilen der Strümpfe hängen geblieben. So konnten auch die Augen von anderen daran hängen bleiben und einen Fingerzeig über die Richtung seiner Flucht geben. Er holte sie wieder, knüllte sie zusammen und verbarg sie sorgfältig unter einem Stein.

Er nahm eine Prise, horchte noch einen Augenblick ringsum und setzte sich, im kalten Winde schauernd, wieder in Bewegung. Von hier ab bot das Gelände seinem Vorwärtskommen keine Schwierigkeiten mehr; in mäßigem Falle senkte es sich abwärts, Mond und Sterne beleuchteten seinen Weg, von den Verfolgern war nichts mehr zu hören und zu sehen. Leise lachte er bei dem Gedanken an sie auf: Wer weiß, wie weit die dem Elenrudel nachgerannt waren.

Nach drei Stunden rüstigen Gehens wuchsen die dunklen Mauern des Urwaldgürtels vor ihm empor, wie von stillen Feuern dampfte Morgenrauch aus den moorigen Gründen. Gerade als der Eisdom über ihm, von den Strahlen der Morgensonne getroffen, in Rotglut aufleuchtete, tauchte er aus der freien Sichtbarkeit des offenen Geländes unter die ersten Bäume. Hier bog er seitab und folgte dem Waldsaum auf der Suche nach einem Pfade; er wußte, daß ohne einen solchen nicht durch den Urwald zu kommen war. Lange strich er an der unzugänglichen Waldmauer hin, kein Weg wollte kommen und sie öffnen. Nur ganz selten einmal konnte die Morgensonne einen Strahl roten Lichts in das schwere Dunkel zwischen den Stämmen und Ranken treiben.

Seit zwanzig Stunden war er nun ohne Schlafpause unterwegs, die Beine wollten ihm jetzt den Dienst versagen, und grimmiger Hunger zwickte ihm die Gedärme. Hier und da fand er einen Pilz oder eine Handvoll Beeren am Wege, er aß sie im rastlosen Weitergehen, aber sie machten nicht satt, und die nahrhafteren Bissen, wie Kaninchen, Klippschliefer und Zwergantilopen, mußte er vorbeihuschen lassen, denn ein darauf abgegebener Schuß hätte ihn verraten können.

Die Sonne war schon hochgestiegen, und noch immer hatte er den verschlossenen Wald zur Seite. Mechanisch stolperte er vorwärts, schwere Müdigkeit machte ihm die Beine taumlig und die Augen stumpf. Zeitweise fielen ihm die Lider zu, dann schwankte er hin und her, geriet ins Dickicht oder prallte an einen Baum. Gewaltsam riß er die Augen auf. Er stöhnte und preßte feuchtkühles Moos darauf. Auf einer Anhöhe sank er an einem Steine nieder, nur um die Beine einmal auszustrecken. Aber als er fühlte, daß er sofort einschlafen würde, erhob er sich und lehnte sich zu kurzer Rast aufrecht dagegen. Blinzelnd sah er über die grenzenlose graue See von Baumwipfeln zu seinen Füßen, da wurden auf einmal seine Augen groß und scharf.

Ueber den Bäumen im Tal erhob sich jetzt zum dritten Male ein Vogelschwarm, fiel ein Stück weiter ein und stob nach kurzer Zeit aufs Neue hoch. Lange und aufmerksam beobachtete er das Spiel, schließlich stand es für ihn fest, daß nur Menschen, die sich durch den Wald bewegten, die Vögel so beunruhigen konnten. Neubelebt von Hoffnung erhob er sich, reckte sich und schwang die Fäuste hoch, als wollte er allen Druck der Müdigkeit von sich werfen. Rasch drang er durch Kraut und Gestrüpp bergab. Ein Bach durchströmte den Talgrund, und richtig – an seinem Ufer führte ein Pfad entlang und in den Wald hinein!

Der Wandrer bückte sich über das klare kalte Wasser, trank ein paar Schlucke und wusch sich die brennenden Augen. Forschend betrachtete er dann das niedergetretene lange Gras am Bache, und die steile Falte auf seiner Stirn erschien wieder: Der Pfad war frisch begangen und zwar mußten es Meli und seine Leute gewesen sein; die Eindrücke der spitzen Schnabelschuhe des Arabers, der ihn begleitete, bewiesen es ihm.

Mit nachdenklich geneigtem Kopfe lauschte der Flüchtling der stummen Sprache dieser Spuren. Sie sagten ihm, daß seine Augen auf diesem Wege nicht müde sein durften, daß Wadschagga-Krieger hier auf den Mann lauern würden, der von den geheimsten Plänen ihres Königs wußte. – Immerhin, es war ein Weg, endlich ein Weg, und er mußte ihn gehen! Seine kraftvoll schlanke Gestalt straffte sich, wach und in höchster Lebendigkeit glitten seine Augen herum, und katzenhaft leise und geschmeidig wurde sein Tritt, als er den Weg aufnahm. In sonnenlosem Dämmern begleiteten die Tiefen des Waldes den Pfad. Ein feuchtkalter Moderhauch strich durch die graue Wildnis, Wasser triefte aus fahlgrünem Laubwerk, rann über braune Flechtenbärte und schimmelbedeckte Stämme, quoll aus den Moos- und Laubpolstern auf dem Wege. Totenstille lastete über den Wäldern, ganz selten einmal drang das sehnsuchtsvolle Gurren eines einsamen Wildtaubers, der schwermütige Ruf eines Nashornvogels aus den unwirtlich düsteren Gründen.

Eilig, aber mit nie erlahmender Wachsamkeit, strebte der Wanderer vorwärts. Länger als eine Stunde schon hatte ihn der Weg ohne Hemmung geleitet, aber jetzt spürte er mit jedem weiteren Schritt, daß er seine letzte Kraft verbrauchte.

Essen! – Unbedingt etwas zu essen finden mußte er! Heißhungrig sah er sich um, trat an ein Gebüsch, riß ein paar grüne Zweige ab und biß in einen hinein. Die andern klemmte er unter den Arm, um sie beim Marschieren zu benagen und den Hunger zu betäuben.

Da hemmte er plötzlich den schon zum Weitergehen erhobenen Fuß. Mit der vorgehaltenen Hand ersetzte er die rechte Ohrmuschel, die ihm fehlte. In atemloser Gespanntheit horchte er eine Weile voraus, dann sank er wie ein Schatten hinter dem Gebüsche nieder. Etwas wie der ferne Ruf einer Menschenstimme, der leise Schall eines Trittes, der sich näherte, hatte ihn erreicht.

Tiefer noch und doch alle Muskeln und Sehnen angespannt, sank der Lauschende zusammen, seine Augen glühten wie die eines sprungbereiten Panthers durchs Gezweig – jetzt erblickte er den Ankömmling, einen jungen Dschagga in voller Kriegsrüstung.

Arglos und leise vor sich hinsummend kam er angeschlendert, mit dem Speere stocherte er in den Stauden am Wege herum; er schien Kräuter zum Würzen des Essens zu suchen.

Da prallte etwas mit schwerem Schlage gegen ihn, unter einer würgenden Hand erstickte sein Summen in einem Gurgeln. Er brach zusammen, seine Faust, die noch den Speer erheben wollte, wurde von einer anderen mit unwiderstehlicher Kraft geklemmt und festgehalten. Machtlos und nach Atem ringend wand er sich am Boden. Ein spitzzähniger Mund beugte sich tief über sein Gesicht herab und raunte ihm ins Ohr:

»Wenn Du einen Ton von Dir gibst, der lauter ist, als diese meine Worte, töte ich Dich!« – »Wieviele Männer seid Ihr hier?« Dabei lockerte der Askari den Griff am Halse ein wenig.

Der Ueberfallene holte schnaufend Atem, das gestaute Blut ebbte aus seinem Gesicht zurück, Todesangst färbte es jetzt aschgrau, mit verstörtem Blick starrten seine Augen in die wilden, fremden vor ihm.

»Antworte!« fauchte der Askari und verstärkte die Worte durch einen zermalmenden Druck seines Würgegriffs.

»Ja, Bana – vier Männer – ich –« stöhnte der Jüngling.

»Wo sind sie? – Kommen sie hierher? Schnell!«

»Nein, sie warten – dort am Mwulebaum – zwei Feldlängen von hier –«

»Sie warten auf mich, nicht wahr!« lachte der Askari leise; dabei zog er das Knie hoch, setzte es dem Krieger auf den Hals, ließ dann seine Kehle los und holte ein großes Messer mit einem Elfenbeingriff unter seiner Uniformjacke vor.

»Hab keine Angst, ich nehme Dein Leben nicht. – Aber keinen Laut, keine Bewegung, die ich Dir nicht zu tun heiße!« flüsterte er, das Messer drohend erhoben.

»Leg Deinen Speer weg und steh auf!«

Keuchend erhob sich der Jüngling und stand mit bebenden Gliedern vor dem Sieger.

»Nimm Dein Messer und schneide die Sehne von Deinem Bogen!« Der Besiegte tat es gehorsam.

Nun nahm ihm der Askari das Antilopenfell von der Schulter.

»So, jetzt schneide Riemen hieraus!«

Rasch und folgsam arbeitete der Jüngling, mit dem blanken Messer in der Faust stand der Askari dabei und ließ keine seiner Bewegungen aus dem Auge.

»Genug! – Wirf Dein Messer weg und tritt an jenen Baum, schnell!«

Mit raschen Bewegungen, aber ohne dabei nur eine Sekunde die Augen von dem Gesicht des Ueberfallenen zu lassen, schlang ihm der Askari die Bogensehne um die Handgelenke, die Riemen um die Füße und band ihn dann fest an den Baum. Hierauf riß er dem Gefesselten das Lendentuch ab, knüllte es zusammen und trat dicht vor ihn hin.

»Wie heißt Euer Anführer?«

»Najoka, Bana« antwortete er mit einem angstvollen Blick.

»Rufe ihn, einmal und laut!«

»Eh Najoka-a-a!« brüllte der Jüngling gehorsam.

Ein schwacher Gegenruf antwortete.

»Noch einmal!« befahl der Askari.

Der Gefangene öffnete prompt den Mund, aber schneller noch als der erste Laut herauskam, fuhr ihm der Tuchknäuel hinein. Erschreckt riß er die Augen auf, gurgelte und würgte und holte schnaufend Luft durch die Nase.

Mit einem Ausdruck ruhiger Zufriedenheit sah der Askari seinen Anstrengungen zu, dabei lauschte sein gesenkter Kopf nach dem Pfade. Eine rufende Stimme ertönte, sie kam näher.

Mit den übriggebliebenen Riemen in der Faust huschte der Askari auf die andere Wegseite und kauerte, die Hände sprungbereit aufgestützt, neben einem Busche nieder.

Jetzt wurde der Rufende sichtbar, brummend, daß er keine Antwort bekam, trat er dicht neben den Busch, hinter dem der Askari lauerte, hob die Hände zum Munde und schrie wieder gellend: »Eh Kuzi – –!« Da brach er ab, sein Blick war auf den Baum mit dem Darangebundenen gefallen, – in starrender Verblüffung riß er den Mund auf – plötzlich schlug er unter dem Ansprung eines Körpers vornüber. Zwei klammernde Fäuste bogen seine Arme rückwärts, aufbrüllend warf er sich zur Seite, der niedergedrückte Speer klemmte seinen rechten Arm, ein wilder Ruck der unsichtbaren Fäuste riß ihn nach hinten. In jähem Schmerz aufheulend bäumte sich der Ueberfallene hoch – sein Arm hing bewegungslos ausgekugelt herab. Aber kraftvoll und entschlossen verteidigte er sich mit der Linken und den Beinen weiter, wand und wälzte sich, bis ihm die Faust des Angreifers an der Kehle saß, die jeden weiteren Laut und Widerstand erstickte.

Eine Minute später stand er röchelnd vor Schmerz und Anstrengung, mit einem Knebel im Munde, Beine und linken Arm an einen Baum gebunden, neben seinem jungen Kameraden.

Der Sieger wischte sich ein paar Schweißtropfen von der Stirn, las seine und die Waffen der Dschagga auf und wandte sich ohne Blick und Wort an die Gefesselten zum Gehen. Doch schon nach den ersten Schritten blieb er stehen, er schwankte ein paar mal hin und her und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Schneidend wie ein Schwerthieb kam der Hunger zurück, wühlte und fraß in ihm und peitschte seinen Sinn auf zu gieriger Wildheit. Ein unruhiges Feuer flackerte in seinen Augen, als er jetzt nochmals an die Beiden herantrat. Wühlend fuhren seine Hände in die Basttaschen, die sie auf der Hüfte trugen, aber sie kamen leer wieder heraus. Der Blick, der jetzt über ihre nackten Körper glitt, erfüllte sie mit herzkältendem Entsetzen – so heißhungrig und erbarmungslos blickten die wilden Hunde der Steppe. – Hinter seinen zuckenden Lippen blinkten spitze, schneeweiße Zähne auf, die braune Hand krampfte sich um den Griff des Messers. – Die Beiden stierten ihn aus hervorquellenden Augen an, wie von kaltem Winde berührt, erschauerten ihre nackten Glieder, da schloß er langsam die Augen und wendete den Kopf ab. Ein paar abgerissene murmelnde Worte, ein kurzes Kopfschütteln, dann drehte er sich hastig um und eilte den Pfad hinab. –

Bei einem großen Mwulebaum kreuzte ein Durchbruch, den Elefanten gemacht hatten, den Weg. Unter dem Baume stieg eine blaue Rauchsäule auf. Sofort bog der Askari vom Wege ab und arbeitete sich langsam und geräuschlos durch den Wald bis an den Baum heran. Schnuppernd hob er hier die Nase und spähte vorsichtig über die mächtigen Wurzeln – auf dem Feuer stand ein brodelnder Topf! Seine Nüstern blähten sich, die Zunge fuhr mit schneller verlangender Bewegung über die Lippen, dann schloß er fest den Mund, und nur die heißhungrig funkelnden Augen lebten noch in dem braunen Gesicht.

Zwei Männer saßen am Feuer. Sie rührten im Topf und unterhielten sich halblaut. Stille webte im Walde ringsum. – – Da krachte ein Ast unter einem emporschnellenden Fuße, wie ein aufschlagender Stein fiel plötzlich ein Mensch zwischen die Männer am Feuer, seine ausgebreiteten Arme faßten mit blitzschnellem Griff ihre Hälse und schmetterten ihnen die Köpfe gegeneinander.

Lautlos wie Puppen fielen die Beiden um. Mit heftigen und behenden Bewegungen schnürte ihnen der Angreifer die Glieder zusammen, dann fuhr er auf den Topf los. In einem Schwunge flog er vom Feuer und der Inhalt zum schnelleren Erkalten in den Schild eines der Krieger. Ungeduldig blies er darauf, stopfte sich rasch eine Handvoll in den Mund und fuhr aufs Neue in die dampfende Masse.

Aber schon den zweiten Bissen bekam er nicht mehr, das Rascheln einer Ranke ließ ihn aufblicken – ein Dschaggakrieger stand neben dem Baum.

Ein Laut des Erstaunens, – in schnellem Begreifen hob er den Speer und stieß zu. Doch schneller noch war der Askari zur Seite und hinter den Baum geschnellt, raffte hier sein Gewehr auf und legte an.

Im gleichen Augenblick klirrte der geschleuderte Speer auf den Lauf, und nach seinen Gefährten brüllend, wandte sich der Dschagga zur Flucht. Er rannte die Elefantenstraße entlang, in langen Sätzen folgte der Askari. Mehrmals hob er das Gewehr, aber immer wieder verdeckten Bäume den Fliehenden.

Weiter ging die Jagd, da gellte ein Schreckensschrei auf, der Verfolgte warf die Arme in die Luft und war plötzlich verschwunden.

Mit unruhig suchenden Blicken eilte ihm der Askari nach. Mitten in einem Sprunge warf er sich plötzlich zurück. Unter der Wucht des jäh gehemmten Laufes stürzte er rücklings zu Boden, Laub und Aeste knickten und brachen unter ihm. Unter einer eingebrochenen Stelle gähnte ein dunkler Hohlraum – eine Fallgrube für Elefanten.

Nur an den eingekrallten Fingern festgehalten, hing er über der Grube. Alle seine Muskeln und Sehnen spannten sich in ungeheurer Anstrengung, eiskalt fühlte er den Schweiß auf seiner Stirn perlen. Er wagte nicht, die Brust zum Atmen zu heben. Zoll um Zoll schoben seine wie Stahlhaken gestrafften Hände den Körper höher, bis die Beine Halt fassen und mithelfen konnten.

Schwerkeuchend vor Anstrengung und Schrecken stand er mit an die Schläfen gepreßten Händen und starrte auf das Loch, in dem still und heimtückisch der Tod auf ihn gelauert hatte. Ein Tod, gegen den sich alles aufbäumte in ihm – ein elendes Sterben da unten in modrigdumpfer, luft- und lichtloser Höhlenenge unter der Erde – nicht jener andere Tod, den er nicht fürchtete, der, unter der Sonne oder den Sternen des hohen Himmels.

Mit einem Aste räumte er vorsichtig die Bedeckung der Grube ab. Das dunkle Braun seines Gesichtes bekam einen fahlen Ton, als er hinabblickte. Wie die Zähne im Rachen eines Krokodils starrten zahllose spitze Holzpfähle aus dem Grunde der Grube empor, und auf den mörderischen Spitzen wand sich ein zuckender stöhnender Körper. Hastig stand er auf, sah sich suchend um, riß das schwere Messer heraus und hieb eine lange gegabelte Stange an der Wegseite ab. Eilig lief er damit zurück und beugte sich über den Rand, aber er blieb bewegungslos in langem starren Hinabsehen stehen. Langsam ließ er die Stange fallen und richtete sich auf – in dem zerfleischten Körper da unten war kein Leben mehr.

Er atmete tief auf und trat taumelnd zurück. Aufs Neue überkam ihn die Schwäche und sprang ihn der Hunger mit der Wildheit eines Raubtieres an. Schmerzen krümmten ihm den Leib, die Knie zitterten unter ihm, blutrot wogte der Rausch des Hungers durch sein Gehirn. Er bäumte sich auf, knurrte und fletschte die Zähne und sprang mit einem Satze wieder an den Rand des Loches. Seine vor Schwäche bebende Hand riß die Stange wieder auf; er schob sie unter den Körper des Toten, keuchend ruckte und zerrte er die Last herauf, dann warf er sich in hemmungsloser Gier aufstöhnend mit dem Messer darüber. Ein paar rasche Schnitte, ein kurzer, hyänenartig glimmender Blick ringsum, und, das Fleischstück in der Faust, sprang er in das Dunkel des Waldes.


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