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Erster Abschnitt.
Die Frauen der Naturvölker

[Einleitung]

Wir verstehen unter dem vielfach mißverstandenen Ausdruck »Naturvölker« solche Abtheilungen der Menschheit, auf welche die Natur einen stärkern Einfluß ausübt, als derjenige ist, den sie auf die Natur auszuüben im stande sind. Diese Völker, welche in der Kulturgeschichte nothgedrungen die Stelle der Urmenschen vertreten müssen, deren Kulturverhältnisse, soweit sie nicht aus Funden hervorgehen, für uns unerforschlich sind, entbehren der Fähigkeit, die Naturkräfte durch Verkehrsmittel, wie Straßen, Kanäle u. s. w. zu überwinden; es mangelt ihnen jede Bequemlichkeit des Lebens, jede höhere ideale Auffassung der Ehe und der Familie, jeder Begriff eines geordneten, das allgemeine Wohl befördernden Staates, jede auf bestimmte Glaubensansichten sich stützende Religion, jede über die bloße Nützlichkeit hinausgehende Kunst und jede Wissenschaft. S. des Verf. Kulturgeschichtliche Skizzen S. 19 ff. Die Stämme und selbst Staaten der Naturvölker stehen wesentlich auf dem Standpunkte von Familien; ihre Verfassung ist patriarchalisch, nur daß mit der Erweiterung der Familie die gegenseitige Zuneigung ihrer Glieder (die freilich auch in der Familie nicht immer besteht) verschwunden ist und nicht für das Volk, sondern lediglich für dessen sehr wenig väterlichen Despoten gesorgt wird.

Die Naturvölker sind überhaupt noch nicht nach Völkern, sondern blos nach Stämmen organisirt, welche die einzige allgemein anerkannte Gemeinschaft bilden. Bei vielen dieser Völker besteht die Ehe, entweder dem Wesen nach gar nicht (denn ein bloßes dauerndes Zusammenleben ohne rechtliche Grundlage ist keine Ehe), oder kaum dem Namen nach; bei manchen darf sie nur im Geheimen geübt werden, während Zügellosigkeit offen betrieben wird. Denn diese Stämme haben durchweg so unentwickelte sittliche Anschauungen, daß ihnen Unsittlichkeit und Schamlosigkeit fremde Begriffe sind. Wo aber die Ehe förmlich eingeführt ist, erscheint sie an die beengendsten Schranken von Familien- und Standesrücksichten gebunden und wird lediglich als ein rechtliches Verhältniß, nicht als eine Krönung gegenseitiger Liebe betrachtet. Nur selten kommen Beispiele hingebender treuer Liebe vor. S. ein solches Kulturgeschichtliche Skizzen S. 154 ff.

In der Regel aber kennen die Naturvölker die Liebe gar nicht und erblicken in der Verbindung zwischen Mann und Frau lediglich den Zweck der Fortpflanzung. Das Gefühl der Schönheit, welches bei den Völkern höherer Kultur die Liebe nährt, ist jenen tiefer stehenden Menschenstämmen, auch wo es eine Grundlage hätte (die aber meist nicht vorhanden ist), völlig fremd. Und ihre sittlichen Begriffe stehen noch so tief, daß jenem Zwecke der Fortpflanzung auch dann genügt wird, wenn ihn nicht der Gatte, sondern ein anderer mit dessen Einwilligung erfüllt. Nur Untreue ohne Erlaubniß des Gatten wird an der Frau geahndet. Dem Gaste oder dem Priester oder einem Höhern sie zu überlassen, erscheint nicht nur nicht als unerlaubt, sondern sogar als Pflicht der Höflichkeit und Ergebenheit, oder wird auch als ein Mittel des Gelderwerbes betrachtet! Auch die Würze der Liebe (nach unseren Begriffen), der Kuß ist den Naturvölkern fremd; keines kennt ihn; ja noch viele Kulturvölker außerhalb Europas, namentlich in Ostasien, sind im nämlichen Falle.

Die engen Schranken, in welche die Sitte oder vielmehr Unsitte der Naturvölker die Ehe bannt, zeigen sich in zwei einander entgegengesetzten Hauptformen, der Endogamie, welche die Gatten innerhalb, und der Exogamie, welche sie außerhalb der Familie im weitern Sinne zu wählen zwingt. Die Spuren dieser Formen lassen sich noch weit in die Kulturgeschichte civilisirter Völker hinein verfolgen, so z. B. die der Endogamie in die Kastenverfassung Indiens. Ja noch heute erinnern bei uns die Ehen innerhalb der Geburts- oder der Geldaristokratie an die Endogamie und die Eheverbote in gewissen Graden der Verwandtschaft an die Exogamie.

Ohne Zweifel ist die Endogamie die ältere Form. Sie beruhte wahrscheinlich auf der Meinung von der Vorzüglichkeit der eigenen Familie und auf der Abneigung gegen Nichtverwandte.

Die Exogamie entwickelte sich wohl meist aus der Scheu vor einer als Blutschande betrachteten Verbindung zwischen Verwandten. Sie führte, wenn auch nicht nothwendig, oft zum Weiberraube, welcher kriegerischen Stämmen als ein Zeichen der Kühnheit und Tapferkeit galt und von welchem noch manche Hochzeitsgebräuche Zeugniß ablegen. So z. B. muß der Bräutigam an manchen Orten die Braut scheinbar gewaltsam entführen, und diese muß durch Geschrei und Gegenwehr die Komödie vervollständigen, wozu oft auch Scheinkämpfe zwischen den Angehörigen beider Theile kommen. Die Entführung der Braut ist noch jetzt gebräuchlich bei den Reitervölkern Mittelasiens, bei nordamerikanischen Indianern, Maoris, Malaien und im civilisirten Sicilien!

Mit dem Eintreten höherer Kulturzustände ist an die Stelle des Weiberraubes der Weiberkauf getreten, dem wir weiterhin wiederholt begegnen werden.

Weder die Exogamie, noch die Endogamie sind aber jemals allgemein gebräuchliche Sitten oder nothwendige Durchgangsstufen in der Entwicklung der Ehe gewesen.

Zwei andere abnorme Formen der Ehe, deren Ursprung in die rohesten Urzustände zurück reicht, welche eine gesittete Ordnung des Verhältnisses der Geschlechter noch nicht kannten, sind diejenigen, bei welchen das eine Geschlecht in der Mehrzahl vorhanden ist, die Vielmännerei und die Vielweiberei. Sie entstanden gewiß beide aus Mangel an einer Ahnung von dem wahren Sinn und Zweck der Ehe. Außerdem trug zur Verbreitung der Polygynie ohne Zweifel der Weiberraub bei, während man den Grund der Polyandrie theilweise in einer ebenso argen Barbarei suchen mag, nämlich in dem bei Naturvölkern häufigen Mädchenmord, der einen Mangel an Weibern zur Folge haben mußte. Die erstere Form eignete sich bei dem durch sie hervorgerufenen häuslichen Aufwand besser für fruchtbare, die letztere bei der mit ihr verbundenen Beschränkung der Haushaltungen besser für unfruchtbare Gegenden. Es giebt aber, besonders in Indien, auch Völker, bei denen eine Vermengung beider Unsitten herrscht, indem mehrere Männer, meist Brüder, mit mehreren Frauen (oft Schwestern) gemeinsam hausen. Daß sowohl diese Eheform, als die Vielmännerei einst weiter verbreitet war als heute, wo beide nur einen sehr beschränkten Raum einnehmen, ist nach vielfachen Zeugnissen wahrscheinlich. Die Vielweiberei verfügte aber ohne Zweifel stets über einen weit größern Theil der Erdoberfläche; noch jetzt erstreckt sie sich über alle Erdtheile außer Europa, ist aber, namentlich in dem durch ihre Anhänger verwüsteten Orient und bei den gebildeten Ständen Indiens, in Abnahme begriffen. Ja es giebt selbst Naturvölker, welche sie nicht mehr üben oder vielleicht nie geübt haben. Doch ist bei diesen die Monogamie deshalb noch nicht als das erkannt, was sie ist, als die wahre Ehe, die allein die menschliche Natur in heilsame Schranken bannt und allein der sittlichen Bestimmung des Menschen gerecht wird.

Es ist indessen zu unterscheiden zwischen der Polygamie (Vielehe) als anerkannter Rechtsordnung und der Polygynie wie auch der Polyandrie als bloßer Sitte oder Unsitte. Bei manchen Kulturvölkern, besonders Asiens, herrscht die erstere; die letztere ist in ihren beiden Formen bei den Naturvölkern und thatsächlich bei dem sittlich verkommenen Theile der europäischen Großstädter und auch anderer Kreise unseres Erdtheils bekanntlich stark im Schwange. Die wirkliche Monogamie entwickelt sich nur in Verbindung mit geläuterten sittlichen Anschauungen.

Eine weitere Eigenthümlichkeit der Naturvölker im Reiche des Familienlebens ist die mehr oder weniger mangelhafte Benennung der Verwandtschaftsgrade. Es giebt in dieser Hinsicht eine tiefere Stufe, welche die Verwandten in gewisse Klassen theilt und einer jeden derselben einen gemeinschaftlichen Namen giebt, und eine höhere, welche die Grade der Verwandtschaft je nach ihrem Verhältniß zum Sprechenden mit besonderen Ausdrücken bezeichnet. Auf der untern Stufe werden z. B. in der Regel alle Verwandten älterer Generation Vater und Mutter, alle der nämlichen Generation Bruder und Schwester und alle einer jüngern Sohn und Tochter genannt, wobei aber eine Menge von Abweichungen mit unterläuft. Die meisten Naturvölker gehören dieser Stufe an; eine Minderzahl aber hat sich zu genaueren Bezeichnungen erhoben, die sich besonders unter den Malaien der ostindischen Inseln finden. Dagegen kommen unter den Kulturvölkern Ostasiens noch vielfach die Benennungen der untern Stufe vor. Der neueste Forscher auf dem Gebiete der primitiven Familie, der Däne C. N. Starcke (Leipzig 1888), nimmt an, wie er überhaupt das gesammte Familienleben aus rechtlichen Gesichtspunkten ableitet, daß Personen, welche dem Redenden gegenüber rechtlich gleich gestellt sind, auch gleich benannt werden. Wir glauben aber, daß damit die Sache nicht erschöpft ist, sondern daß jene unvollkommenen Benennungen der Verwandten auch Zeugnisse noch ungeordneter Familienverhältnisse und theilweise wohl auch des Mangels an geeigneten Ausdrücken in den betreffenden Sprachen sein mögen.

Zwischen den Verwandten verschiedener Grade kommen bei den Naturvölkern manche sonderbare Verhältnisse vor, die sich theilweise bis in die höchsten Kulturkreise erhalten haben. Dazu gehört namentlich die weniger gefühlte, als erzwungene Abneigung zwischen Schwiegereltern und Schwiegerkindern, die sich bald mehr auf den Schwiegervater, bald mehr auf die Schwiegermutter bezieht. Besonders drastisch ist die Scheu zwischen Schwiegermutter und Schwiegersohn bei den Zulus und bei den von ihnen so fernen Australiern, bei denen diese Verwandten sich nicht einmal ansehen und ihre Namen gegenseitig nicht aussprechen dürfen. Nach unserer Ansicht ist der Grund dieser Erscheinung sehr einfach. Er liegt nämlich offenbar in der Eifersucht auf den Vorrang in der Familie; man will durch die Fernhaltung der Verwandten, die sich denselben streitig machen könnten, den offenen Kampf um die Macht im Hause verhüten.


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